Jedes Buch war für ihn Bekenntnis

Zum 100. Geburtstag von Franz Fühmann: Über ein Leben in politischen Extremen

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Fühmann zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der DDR, auch wenn er in Westdeutschland nie bekannt, geschweige denn populär war. Inzwischen scheint sein Werk allerdings auch in Ostdeutschland, wo er eine zentrale Rolle im literarischen Leben spielte, immer weniger gelesen zu werden – obwohl es in den letzten Jahren eine erstaunliche Aktualität gewonnen hat.

An Fühmanns Leben lassen sich einige Probleme der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch ablesen. Und die Radikalität, mit der er diesen Problemen immer wieder zum Gegenstand seiner Arbeit gemacht hat und mit der er sie gegen Ende seines Lebens mehr und mehr überwand, verleiht seinem Werk einen Rang, den in der Literaturgeschichte der DDR ansonsten wohl nur Heiner Müller und Christa Wolf, Volker Braun und Sarah Kirsch erreichten.

Fühmanns Lebensthema war der Totalitarismus des Denkens. Er war ein Gläubiger, der sein Leben und Schreiben immer eng auf große, weltumfassende Entwürfe der Geistesgeschichte bezog. So konnte es nicht ausbleiben, dass seine Biografie gezeichnet wurde durch die politischen Konfrontationen und Katastrophen eben dieses Jahrhunderts.

1922 als Sohn deutschsprachiger Eltern in einer böhmischen Kleinstadt geboren, wuchs er in einer Atmosphäre inbrünstiger Religiosität auf. Im Alter von zehn Jahren trat er in das Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien ein. Doch das drakonische Regiment der Schule hatte beim Zögling Franz andere als die erwünschten Folgen. Er entschied sich mit einer Entschlossenheit, die für ihn symptomatisch bleiben sollte: Als überzeugter Atheist kehrte er von einem Weihnachtsurlaub nicht mehr in seine Schule zurück.

Unter dem Einfluss seines nationalsozialistischen Vaters wurde er daraufhin Mitglied einer Jugendorganisation der Sudetenfaschisten und besuchte das Gymnasium, wie er einmal schrieb, von nun an „in Stiefeln und Braunhemd“. Noch vor Kriegsbeginn trat er der SA bei und blieb bis zur Kapitulation ein treu ergebener Soldat Hitlers.

Als sowjetischer Kriegsgefangener besuchte er dann eine der berüchtigten Antifa-Schulen, auf der man ihn zu einem begeisterten Anhänger Stalins umerzog. Von Schuldgefühlen wegen seiner Vergangenheit getrieben und von der Hoffnung gelenkt, zum Aufbau einer strahlend lichten Zukunft beitragen zu können, wurde er Bürger der DDR und zählte in den fünfziger und sechziger Jahren zu den Autoren, auf die sich die SED blind verlassen konnte. Aber die Kluft zwischen den Idealen und der Wirklichkeit des realen Sozialismus blieb ihm nicht verborgen: Von dem Zwiespalt zerrissen, versank er in lebensbedrohliche Krisen, bevor er sich zu einem der klügsten und konsequentesten literarischen Kritiker der DDR entwickelte.

Viele Generationsgefährten Fühmanns haben, angesichts der rapiden politischen Umschwünge, die ihre Leben durchzogen, die eigenen Erinnerungen an ihre Biografie im Nachhinein oft unbewusst begradigt. Die verführerische Kraft unseres Gedächtnisses zur gnädigen Legendenbildung half ihnen, Brüche in der eigenen Vergangenheit, der eigenen Persönlichkeit auszublenden. „Jeder Mensch“, schrieb Max Frisch, „erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.“ Denn: „Anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung nicht in den Griff.“

Doch Fühmann wollte sich mit solchen besänftigenden Manipulationen an seinen Erinnerungen nicht abfinden. Sein Leben lang legte er in seiner literarischen Arbeit gegen enorme innere Widerstände Rechenschaft über seine persönliche und die deutsche Vergangenheit ab. So wurde sein Werk ein Monument jener Fähigkeit zu trauern, die von Psychoanalytikern gern eingefordert wird, die aber nur unter enormen seelischen Strapazen zu leisten ist.

Hitlers Regime konnte sich, wie viele Historiker überzeugend beschrieben haben, in langen Phasen auf eine überwältigende Zustimmung in der deutschen Bevölkerung stützen. Dennoch gab es in der Bundesrepublik nach dem Krieg kaum profilierte Schriftsteller, die bereit gewesen wären, selbstkritisch über ihre Erfahrungen als ehemalige Anhänger Hitlers Auskunft zu geben. Im Gegenteil: Die nachwachsende intellektuelle Elite des Landes präsentierte sich mit großer Selbstverständlichkeit als Gegner des NS-Staates. Doch als die USA in den neunziger Jahren die Mitgliederkartei der NSDAP an das Bundesarchiv übergeben hatte, wurde nach und nach ein anderes Bild sichtbar: So prominente Schriftsteller wie Walter Jens, Martin Walser, Siegfried Lenz, Dieter Wellershoff oder Tankred Dorst, Künstler wie Hans Werner Henze und Dieter Hildebrandt, Politiker wie Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke oder Erhard Eppler und Philosophen wie Hermann Lübbe oder Niklas Luhmann wurden in der Kartei als Angehörige der NSDAP geführt. Und Günter Grass berichtete 2006 sehr spät über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS.

