Dystopie, Bewahrung und die Wiederkehr des Frühlings

Mit „Mond des verharschten Schnees“ erscheint ein beeindruckender Roman des kanadischen Autors Waubgeshig Rice

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht eine Gemeinschaft, die von der Außenwelt abgeschnitten wird? Das kommt auf die Gemeinschaft, ihre Geschichte, ihre Gegenwart und die Umstände an. Die Gemeinschaft, das sind die Bewohner eines „Rez“, eines ‚Reservats‘ der Anishinaabe oder Ojibwe im subarktischen Norden Kanadas, wohin diese Angehörigen einer First Nation vor langer Zeit, ursprünglich beheimatet an den Großen Seen, ja: deportiert wurden. 

Der Topos des Abgeschnittenseins, des Aufsichselbstzurückgeworfenseins einer Gruppe kann als (zu) bekannte dystopische Versuchskonstellation erscheinen, bei der das Skelett der Theorie arg sichtbar durchs erzählerische Fleisch lugt. Überdies könnte es sich um eine allzu politisch korrekte Feier der Bewahrungskräfte einer indigenen Gemeinschaft handeln. 

Weit gefehlt! Das verhindert Waubgeshig Rice, kanadischer Autor und Journalist aus einer First Nation, weil er so nah an den Ereignissen und seinen Personen ist, dass man stets mit dabei ist. Das gelingt ihm vor allem mit der Figur Evans, eines Mitte Zwanzigjährigen, verheiratet mit Nicole und Vater zweier kleiner Kinder, die inzwischen wieder indigene Namen tragen. Evan ist ein sympathischer Normalo, der einfach immer dort leben wollte, wo er jetzt lebt – zusammen mit seiner Familie, seinem Vater Dan und seiner Mutter Patricia, seinem Bruder und seinen Buddies, vor allem Izzie, Isaiah. Evan arbeitet im „Rez“ für die Verwaltung, kümmert sich um Gebäude, macht Reparaturen, im Winter ist Schneeräumen dran. 

Rice schildert das Abgeschnittenwerden des „Rez“ in einem spezifischen historischen Moment. Einige der Bewohner, so auch Evan, besinnen sich wieder auf alte Traditionen und Fähigkeiten oder haben diese nie aufgegeben – ohne daraus ein Manifest zu machen. Zugleich ist es der Moment, wo das „Rez“ zunehmend verbunden ist mit und abhängig von der Welt da draußen, sei es übers Internet, sei es durch Stromtrasse oder Lebensmittelversorgung. 

Die erste Szene des Romans setzt Ton und Themen: Evan jagt einen Elch, den er später erlegen wird: Fleisch und Nahrung für den Winter, auch wenn das nicht nötig wäre, doch das frische Elchfleisch schmeckt besser und ist billiger als die Ware im Supermarkt. 

Dass das Internet mal zusammenbricht, das sind die Bewohner gewohnt. Dass sich aber auch das Festnetz verabschiedet, Heizungen ausfallen, da blinken bei Evan und auch Nicole erstmals kurz mentale Paniklichter. Noch aber sind die alten Heizungsmöglichkeiten mit Benzin vorhanden. Aber wie lange wird das Benzin reichen? Langsam dämmert es allen: sie sind abgeschnitten. Wie nun durch den Winter? 

Zunehmend entwickelt sich eine Atmosphäre der Bedrohlichkeit, ohne dass wirklich viel passiert, außer dass der Lebensmittelladen geplündert wird. 

In einer Krisensitzung der Reservatsverwaltung wird Kassensturz gemacht: wie lange reichen die Vorräte, müssen Benzin und andere überlebenswichtige Materialien rationiert werden, wer versorgt Alte und Schwache, die mal nicht eben auf die Jagd gehen können? 

Aber nicht nur das Reservat ist abgeschnitten, vielmehr scheint die Welt draußen im Chaos zu versinken – ohne dass Rice darauf genauer eingehen muss. Eines Tages tauchen zwei Schneemobile mit zwei Jungs auf, die aus dem Reservat stammten, jetzt aber weiter im Süden eine Ausbildung machen. In ihrem Wohnheim geht es drunter und drüber, die Zivilisation bricht zusammen, sie wollen nur zurück, bringen sich bei ihrer indigenen Gemeinschaft in Sicherheit.

Eines Tages taucht ein weiteres Schneemobil auf, darin: ein Weißer, Justin Scott, bedrohlich, verschlagen, aber nicht, weil er ein Weißer ist, sondern einfach ein bedrohlich-verschlagener Typ, der überleben will – offensichtlich will er sich in die Gemeinschaft hineinzecken. Einige wenige weitere Weiße kommen später hinzu, Scott wird zum Anführer einer Gruppe sowohl von Weißen wie auch einiger Indigener. 

Bald wird gestorben im Reservat, Winter, Hunger und Unfähigkeit kombinieren sich. Die Toten können nicht beerdigt werden, der Boden ist zu hart gefroren, sie werden in der Gemeindeverwaltung gestapelt. 

Die Situation spitzt sich zu, es gibt immer weniger zu essen, Scott deutet an, dass doch noch „Vorräte“ vorhanden seien. Evan, der die Leichen versorgt, stellt fest, dass eine fehlt. Er stellt Scott zur Rede, Scott schießt auf ihn, Evan bricht zusammen, eine weiße Frau, die wohl von Scott missbraucht wurde, schießt diesem den Kopf weg. 

Im letzten Abschnitt fährt Nicole, in Sandalen im Frühling, mit den Kindern in den Süden, wahrscheinlich, das bleibt offen, um dort zu leben, vielleicht in einem Tipi, ebenso offen bleibt, ob Evan überlebt hat.

Titelbild

Waubgeshig Rice: Mond des verharschten Schnees.
Aus dem kanadischen Englisch von Thomas Brückner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021.
224 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783803128423

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