Lesen in der Corona-Krise – Teil 23

Bewegendes Dokument des Stillstands und des Muts: Ein Bildband von Helena Heilig über „Wirte im Lockdown“ regt zum Nach- und Voraus-Denken an

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies wird keine „normale“ Rezension eines soeben erschienenen Bildbandes. Der Rezensent ist „befangen“: Er kennt die Fotografin persönlich, die diese Bilder und dieses Buch gemacht hat. Und er schätzt nicht nur ihr großes fotografisches Talent, sondern er bewundert auch den Mut und die vehemente Energie und Leidenschaft, die hinter dem Projekt dieses Bildbandes im Selbstverlag steckt.

Es ist kein unziemlicher Vergleich, wenn ich den Einsatz für dieses künstlerische Unternehmen mit dem Einsatz auf den Stationen der Intensivpflege in den Krankenhäusern während der letzten zwei Jahre vergleiche. Da wie dort geht es um Existenzen, die gerettet werden sollen. Und die in großer Gefahr waren. Und es immer noch sind.

So bietet diese Rezension dreierlei: eine kleine Reportage über die Entstehung des Buches, eine sehr knappe Rekapitulation seines Inhalts und meine eigenen, soziologischen Betrachtungen über die soziale Beziehung zwischen Wirtinnen/Wirten und ihren Gästen.

Wie ist das Buch entstanden?

Die Hülle eines einzigen Corona Virus Covid-19 ist 80 bis 160 Nanometer groß. Wenn man bedenkt, dass ein Nanometer ein Milliardstel Meter ist, dann ist das verdammt klein. Sein charakteristisches Aussehen verdanken die Coronaviren (corona, Kranz, Krone) jenen keulenförmigen Strukturen an der Oberfläche, die nach außen ragen.

Und diese winzigen Lebewesen, die man nur mit dem Elektronenmikroskop sichtbar machen kann, haben unser menschliches Zusammenleben auf einen Schlag global verändert. Die kleinen Kronen haben unser Leben sortiert, in ein „Davor“ und „Seitdem“. Von „Danach“ kann zum Zeitpunkt dieses Schreibens keine Rede sein, denn wir haben die Krönchen noch lange nicht besiegt. Auch wenn einige Laut-Sprecher ihnen den „Kampf“, ja den „Krieg“ erklärt haben.

Als sich die winzigen Viren über die Menschen auch in Deutschland verteilten, veränderten sie das Leben der Wirte und ihrer Gäste in radikaler Weise. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 waren seit dem 2. November 2020 sämtliche Restaurants und Bars in Deutschland erneut geschlossen! Das Leben der Wirte und das Leben ihrer Gäste waren voneinander getrennt worden, das Band war zerschnitten.

Diese Situation lieferte den Impuls für die Münchner Fotografin Helena Heilig zum Handeln. Um zu verstehen, was dann geschah, bitte ich Sie, diese Seite aufzurufen:

https://wirte-im-lockdown.de/

Wenn Sie die dort versammelten Texte gelesen und dazu die beiden Videos gesehen haben, kennen Sie die Geschichte, die zum Buch geführt hat.

Im April 2020 besuchte das Münchner Fotografinnen-Texterinnen-Duo, bestehend aus Helena Heilig und Susanne Fiedler, 26 Gastronomen und Gastronominnen in ihren Münchner Lokalen, führte Interviews, fotografierte in den verwaisten Gaststuben. Wenige Tage zuvor, am 21. März 2020 hatte sich für die rund 3.500 Restaurant- und Cafébetreiber der Landeshauptstadt München alles verändert – und zwar von einem Tag auf den anderen. Diesen jähen Bruch wollten Heilig und Fiedler in einem gemeinsamen Projekt „Wirte im Lockdown“ dokumentieren. Ihre Fragen waren: „Was machen wir mit all der gewonnenen Zeit?“ „Was wird aus unseren Mitarbeitern?“ „Wie halten wir Kontakt zu den Gästen?“ „Kann man vielleicht das Gast-Geben völlig neu interpretieren?“