Natürlich entwertet die frühe Mitgliedschaft der Genannten in Nazi-Organisationen nicht ihre späteren Verdienste um den Aufbau einer liberalen Demokratie in der Bundesrepublik. Sie haben hier über Jahrzehnte hinweg enorm wichtige Beiträge geleistet. Aber ihr Schweigen über mögliche politische Verirrungen in ihrer Jugend hat es für sie unmöglich gemacht, öffentlich eine aufrichtige und intensive Selbsterforschung wie Franz Fühmann zu betreiben. Eine ganze Generation von jungen Soldaten und Flakhelfern zog es vor, ihre Vergangenheit in der Nazizeit zu vergessen oder geheim zu halten, anstatt ihr im Nachhinein auf den Grund zu gehen. Sie versäumten es, die Erziehungsmuster zu beschreiben und aus eigenem Erleben literarisch anschaulich zu machen, in die sie unter Hitler gepresst worden waren. Solche selbstkritischen Zeugnisse über die Verführungskraft des totalitären Denkens wären aber gerade heute, wo Antidemokraten und völkische Ideologen erneut versuchten, die liberale Gesellschaft zu untergraben, überaus wichtig und wertvoll.

Für Fühmann verwob sich Politisches und Poetisches immer zu einem undurchdringlichen Geflecht, jeder Text war für ihn zugleich Bekenntnis. So griff die Politik des Jahrhunderts massiv in seine Arbeit ein. Ein eklatantes Beispiel dafür ist das frühe Ende seiner lyrischen Produktivität. Von Jugend an schrieb er Gedichte, seine in der DDR veröffentlichten Lyrikbände standen im Bann der Volksmärchen: Sie teilten das Leben ein in Gut und Böse, Schwarz und Weiß – so wie Fühmann zu dieser Zeit noch die ideologischen Lager mit eindeutigen moralischen Zuordnungen versah. Als ihn 1956 Chruschtschows Geheimrede über die Verbrechen Stalins aus diesem Glauben aufstörte, musste er sein dualistisches Weltbild revidieren. Und als ihm Marcel Reich-Ranicki nachwies, wie tief seine Gedichte noch immer von platten Nazi-Mythen und schwülstigem Nazi-Vokabular geprägt waren, obwohl er sich inzwischen als Sozialist verstand, verstummte er als Lyriker. Bis zu seinem Tod gelang ihm kein Gedicht mehr.

Auch in seinen ersten Prosaarbeiten, die Mitte der fünfziger Jahre erschienen, war dieser simplifizierende Moralismus spürbar. Es waren dramatisch zugespitzte Novellen, in denen er seine Kriegserfahrungen verarbeitete und mit denen er zu einem gefeierten, viel gelesenen, prominenten Autor in der DDR aufstieg. Er war, wie der Literaturhistoriker Peter Demetz schrieb, „ein Manichäer ohne Gott und Teufel, fühlend und denkend in gespannten Polaritäten und lange unwillens, das Relative, Halbe, Graue und Wiederholbare des Alltags zu sehen oder gar darüber zu schreiben. Es war immer alles auf die Spitze und zu schicksalsträchtigen Konfrontationen fortgetrieben.“

Dennoch sind einige der frühen Erzählungen von großer sprachlicher Schönheit und zeugen von beträchtlichem psychologischem Verständnis: In Das Judenauto (1962) erlebt ein siebenjähriger Junge verwirrt und beunruhigt seine ersten erotischen Gefühle. Allein gelassen mit diesen in seiner katholischen Umwelt streng beschwiegenen Empfindungen, flieht er in Tagträume, die ihn vor seinen Mitschülern blamieren. Die Schuld für beides, sowohl für die verunsichernden Gefühle wie für die Blamage, sucht er reflexhaft bei jenen Kräften, von denen er immer schon hörte, die hätten „alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt“: den Juden.

