Bewältigt ist hier gar nichts, oder?

Der von Magnus Brechtken herausgegebene Sammelband zur „Aufarbeitung des Nationalsozialismus“ könnte ein Standardwerk werden, lässt aber Fragen offen

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland 1952: Fotos vom Karneval in der Provinz zeigen einen KZ-Wagen (Aufschrift: „Buchenwald“, „Dachau“) samt Sträflingen und Henker – die Menge lacht. Deutschland heute: Auf Corona-Demos inszenieren sich Impfgegner als Verfolgte – sie haben sich einen gelben „Judenstern“ angehängt. Dazu schreibt die taz: „Die Deutschen haben wenig Bewusstsein für die eigene Täterschaft im Nationalsozialismus.“ Nanu, ist unsere jahrzehntelange Aufarbeitung der NS-Zeit gescheitert?

Eine simple Antwort auf die Frage, wie die deutsche Gesellschaft mit ihrer Katastrophengeschichte – Nationalsozialismus, Holocaust, Vernichtungskrieg – umgegangen ist und umgeht, gibt es sicher nicht. 1959 fand Theodor W. Adorno den Begriff Aufarbeitung verdächtig. Er vermutete dahinter den „Schlussstrich“: dass nämlich alles Geschehene „vergessen und vergeben“ sein solle. Konflikte über das schwierige Erbe, „womit wir alle nicht fertig werden“ (Hannah Arendt, 1964), gehören zur Bonner und Berliner Republik. Hier nur einige Schlagworte: Eichmann in Jerusalem, Historikerstreit, Weizsäcker-Rede, Goldhagen-Debatte, Wehrmachtsausstellung, Holocaust-Mahnmal, Unsere Mütter, unsere Väter

Der Sammelband Aufarbeitung des Nationalsozialismus nimmt eine Bestandsaufnahme vor. Den Leitgedanken formuliert Herausgeber Magnus Brechtken vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin: Vergangenheitsaufarbeitung sollte als geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisprozess verstanden werden und auf sachlicher Quellenanalyse und öffentlicher Diskussion beruhen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit stellt sich den Leserinnen und Lesern der 28 Fachbeiträge und zwei Interviews als ein work in progress dar.

Zur Standortbestimmung ist der Aufsatz von Karin Orth über das nationalsozialistische KZ-System besonders wichtig. Denn die Autorin erinnert forschend daran, worum es geht: die massenhafte Deportation und organisierte Tötung von Menschen, Völkermord und Zwangsarbeit, Antisemitismus, Gewaltverbrechen und Vernichtungskrieg. Die Analyse von Hans-Christian Jasch über die juristische (Nicht-)Behandlung der NS-Verbrechen durch bundesdeutsche Gerichte ist ebenso zentral. Die strafrechtliche Ahndung sei „unbefriedigend und ambivalent“, so sein Fazit. Dabei hätten manche Prozesse doch in die Öffentlichkeit hineingewirkt und eine Quellengrundlage für Zeithistoriker geschaffen. 

Dass die Anfänge der deutschen Holocaust-Forschung eng mit Strafverfahren gegen NS-Täter verbunden gewesen waren, zeigt Frank Bajohr. Er hebt die 1958 gegründete Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg sowie die Gutachtertätigkeit des heutigen Instituts für Zeitgeschichte hervor, beides Einrichtungen, denen der Band eigene Beiträge widmet. In den Siebzigern sei die akademische Forschung zum Stillstand gekommen. Öffentliches Aufsehen erregte sie im Historikerstreit (1986/87) über die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust und dem historisierend-relativierenden Vergleich mit anderen Massenverbrechen wie dem bolschewistischen Terror. In den Neunzigern setzte ein „Forschungsboom“ ein, der ohne die Globalisierung der Holocaust-Erinnerung kaum denkbar gewesen sei. Bajohr nennt die Stockholmer Erklärung von 2000, in der sich 50 Nationen auf Erinnerungsarbeit und die Erforschung des Holocaust verpflichteten.