Eine Ausstellung in München war für den November 2020 geplant, sie musste wegen des zweiten Lockdowns und der Schließung sämtlicher Kulturstätten immer wieder verschoben werden. Doch das Projekt nahm plötzlich Fahrt von allein auf: Viele Wirte meldeten sich von selbst und wollten mitmachen. Es folgten 24 weitere Produktionen in München und Umgebung. Und da das Interesse überregional wuchs, erweiterte Helena Heilig ihren eigenen Radius und ihr Team: Ab Dezember 2020 bekamen Gastronomen in Berlin, Hamburg, Reutlingen, Stuttgart, Baden-Baden, Heidelberg, Frankfurt, Köln, Dresden, Leipzig, Nürnberg, Hannover und Bremen die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen. Und in ihren Gaststuben fotografiert zu werden. 5.500 km legte Helena Heilig zurück, um in 14 deutschen Städten 192 Gastronomen zu fotografieren. Das Team vergrößerte sich auf 8 Journalisten, die nach dem Textkonzept von Susanne Fiedler den Wirten eine Stimme gaben.

Das Kunstprojekt von Helena Heilig ist die Dokumentation einer Vollbremsung, der Versuch einer Bestandsaufnahme. Es wagt Ausblicke in ein denkbares Leben nach Corona: „Wird es das Gleiche sein?“ „Wird die Funktion von Restaurants, Bars, Cafés künftig mehr geschätzt als Orte der Begegnung, des sozialen Miteinanders?“ Das Projekt wurde zu groß, um nur eine Ausstellung zu werden. Zum Zentrum wurde eben jener Bildband, den anzuzeigen ich hier die Aufgabe habe.

Dazu eine kleine Anmerkung zum Wort „Gast-Wirt“: Weil ich diesen Zweiklang liebe, bevorzuge ich diese Berufsbezeichnung gegenüber dem Wort „Gastronom“.

Zusammengesetzt aus den griechischen Worten Magen, Bauch (gaster) und Gesetz (nomos) bezeichnet Gastronom jene Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit der gewerblichen Bewirtung in Betrieben verdienen. Bei Gastronomen muss ich immer an Gastritis denken, und das ist nicht schön.

Bleiben wir bei „Gastwirten“: Menschen, denen es in allererster Linie, um das Wohlbefinden ihrer Gäste zu tun ist, die sie bewirten möchten. Menschen, die mit Hingabe, Fantasie und Liebe jenen Gästen dienen möchten, die sich ihren Künsten anvertrauen. Gast bedeutete in den germanischen Sprachen ursprünglich Fremdling, der Gastrecht in Anspruch nehmen und vielleicht sogar Gastfreundschaft erwarten durfte.

Wirt meinte ursprünglich männliche Menschen, der sich um ein weibliches Wesen kümmern, als Bewirter, als Ehemann, als Hausherr. Heute bezeichnen wir damit Menschen, die sich um andere Wesen kümmern, sei es als Betriebswirt, Forstwirt, Landwirt, Pferdewirt. Oder eben als Gastwirt für Menschen. Ich bleibe beim Wort Gast, weil ich den Klang der „Gästin“ ebenso schrecklich finde wie den Klang der „Bösewichtin“. Gute Wirtinnen und gute Wirte schenken ihren Gästen Gastfreundschaft.

Und auf einen Schlag konnten sie das nicht mehr. Nein, sie durften es nicht mehr! Und das war schrecklich, für Wirte wie für Gäste.

Im ersten Video mit Helena Heilig und Susanne Fiedler hört man Hans Haas vom „Tantris“ in München sagen: „Man kann nicht mehr für die Leute kochen und sie bedienen.“ Und man sieht ihm an, wie fassungslos ihn das macht, dass er das nicht mehr kann. Manche Köche kochen für ihre Gäste, andere kochen für den Guide Michelin und gegen ihre Konkurrenten. Ich persönlich mag jene Köche und Wirte, die für ihre Gäste arbeiten. Die dann, wie Marc Uebelherr vom Münchner „Fugazi No. 15“, sagen: „Mein ganzes Leben ist darauf abgestimmt, in Lokalen zu sitzen und Menschen zu bedienen, und das Ganze von Morgen bis nachts, sieben Tage in der Woche.“

