Das Vergangene ist vergangen (aber wo ist es dann?)

Bei Dao baut sich in „Das Stadttor geht auf“ das alte Peking seiner Jugend neu

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa 2004 besuchte ich das Kaff, in dem ich aufgewachsen bin, nahe Stuttgart. Ich weiß bis heute nicht, was mich trieb. Das Haus, in dem wir wohnten, sah noch aus wie damals. Ich stand da und guckte, am ehesten: doof. Eine Frau kam vorbei und ging in den Hauseingang, in den ich und mein Zwillingsbruder so oft gerannt waren. Ich kannte sie nicht, sie mich nicht. Fremde Leben wechselseitig. Da wusste ich, das ist vergangen. Sentimental? 

Bei Dao kommt 2001 nach dreizehn Jahren Abwesenheit zurück nach Peking, die Stadt, in der er aufgewachsen ist: „Peking war mir fremd geworden: Mit einem Male war ich ein Heimatloser in meiner eigenen Heimat.“ Was war, was sein Leben war, ist verschwunden. Anlass, Initialzündung für den Wunsch, 

dieses Buch zu schreiben: ich würde das geschriebene Wort einsetzen, um eine andere Stadt, um mein Peking wiederaufzubauen. Ich würde mit meinem Peking das Peking von heute widerlegen. 

Ich selbst schlich 2004 davon, von Heimatlosigkeit überwältigt. Aber keine Erinnerung je hätte doch die Frau, die dort wohnte, widerlegen können – oder? 

Bei Dao jedenfalls öffnet das Stadttor, das imaginierte in seinem Kopf und tritt hinein und baut, allerdings „zog“ sich „diese Art Bauprojekt […] dahin, es war schwieriger als gedacht“, Erinnerung ist selektiv, die Vergangenheit doch wohl eine diffuse Wolke im Kopf. 

Was folgt, ist ein Peking der Wahrnehmungen. Bei Dao erschrickt, Peking erstrahlt in Licht, schreit vor Licht, sein Peking war dunkel: „Zur Zeit meiner Kindheit waren die Abende und Nächte in Peking allzu finster, allzu duster.“ Ein Nachbar bewohnte mit seiner Familie zwei Zimmer, es gab drei Lampen, acht Watt in der Diele, drei im Schlafzimmer, Klo und Küche gemeinsam drei Watt. Das Aufkommen der Neonlampen war ein „Desaster“, Schattenspiele verschwanden, doch „Geschichten brauchen Dunkelheit“: 

Jedes Kind bringt von Natur viele Illusionen mit. Sie stehen mit Licht und Schatten, mit den Räumen der Vorstellung, ja sogar mit den Befindlichkeiten des Körpers in Verbindung.

Dann Gerüche: Kohl, Ruß, Staub, Schneefall (Pfefferminzgeruch für Bei Dao), Fisch, Heu, Stoffschuhe im Frühling „stanken wie Pökelfleisch“, Schwimmen war gleichbedeutend mit dem „Geruch von Formalin […], Chloroform und Urin“, die „Stinkefüße von uns Knaben“, der „Duft von Mädchen“. 

Dann Geräusche: Anfang der 1960er Jahre war Peking wie ein Dorf, man hörte Hähne krähen, bei den Jungen Pionieren wird Bei Dao Trommler, eine Textilfabrik ist zuerst leise, die Industrialisierung macht sie laut. 

Dann erinnert sich Bei Dao an Spielzeug und Spiele, an Möbel, an eine Wiege, den ersten Fernseher bei den Nachbarn, die ersten Schallplatten (An der schönen blauen Donau!). 

Aber es sind nicht nur Rezeptionen, sondern auch Lektionen angesichts von Tod und Töten. Zuerst, als Bei Dao anfängt zu angeln, seinen ersten Fisch fängt: 

Was mich wunderte, war meine Indifferenz gegenüber meiner Beute. Diese schien mich ebenfalls zu beobachten. In ihren Augen lag Apathie, die Apathie gegenüber der Macht über Leben und Tod. So verging die Zeit in unserem gegenseitigen Blick, bis der Fisch verschied.