Allein sechs Aufsätze in dem 720-Seiten-Wälzer problematisieren die NS-Schatten von Ministerien und Behörden. Die vieldiskutierte Studie zum Auswärtigen Amt (2010) war anlässlich des Streits über ehrende Nachrufe für belastete Mitarbeiter in Auftrag gegeben worden. Verfassungsschutz, Innen, Justiz – thematisiert werden die Weiterbeschäftigung von NS-Eliten nach 1945, personalpolitische Interessenlagen, die doppelte Geschichte im Vergleich, die Verwaltung der DDR, das irritierend anmutende Aufeinandertreffen von Ex-Nazis und Unbescholtenen in der Nachkriegsverwaltung. „Ausgeforscht hat es sich hier noch lange nicht“, resümiert Niels Weise und bemerkt, dass sich das Verteidigungsministerium bislang verschließe. Auch der Bundestag stünde auf der Agenda – wie das trotz magerer Datenlage gehen könnte und was davon zu erwarten wäre, überlegt Andreas Schulz in Braune Parlamentarier?. 

Das Buch präsentiert insgesamt einen „Forschungsumriss“ (Brechtken) der vielen Aufarbeitungsgeschichten auf aktuellem Stand. Für Fachleute, Studierende und historisch Interessierte ist die Aufsatzsammlung ein Muss, hilfreich für die Selbstverständigung in Wissenschaft und Praxis. Eine breitere Übersicht finde man nirgends, lobt die Süddeutsche Zeitung

Kritik zu üben, fällt da schon schwer. Doch man kann ja mal vorsichtig fragen: Wieso kümmern sich gleich zwei Beiträge um Vertriebenenverbände? Warum gibt es keinen zum Bildungssystem, zu Schulbüchern, zur Geschichtsdidaktik? Wo sind die sozialkritischen Analysen zu Medizin, Wirtschaft oder Parteien, Kirche oder Familie? Klar, der sowieso schon umfangreiche Band beansprucht keine Vollständigkeit und positioniert sich als „Kompendium“. Interessant wäre es aber zu wissen, welches Aufarbeitungspotenzial in diesen Bereichen wohl noch steckt – eine Frage der Gewichtung.

Tiefer in lokale Mentalitäten eintauchen kann man am Beispiel des „Hitler-Ortes“ Obersalzberg, Berchtesgaden. Da ist die Spannung zwischen kommerziellem Tourismus im Berg-Idyll und dem Versuch politischer Aufklärung über NS-Verbrechen zu spüren. Sven Keller, Leiter der Dokumentation dort, erwähnt in seiner lesenswerten Darstellung unter anderem, dass frühere lokale Veröffentlichungen die Ortsgeschichte von der NS-Mordpolitik trennten. Dazu nur so als Ergänzung: Wie genau Menschen sich historisches Wissen aneignen, verändern und in ihre Weltsicht integrieren, wäre eine weiter gehende Fragestellung. Die Gräuel des Nationalsozialismus abzuspalten, so als hätte der Alltag damit nichts zu tun, dörfliches Leben und „große Politik“ isoliert voneinander zu betrachten – das ist ein typisches Erzählmuster von Ortschroniken.

Deutungskonflikte über die NS-Vergangenheit können sehr heftig sein – auch diesen Eindruck hinterlässt das Werk. Den neuesten Aufreger scheint die Frage zu provozieren, ob der Holocaust eine Folge deutscher Kolonialgeschichte sei. Wabert hier ein zweiter Historikerstreit? Auf diese und andere aktuelle Kontroversen geht Bill Niven ein. Er diagnostiziert unter anderem, dass Leidenserfahrungen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg (wieder) in den Vordergrund rücken, bei gleichzeitiger Betonung von Schuld. Und nach Ulrike Jureit breitet sich in der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur eine irgendwie gefühlsduselige Sehnsucht nach dem Authentischen aus, das Bedürfnis, Geschichte(n) emotional erleben zu wollen, statt rational zu reflektieren. 

Letzte Frage also: Erklärt dieses mentale Setting den „Impfgegner-Judenstern“? Vermutlich ist mehr Psychologie gefragt – und es könnte sein, dass man in einen schlimmen Abgrund blickt, der nicht aufgearbeitet ist.

Titelbild

Magnus Brechtken (Hg.): Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
720 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350496

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