Die Fotos von Helena Heilig dokumentieren in eindrücklicher Weise, wie es gerade diesen Menschen nach und seit dem Pandemie-Schlag ergangen ist. Es war schon der richtige Rat von Khalid Stückler, dem Concièrge vom „Sheraton München“, Fotos in Schwarz-Weiß vorzuschlagen! Fassungslosigkeit, Lähmung, Ungläubigkeit und Trauer lassen sich nicht leicht in Farbe festhalten. Auf den so entstandenen Fotos sieht man sehr deutlich, wie ernst die Lage war. Nein: Wie ernst sie ist. Man sieht das Grübeln auf den Gesichtern: „Was passiert hier? Was passiert mit mir, mit uns? Wie wird das weitergehen? Wird es weitergehen?“

Was bietet das Buch?

Nun liegt er vor mir, der voluminöse Band. Format: 23 x 32 cm. Umfang: 434 Seiten. Gewicht: 2,5 kg, kein Leichtgewicht. Man legt das Buch am besten auf den Tisch und blättert behutsam. Und betrachtet. Was sieht man?

Man sieht 192 Menschen aus 14 deutschen Städten. Menschen in Räumen, in denen umgekehrte Stühle auf den Tischen stehen. Menschen, die den Betrachter direkt ansehen. Einsame Gastgeber, die keine Gäste mehr bewirten dürfen.

Ob es nun eine „Institution“ wie das „Tambosi“ in München oder das Münchner „Hofbräuhaus“, der Großwirt vom Paulaner am Münchner Nockherberg, das Zwei-Sterne-Restaurant „Tantris“, das kleine malayische Restaurant „Champor“ in Denning oder die „Bar Sehnsucht“ in der Maxvorstadt Münchens ist: Alle Gastgeber verband der Schock des ersten Lockdowns. Manche konnten auf die Loyalität ihrer Stammgäste setzen, viele auf die Unterstützung ihrer Familie. Bemerkenswert dabei ist, wie viele der teilweise sehr jungen Gastwirte an ihre Eltern, ja Großeltern denken: „Bei ihnen war es richtig hart damals, sich etwas aufzubauen. Dann die Probleme mit der Inflation und all das.“ Und alle sorgen sich um ihre Mitarbeiter, vor allem dann, wenn diese nicht aus Deutschland kommen: „Können sie überhaupt in Deutschland bleiben?“

Viele berichten von gravierenden Existenzsorgen: „Wir halten uns gerade so über Wasser, wissen aber noch nicht, wie lange wir diese Situation überhaupt durchhalten können.“ Ruhetag als Dauerzustand, das ist kein guter „Zustand“. Kein einziger der fotografierten Menschen lächelt die Fotografin an. Man sieht Sorgen, Angst in den Gesichtern. Was mag aus ihnen heute geworden sein?

Es tut gut und sei betont, dass bei keinem der Bilder die genaue Adresse und Telefonnummer des Gastbetriebs steht, nur der Name der Wirtsleute: Es ist kein Restaurantführer, es ist ein zeitgeschichtliches Dokument.

Das mich persönlich am stärksten deprimierende Foto zeigt die Wirte Claudia Trott und Josef Schmidbauer, die in ihrem leeren „Schlosscafé im Palmenhaus“ im Park des Schlosses Nymphenburg in München zu sehen sind. Sie sitzt halb auf einem der weißen Tische, er hält einen Schrubber in der Hand. Beide sehen den Betrachter, der an seine eigene Kindheit in diesem Park denken muss, ernst an. Im Park durften die Menschen immer frei promenieren, sehnsüchtig schauen sie durch die hohen Fenster, das Café musste schließen. Die Wirte sagen: „Wir gehen davon aus, dass es noch lange dauern wird.“ Wie recht sie behalten sollten!

