Ein vergnüglicher Blick in die Werkstatt von zwei Krimigrößen

Ursula Hasler lässt in „Die schiere Wahrheit“ Glauser und Simenon gemeinsam schreiben

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hätte durchaus sein können, dass sich die beiden Klassiker der Kriminalliteratur Friedrich Glauser und Georges Simenon getroffen hätten, denn „aufgrund der biografischen Fakten“, so Ursula Hasler, „wäre eine Begegnung im Sommer 1937 an der Atlantikküste möglich gewesen“. Die Möglichkeit lässt die Schweizer Autorin Wirklichkeit werden. Doch nicht nur das: Sie lässt sie gemeinsam einen Kriminalroman schreiben. Friedrich Glausers Wachtmeister Studer soll die Zügel in die Hand nehmen, Georges Simenon steuert Mademoiselle Amélie Morel bei (seinen Kommissar Maigret hat er bereits 1934 in den Ruhestand geschickt), die sich als Möchtegern-Ermittlerin hervortut. Die Krankenschwester, die sich gerne Fräulein Doktor nennen würde und sich durchaus als ein solches versteht, logiert im noblen Grand Hôtel de la Plage, in dem auch der spätere Tote namens Montgomery Miller abgestiegen ist, mitsamt Ehefrau und Schwägerin. Da die beiden Frauen aus einer angesehenen Berner Familie stammen, wurde Studer vom Berner Polizeidirektor mit der Lösung des Falles beauftragt. Sein Hedy begleitet ihn auf der Reise ins Ausland. Studer hat einen klaren Auftrag, Amélie Morel gibt sich diesen selbst.

So weit die Ausgangslage. Dass irgendetwas mit Millers Tod nicht stimmen kann, ist rasch klar. Und nicht nur, weil dessen Ehefrau bei der Identifizierung stammelt: „Der … der Mann da … ich glaube, es ist nicht mein Mann …“ Obwohl ihre Schwester sowie der Hoteldirektor ihn eindeutig identifiziert haben. So machen sich denn Studer und Amélie ans Werk – unterstützt von ihren „Schöpfern“ Glauser und Simenon.

Studer hat seine langjährige Erfahrung,  Amélie eine blühende Phantasie und große Lust, etwas Besonderes zu erleben. Dies unter einen Hut zu bringen, ist die Herausforderung für Glauser und Simenon, der sie sich stellen. Ihre Begegnungen lesen sich als eigentliche Einführung in ihr Schreiben und machen uns vertraut mit ihren Überlegungen beim Entwickeln einer Geschichte und eines Plots. Da sie zwei sind, die den Roman voranbringen möchten – je auf ihre Weise, versteht sich – und da sie erst noch zwei Figuren haben, die einiges an Eigenständigkeit für sich beanspruchen, gibt es zahlreiche – spannende, verwirrende und unerwartete – Um- und Irrwege. Denn auch wenn Studer und Morel voneinander wissen, sind sie weit davon entfernt, sich zusammenzutun.

Ursula Hasler legt einen köstlichen Roman vor, den wir mit großem Vergnügen lesen. Dass sie sowohl die Werke Glausers als auch jene Simenons sehr gut kennt, zeigt sich in der Personenzeichnung und in der Sprache. Wachtmeister Studer erkennen wir als Glauser-Figur ebenso wie Mademoiselle Morel als Simenons Erfindung. Und wenn sich die beiden Autoren, Meister ihres Fachs, in Diskussionen vertiefen, hören wir ihnen gebannt zu. Unterwegs mit Studer ins Café, mit Mademoiselle Morel auf ihren Streifzügen in den Dünen und am Meer sowie mit Hedy auf ihren Entdeckungstouren in einer ganz anderen Welt, als sie sie aus dem behäbigen Bern kennt, tauchen wir fasziniert ein in die 1930er-Jahre an der Atlantikküste.

Das Leben der beiden Autoren ist Ursula Hasler durchaus vertraut. Wenn Glauser und Simenon unterwegs sind, spinnen sie zum einen an der Fortsetzung ihrer gemeinsamen Geschichte. Zum anderen erzählen sie sich, was sie umtreibt, an was sie schreiben, mit welchen Schwierigkeiten sie sich konfrontiert sehen. Friedrich Glauser hielt sich 1937 im Badeort La Bernerie-en-Retz auf, der damals etwa zwei Zugstunden entfernt war von Saint-Jean-de-Monts, wo die Romanhandlung spielt. Georges Simenon kannte die Gegend von früheren Aufenthalten sehr gut,  Anfang 1938 sollte er in der südlichen Vendée ein Haus kaufen. Der dank seiner Maigret-Romane bekannte Simenon war erst 34 Jahre alt und sehr erfolgreich, doch das Schreiben von Kriminalromanen sah er nicht länger als seine Zukunft, er wollte sich als ernsthafter Romancier versuchen, was ihm noch nicht wirklich überzeugend gelungen war. Ganz anders war die Situation von Friedrich Glauser im Sommer 1937. Mit Berthe Bendel lebte er in der Nähe des Seebads und arbeitete an mehreren Romanprojekten. Anfang des Jahres war ihm mit dem dritten Studer-Roman Matto regiert der Durchbruch als Schriftsteller gelungen, der zugleich einen Skandal auslöste, da sich verschiedene Personen in den Romanfiguren wiedererkannten. In Frankreich stand Glauser einmal mehr wegen großer Geldnöte unter Druck, er schrieb gleichzeitig an drei Studer-Romanen. Um das Arbeitspensum zu bewältigen, benötigte er immer mehr Morphium, was ihn zunehmend vor Beschaffungsprobleme stellte. Hier setzt denn Ursula Hasler auch mit der Begegnung Glauser–Simenon ein, denn Glauser begibt sich nach Saint-Jean-de-Monts, um sich den Stoff zu beschaffen, bei Doktor Schöni, und dieser macht die beiden miteinander bekannt.

Dass Georges Simenon für Friedrich Glauser eine Art Vorbild war, lässt sich nicht zuletzt in seinen „Zehn Geboten für den Kriminalroman“ nachlesen: „Bei einem Autor habe ich all das vereinigt gefunden, was ich bei der gesamten Kriminalliteratur vermisst habe. Der Autor heißt Georges Simenon.“ Ursula Hasler weiht uns mit ihrem überzeugenden Roman Die schiere Wahrheit ein in das Denken von Glauser und Simenon, und gleichzeitig erlaubt sie einen Blick in die Krimiwerkstatt. Voller Begeisterung lassen wir uns als Leser:innen entführen von den Geschichten und greifen – nicht zuletzt angeregt durch die Lektüre – nach den Romanen mit Wachtmeister Studer und Kommissar Maigret.

Titelbild

Ursula Hasler: Die schiere Wahrheit. Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman.
Limmat Verlag, Zürich 2021.
340 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260201

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