Fühmanns Zweifel am realen Sozialismus wurden im Laufe der sechziger Jahre immer quälender. Doch als ehemaliger Nationalsozialist hielt er sich nicht für berechtigt, an jenen Kommunisten Kritik zu üben, die großen Anteil daran gehabt hatten, Hitlers Regime zu beenden. Diese Zerrissenheit reichte tief: Fühmann betäubte sich jahrelang mit Alkohol. Doch auch in dieser Phase seines Lebens wurde die Politik zum Wendepunkt. Als die Truppen des Warschauer Paktes im Sommer 1968 den Prager Frühling gewaltsam beendeten, konnte Fühmann seine Sucht überwinden – denn nun, da wieder einmal deutsche Panzer durch die Tschechoslowakei rollten, konnte er sich endlich eingestehen, dass er in den Mächtigen der DDR insgeheim Diktatoren sah, und also mit seinen seelischen Konflikten ins Reine kommen. „Ich war“, schrieb er später, „im letzten Stadium des Deliriums und habe dann erst die Kraft zum Absprung gefunden, und zwar unter der Maßgabe, dass ich mir sagte: Jetzt ist die letzte Chance, die dir gegeben ist, wirklich ein bewusstes Leben anzufangen, was bedeutet: zunächst einmal bewusst dein Leben zu durchdenken.“

Die folgenden Bücher Fühmanns haben Ähnlichkeiten mit einer psychotherapeutischen Selbstanalyse. Durch sie machte er sich nicht nur sein eigenes, vom Totalitarismus verführtes Denken bewusst, sondern beschrieb die Mechanismen einer faschistischen Erziehung jenseits aller Theorien mit bezwingender poetischer Kraft: Mit seinen Erzählungen Der Jongleur im Kino (1970), seinem Ungarntagebuch 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens (1973) und schließlich seinem Opus Magnum, dem Essay Vor Feuerschlünden (1982) ließ er endgültig das ideologische Bewusstsein, das die Literatur in beiden Teilen Deutschlands lange prägte, hinter sich und entwickelte eine formal hoch anspruchsvolle und doch immer anschauliche, sinnliche Prosa.

Aus einem literarischen Manichäer, der nur eine Wahrheit kannte, wurde ein Schriftsteller, der eine Vielfalt der Perspektiven auf die Wahrheit in jeden Satz zu zwängen versuchte. Er, der zuvor in politischen Extremen gelebt hatte, wollte nun das Wort „auch“ in einem Essay feiern, weil es mit seiner Hilfe möglich werde, die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und Weltanschauungen nebeneinander gelten zu lassen. Schon 1980, als die DDR noch zehn Jahre zu leben hatte, Fühmann aber nur noch vier, schrieb er an den Regisseur und Akademiepräsidenten Konrad Wolf: „Unsre Gesellschaft ist pluralistisch, Gottseidank ist sie es, bloß offiziell will man das eben nicht wahrhaben. Die verschiedenen Moralen sind nicht auf 1 Nenner zu bringen, na Gottseidank, und so etwas wie die ‚moralischen Anschauungen unserer Werktätigen’ gibt es nicht, oder es sind immer die Repräsentanzen des Muffigen, Spießigen, Kleinkarierten.“

Ein deutlicheres Bekenntnis zur offenen Gesellschaft hat es in der Literatur der DDR nicht gegeben. Die Kulturfunktionäre des Landes setzten ihm nicht zuletzt deshalb nach Kräften zu. Im Testament legte Fühmann fest, dass kein offizieller Vertreter der DDR an seinem Grab sprechen dürfe.

Hinweise

Seit 1993 liegt Fühmanns Werk in einer achtbändigen, autorisierten Gesamtausgabe (Hinstorff Verlag in Rostock) vor. Elke Heidenreich hat vor einigen Jahren (2004) ihre Popularität eingesetzt, um auf diesen Schriftsteller hinzuweisen, und eine CD mit seinen Märchen auf Bestellung eingelesen (Hinstorff Verlag).

Zum Fühmanns 100. Geburtstag sind drei Bücher erschienen:

Christa Wolf und Franz Fühmann: Monsieur – wir sehen uns wieder. Briefe 1968 – 1984 (Aufbau Verlag).

Franz Fühmann: Mein letzter Flug. Roman einer Jugend unter Hitler in acht Erzählungen. Hg. von Uwe Wittstock (Historff Verlag).

Uwe Wittstock: Franz Fühmann. Wandlung ohne Ende. Eine Biografie (Hinstorff Verlag).

 

Titelbild

Franz Fühmann: Werkausgabe in 8 Bänden.
Hinstorff Verlag, Rostock 1993.
3570 Seiten,
ISBN-10: 3356005227
ISBN-13: 9783356005226

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Franz Fühmann / Elke Heidenreich: Elke Heidenreich liest Franz Fühmann. Märchen auf Bestellung.
Hinstorff Verlag, Rostock 2004.
1 CD , 12,90 EUR.
ISBN-10: 3356010409
ISBN-13: 9783356010404

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christa Wolf / Franz Fühmann: Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968–1984.
Hg. von Angela Drescher.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
200 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039585

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Titelbild

Franz Fühmann: Mein letzter Flug. Roman einer Jugend unter Hitler in acht Erzählungen.
Hg. von Uwe Wittstock.
Hinstorff Verlag, Rostock 2021.
187 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783356023770

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Titelbild

Uwe Wittstock: Franz Fühmann. Wandlung ohne Ende. Eine Biografie.
Hinstorff Verlag, Rostock 2021.
107 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783356023787

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