Für mich persönlich – wie sicher auch für manch andere – ist dieser wunderbare Bildband wie ein Blättern im gastronomischen Fotoalbum der eigenen Erinnerungen. Bei mir selbstverständlich allen voran die Münchner Lokalitäten, aber die Wirte vom „Tortue“ und vom „Nil“ in Hamburg winkten mir in meinen Erinnerungen zu. In Reutlingen, Stuttgart, Heidelberg, Köln, Dresden und Bremen war ich noch nie gastronomisch unterwegs, aber beim Lesen bekommt man viel Lust auf Besuche in einigen der Betriebe. In Hannover war ich auch noch nie „gut essen“, aber vom „Jante“ von Tony Hohlfeld und Mona Schreiber habe ich schon viel Gutes gehört: Da will ich mal hin!

Das knappe Vorwort von Helena Heilig endet mit Sätzen, denen nichts hinzugefügt werden muss: „Und so mag das Buch in ein paar Jahren daran erinnern, wie sonderbar es ist, von einem Tag auf den anderen nicht mehr das tun zu können, was man gewohnt ist, und dankbar zu sein für das, was man hat.“

Soziologische Nachdenklichkeit

Was lässt sich zu dem Ganzen aus soziologischer Sicht sagen? Beginnen möchte ich mit dem von mir sehr geschätzten Klassiker meines Faches, dem aus Nazi-Deutschland verjagten Norbert Elias. Für diesen Soziologen gibt es keine Gesellschaft. Stattdessen gibt es menschliche Individuen in unterschiedlichen Konfigurationen. Elias zufolge verläuft die Entwicklung jedes einzelnen Menschen ebenso ungeplant wie die der diversen Konfigurationen, die er mit anderen Menschen bildet und zugleich ständig verändert. Im „Prozess der Zivilisation“ der Menschheit entsteht eine soziale Ordnung, „die zwingender und stärker ist als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. Es ist diese Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt.“

Die wichtigste Folgerung, die sich aus dieser figurations- und prozesstheoretischen Perspektive ergibt, ist die Erkenntnis, dass im Mittelpunkt aller soziologischen Forschung Menschen und die gesellschaftlichen Verflechtungen, die sie miteinander bilden, stehen müssen. Die Umstände, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von „außen“ an den Menschen herankommt: „die Umstände, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“ Am Ende seines 93 Jahre langen Lebens stand für Elias fest, dass der Prozess der Zivilisation nie zu Ende sein wird, d.h. die Zukunft der Menschheit und der Individuen ist nicht festgelegt und keineswegs endgültig.

Diesen Grundgedanken von Norbert Elias möchte ich aufgreifen, um meine persönliche Vorstellung davon zu skizzieren, was wir alle – Wirte, Köche und Gäste – aus der Erfahrung der Corona-Pandemie und dem Lockdown machen können.

Es gibt, so meine ich, keinen wirklichen Grund, in Pessimismus oder gar in fatalistisches Aufgeben zu verfallen. Sicher, für einige jener Menschen, die die Fotos von Helena Heilig zeigen, dürften extreme Risiken, vor allem in finanzieller Hinsicht, entstanden sein. Und einige werden es wirtschaftlich nicht „überlebt“ haben. Alle bisherigen Selbstverständlichkeiten sind weggefallen. Auch wenn die kleinen Krönchen nur vermeintlich von außen auf die Menschen gefallen sind – was nicht stimmt, denn es waren ganz eindeutig Menschen, die sie auf andere Menschen übertragen haben, selbst wenn da Tiere dazwischen gewesen sein sollten –, so liegt es doch nun an uns allen, was wir daraus machen werden.

Man kann es ja gar nicht mehr hören, „Krisen als Chancen“ wahrzunehmen. Dennoch plädiere ich dafür, dass wir diese Erfahrungen, die wir als Gastwirte und Gäste machen mussten, dafür nutzen, die Figuration Wirt und Gast künftig neu zu gestalten. Hier ein paar Skizzen dazu:

Am Eingang jeder Gast-Stätte hängt in Zukunft ein Schild: „Ich, der Herr XY und/oder die Frau YZ, bin hier Ihr Gast-Geber. Sie sind hier mein Gast. Willkommen!“

Das heißt: Ich, der Wirt werde Sie wie meinen persönlichen Gast behandeln. Ich, der Gast-Wirt – oder jene Menschen, die ich an Ihren Tisch gesandt habe –, werde mich Ihnen vorstellen. So wie wir das aus den USA kennen: „Hi, my name is Cathy. I will be your waitress this evening.“ Und das sagt im Deutschland der Zukunft die Katarina oder der Carlos nicht, weil das die Spekulation auf das Trinkgeld ist, sondern weil der Gastgeber seinen Gast begrüßt. Und dem Gast signalisiert, dass wir uns über sein Kommen freuen und ihn verwöhnen wollen. Und nicht, weil wir in ihm den zahlenden Kunden sehen, sondern als jemanden, dem wir unsere Gastfreundschaft anbieten.