Eine weitere Erfahrung führt Bei Dao selbst an den Rand des Todes, er ertrinkt beinahe beim Schwimmen. Ein Schiff fährt vorbei, er wird von der Welle überrollt, kommt nicht hoch: 

Ich erzählte nichts von dem, was geschehen war, meinen Mitschülern; meinen Eltern noch weniger. Das war meine erste Todeserfahrung, die ich mit niemandem teilen mochte.

Bei Dao hat die Grausamkeiten der chinesischen Geschichte am eigenen Leib erlebt, die Große Chinesische Hungersnot zwischen 1959 und 1961 als 10- bis 12-jähriger, weinte, als die geliebten Hasen geschlachtet wurden. Das ist alles bis dahin der Versuch, sein Peking mittels der Sinneswahrnehmungen eines Kindes wieder zu erbauen. Aber dann ändert sich die Erzählweise. Die folgenden Kapitel fand ich nicht mehr so interessant. Warum nicht? Ich weiß es nicht genau. Drei Möglichkeiten fallen mir ein: (1) Die Kapitel werden deskriptiver, aufzählender, stärker nach außen gewendet. So versucht Bei Dao die Personen, die in der Gasse Sanbulao 1 wohnten, zu beschreiben, vieles bleibt eine Aufzählung von Fakten. Beispiel: Pang Bangben aus der Wohnung Nr 434: 

1951 war er in die Armee eingetreten. In seiner Truppe fiel die Zuständigkeit für die Künste ihm zu. Nach seiner Spezialisierung ging er auf die Universität, ehe er an einer Mittelschule Zeichenlehrer wurde. 1957 erklärte man ihn zum Rechtsabweichler. Als solcher wurde ihm im Pekinger Amt für Öffentliche Sicherheit ein Studio eingerichtet, damit er Verkehrszeichen gestalten konnte. Zur Zeit der Kulturrevolution versetzte man ihn nach Xingtai in die Provinz Hebei. Dort arbeitete er in einer Werkstätte für Ersatzteile und die Reparatur von Kraftwagen. Er entwarf schwere LKWs, die fast so aussahen wie Panzerwagen von Marsmännchen. 

(2) Vielleicht war ich nicht mehr so interessiert, weil mir diese Personen fremd blieben. Aber vielleicht ist es ganz anders. Vielleicht (3) wird Bei Dao politisch vorsichtiger (was damit zusammenhängen könnte, dass er, als sein Vater erkrankte, nach China zurückkam, aber wohl unter Beobachtung stand). So erzählt er fast neutral, wie er und seine Freunde in die Kulturrevolution hineingezogen, die Kinder Teil einer totalitären Struktur wurden. Er ist Anführer einiger Jungs, die sich ein Opfer herauspicken. Dieser Junge bekommt Sprüche von Mao um die Ohren gehauen: „Jeder ist reaktionär. Wenn du ihn nicht schlägst, wird er nicht fallen.“ Dabei erwähnt Bei Dao wie nebenbei William Goldings Herr der Fliegen: „Sein kühnes Bild war einmal für uns bittere Realität gewesen.“ Nur am Rand wird die Drucksituation unter der totalitären Glocke deutlich. Sein Vater versteckt Bücher, die sich Bei Dao stibitzt, doch als Wohnungen durchsucht werden sollen, werden diese Bücher ‚entsorgt‘; die Anspannung, die von außen in die Individuen transportiert wird, entlädt sich bei Eltern Bei Daos in Streit. 

Dennoch deutet er an, dass die 1980er Jahre „ein weißer Korridor“ waren, 

der zwei Nächte miteinander verband. Auch wenn Zeichen von Gefahr wiederholt Schatten warfen, schien alles voller Hoffnung, bis es schließlich in eine Nacht hineinging, welche noch mehr in die Irre führte.

Bei Dao verließ im Frühjahr 1989 China und kehrte nach dem Massaker am Tiannanmen-Platz nicht mehr zurück – bis 2001, der Initialzündung für diesen spröden, aber faszinierenden Bauversuch.

Titelbild

Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking.
Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
336 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446270725

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