Das heißt jedoch zugleich: Ich, der Gast, benehme mich genauso, wie ich das täte, wenn ich bei Verwandten, Freunden, Bekannten, Fremden zu Besuch eingeladen würde. Ich bringe zwar keine Blumen für die Gastgeberin oder eine gute Flasche für den Gastgeber mit, ich frage auch nicht, ob ich die Schuhe ausziehen soll, aber ich signalisiere mit einem Lächeln, dass ich mich über die Einladung gefreut habe (auch wenn ich sie selbst organisiert habe).

Ich wasche mir die Hände, bevor ich die Karte nehme, und höre aufmerksam zu, was mir Katarina oder Carlos empfehlen. Und wenn das Essen oder das Getränk kommt, sehe ich jene Menschen an, die mir das Bestellte bringen. Und wenn es nicht das Bestellte sein sollte oder es länger gedauert hat, als ich dachte, bleibe ich dennoch freundlich. Ich bin der Gast und nicht die PIN der Bankkarte.

Die Figuration Gastwirt-Gast ist wie ein elegantes Menuett: nicht zu nah – ich verabscheue es, wenn Wirte glauben, sie könnten sich ungefragt an den Tisch dazusetzen – und nicht zu fern. Nicht von Oben herab dozierend – keine langen Vorträge über die Geschmacksnoten des kredenzten Weines, das schmecke ich selbst –, aber auch kein minimalistisches VordieNaseSetzen – „Nummer 87, Nasi-Goreng, scharf“.

Es braucht nicht unbedingt die Tournee des Kochs oder der Köchin von Tisch zu Tisch. Aber wenn die freundlich gemacht wird, ist es eine sehr elegante Krönung der Stunden als Gast. Noch immer denke ich voll Freude an Douce Steiner in Sulzburg und an Jennifer Silvius und Ralph Hermans vom „Rantrée“ in Maastricht. Und voller Schrecken an die Vorträge im „Kadeau“ in Kopenhagen über die kulinarischen Spezialitäten der Insel Bornholm, die dermaßen lange dauerten, dass das Essen nur noch lauwarm geworden war. Es braucht schon lange keine Cloches mehr, die gleichzeitig von allen Tellern hochgehoben werden, aber die kleinen Details, die die Nahrungsaufnahme zum Fest machen, sollten gewahrt werden. Oder wieder neu kultiviert werden.

Es ist nicht der Familientisch, an dem dieses Fest begangen wird, aber es ist ein Ess-Tisch. Und damit jene – hoffentlich schön dekorierte – Fläche, um die herum das Hohelied der Tischmanieren gesungen werden kann. Auch deswegen liegen niemals Handys auf diesem Tisch. Auch in Zeiten, in denen man schon lange den Spargel kleinschneiden kann, in denen man die Kartoffeln mit dem Messer teilen darf, ist es dennoch kein Grund, nicht zu zeigen, dass man kultiviert und zivilisiert essen kann. Und das nicht nur in Sternerestaurants, sondern auch an Tischen, auf denen nicht einmal eine Tischdecke liegt. Dafür muss dann die Tischplatte besonders sauber sein, auch ohne Desinfektionsmittel! Aber immer muss es ein zivilisiertes Fest sein, und nicht nur der Konsum von Nahrungsmitteln und Getränken.

Auch dazu hat Norbert Elias viele Seiten gefüllt, wie sich diese Zivilisierung der Tischmanieren über Jahrhunderte entwickelt und verändert hat. Von der mittelalterlichen courtoisie über die höfische civilité zur neuzeitlichen Zivilisation. In den „Interdependenzketten“ der Menschen, in denen sie immer stärker miteinander verflochten sind, hat es sich bewährt, Selbstkontrolle über seine Affekte zu entwickeln: Wir warten, bis alle etwas zu essen bekommen haben. Der Wirt hat dafür gesorgt, dass alle gleichzeitig serviert bekamen. Wir trinken gemeinsam den ersten Schluck und schauen uns dabei an. Wir benutzen die bereitgestellten Esswerkzeuge. Beim Essen wird nicht über Ausscheidungsfunktionen gesprochen. Die vielfältigen Wandlungsprozesse, die zur Herausbildung der abendländischen Zivilisation geführt haben, sind alles andere als selbstverständlich, sie müssen von Generation zu Generation weitergegeben und immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Jeder Einzelne muss lernen, auf die unmittelbare Befriedigung seiner Impulse und Bedürfnisse zu verzichten, egal, ob es um Gewalt, Sexualität, Hunger oder Durst geht. „Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen“: Mit diesem Satz beginnt und endet Norbert Elias sein Buch.

Ich will es nicht unnötig auswalzen, und natürlich geht’s im „Tantris“ von Benjamin Chmura anders zu als im „Hofbräuhaus“. Wer sich die Wirtinnen und Wirte auf den Fotos von Helena Heilig genau anschaut, der sieht, dass es bei allen etwas anderes heißt, zu Gast zu sein. „Zu Gast“ und nicht nur „Tisch 12 will zahlen“. Wir, die Gäste, müssen lernen, viel bewusster zu schätzen, welche Mühe sich unsere Wirte für und mit uns machen. Und Ihr Wirte werdet uns wieder sehr viel bewusster als Eure Gäste begrüßen, bewirten und verabschieden. Und uns gemahnen, wenn wir uns nicht als Gäste an Euren Tischen zu benehmen wissen. Vielleicht sollten in Zukunft kleine Namensschilder zumindest auf den reservierten Tischen stehen: Dann wird der Herr Müller oder die Frau Dr. Müller sich vielleicht noch ein wenig mehr zu benehmen wissen.

Für mich jedenfalls wäre es ein gespenstischer Albtraum, wenn jene Post-Corona-Praktiken einiger gastronomischer Unternehmer – die sich dennoch Gastwirt zu nennen wagen – auch nach Corona bleiben würden: keine Speisekarte, sondern das Menü als QR-Code auf dem Handy, Bestellung per Handy, Bezahlen per PayPal oder ApplePay. Das könnte tatsächlich die digitale Wirklichkeit in unseren Gast-Stätten werden als Folge der winzigen Krönchen. Ich jedoch hoffe auf das Gegenteil, nämlich dass die Figuration Gast-Wirt sich in die von mir nur grob skizzierte zivilisierte und kultivierte Richtung entwickelt. Dann hätten die winzig kleinen Krönchen doch auch ihr Gutes gehabt. Bei allem Schrecken.

Es macht mir Mut, dass der Wirt Costantino Medde vom Münchner „55Eleven“ im Buch sagt: „und dann möchte ich mit meinem Team in der Wahrnehmung der Leute derjenige sein, der in der schwierigen Zeit den Sinn der Gastronomie beibehalten hat und nicht nur bewirtet, sondern auch ein Abschalten ermöglicht und einen Ausgleich geschaffen hat.“

Und wenn diese Phase vorbei ist – wann auch immer das sein wird –, fotografiert Helena Heilig wieder in Farbe! Und die Wirtinnen und Wirte und die Köchinnen und Köche lächeln wieder auf den Fotos! Und wir Gäste auch! Und alle ohne Masken! Und vielleicht kommt es sogar wieder dahin, woran sich die Wirtin vom „Klippkroog“ in Hamburg, Anne Behm, erinnert: „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das war, einen Gast zu umarmen, weil man sich freute, ihn zu sehen.“ Möge es so kommen!

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

Kein Bild

Helena Heilig (Hg.): Wirte im Lockdown.
Helena Heilig Photography, München 2021.
432 Seiten , 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783000687419

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch