Einer der bedeutendsten österreichischen Dramatiker des 19. Jahrhunderts

Zum 150. Todestag von Franz Grillparzer

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Grillparzer wird heute einerseits als österreichischer Nationaldichter gefeiert, als der österreichische Klassiker schlechthin, andererseits wird sein vielseitiges Schaffen kaum noch wahrgenommen. Sein Name ist jedem Literaturfreund wahrscheinlich ein Begriff, aber die wenigsten könnten Werke von ihm nennen. Ein Grillparzer-Preis, der 1872 zu seinem 80. Geburtstag ins Leben gerufen wurde, fand nach hundert Jahren 1971 sein unrühmliches Ende. Ein neuerlicher Versuch Anfang der 1990er Jahre hatte allerdings nur eine Lebensdauer von drei Jahren. Ein Grund für seine heutige Unbekanntheit ist sicher, dass Grillparzer keiner literarischen Strömung des 19. Jahrhunderts eindeutig zuzuordnen ist, weder der Romantik noch dem Biedermeier, dem Vormärz oder dem bürgerlichen Realismus, wobei er all diese Epochen durchlebt hat. Er stand in der barocken Habsburgischen Tradition und Vorbilder waren für ihn stets die Kultur der Aufklärung und der Weimarer Klassik.

Franz Grillparzer wurde am 15. Jänner 1791 in Wien in eine bewegte Zeit geboren. Die Französische Revolution erreichte gerade ihren grausigen Höhepunkt und seine Kinder- und Jugendjahre fielen in die Napoleonische Epoche, obwohl in Österreich die Traditionen der Habsburgermonarchie noch fortlebten. Der Sohn eines zwar angesehenen, aber verschuldeten Wiener Rechtsanwaltes verlor schon früh (1809) den Vater, wodurch die Familie in finanzielle Bedrängnis geriet. Der 18jährige Franz, der ab 1807 selbst juristische Studien an der Universität Wien absolvierte, musste für die Mutter und seine drei jüngeren Brüder eine Art Vaterstelle annehmen und durch Privatstunden für den Unterhalt der Familie sorgen. Ein paar Jahre später musste er zudem die Selbstmorde der psychisch anfälligen Mutter und eines Bruders verkraften. Grillparzer selbst litt unter schweren seelischen Depressionen. Seine Selbstkritik war – auch später als erfolgreicher Dramatiker – so stark, dass er stets meinte, er sei nicht gut genug, das zu werden, was er so sehr werden wollte … ein Dichter. Ein Leben lang war er frustriert und deprimiert.

Seit 1813 arbeitete Grillparzer als unbezahlter Konzeptspraktikant in der Hofbibliothek und wurde 1823 (nach verschiedenen anderen Ämtern) Hofkonzipist in der K.-u.-k.-Allgemeinen Hofkammer. Aber die Beamtenlaufbahn, die von einer kritischen Distanz zum System Metternich geprägt war, befriedigte ihn nicht. In seiner Selbstbiographie aus dem Jahre 1853 erinnerte er sich mit Widerwillen an den Staatsdienst, an Zurücksetzung und ungerechte Behandlungen. So oft er es sich leisten konnte, entfloh er dem bedrückenden Beamtenalltag und unternahm zahlreiche Reisen, u. a. nach Griechenland und in die Türkei. Bei seiner Deutschland-Reise 1826 kam es zu mehreren Treffen mit Johann Wolfgang von Goethe. Die auf diesen Reisen gesammelten Eindrücke verliehen ihm immer wieder neuen Aufschwung für seine literarische Tätigkeit.

Seine ersten literarischen Versuche fielen bereits in seine Studienzeit. 1807 verfasste Grillparzer sein dramatisches Erstlingswerk, das Trauerspiel Blanka von Kastilien, das 1810 von seinem Onkel Joseph Sonnleithner, dem Sekretär des Hoftheaters mit der Begründung „nicht anwendbar“ abgelehnt wurde und erst 1858 die Uraufführung erlebte. Die Enttäuschung saß tief und von da an wollte Grillparzer „der Poesie, vor allem der dramatischen, für immer den Abschied … geben“ (Sämtliche Werke, Bd. 16). Neben einigen poetischen Versuchen und Fragmenten wagte er es tatsächlich erst sieben Jahre später, sein effektvolles Trauerspiel Die Ahnfrau vorzulegen. „In einer Art von Fieberrausch“ war das Stück in drei Wochen entstanden. Die Uraufführung im „Theater an der Wien“ am 31. Januar 1817 wurde zu einem Riesenerfolg, der mit den dreieinhalb Jahrzehnten zuvor aufgeführten Räubern von Schiller verglichen wurde. Euphorisch hieß es: „Es ging ein Rausch des Beifalls, aber auch des Entsetzens durch Wien“ (Emilie von Binzer). Trotz seines Protestes wurde das Stück als Schicksalstragödie aufgenommen, denn über allen Protagonisten lastet ein Verhängnis, deren Leidenschaften sich erst im Tode erfüllen. Es folgten Aufführungen in München, Dresden, Hamburg und im Burgtheater – das erschütternde Trauerspiel ging im Sturmschritt über alle deutschen Bühnen und wurde zu einem Repertoirestück des 19. Jahrhunderts.

Mit der Ahnfrau wurde Grillparzer schlagartig berühmt, er wurde zum „Schicksalsdichter“, wobei er aber selbst über diesen Ruhm eher erschrocken war. Es wird berichtet, dass er sein Erstlingswerk selbst nur ein einziges Mal vom Zuschauerraum aus angesehen hat. Mit seinem zweiten Stück Sappho wagte sich Grillparzer 1819 in die Nähe Goethes, denn es wurde häufig mit Tasso oder Iphigenie verglichen. In der Liebes- und Künstlertragödie befindet sich die griechische Dichterin Sappho, die vor allem Frau sein will, in einem Konflikt zwischen Künstlerdasein und Liebesglück und stürzt sich am Ende von einem Felsen ins Meer. Mit Sappho stieg Grillparzers Ansehen weiter und er erhielt einen Fünf-Jahres-Vertrag als K.-u.-k.-Hoftheaterdichter, den er aber bereits 1821 wieder löste.

In den 1820er Jahren feierte Grillparzer weitere Theatererfolge, u. a. mit seiner Trilogie Das goldene Vlies (1822), den Trauerspielen König Ottokars Glück und Ende (1825) – im Stil der Shakespeareschen Königsdramen – oder Ein treuer Diener seines Herrn (1830), die allesamt vom Publikum zustimmend aufgenommen wurden. Nach diesen Erfolgen als Dramatiker wurde das Liebesdrama Des Meeres und der Liebe Wellen (1831) um das antike Liebespaar Hero und Leander jedoch zu einem großen Misserfolg. Nach vier Vorstellungen wurde es bereits abgesetzt, was Grillparzers Selbstzweifel steigerte und zu tiefer Niedergeschlagenheit führte. Erst nach einer Neuinszenierung von Heinrich Laube 1851 wurde die dramatisierte Hero-und-Leander-Sage zum populärsten Stück Grillparzers und von den Kritikern als eine der ergreifendsten Liebestragödie in deutscher Sprache angesehen. Mit dem dramatischen Märchen Der Traum ein Leben (1834) feierte Grillparzer noch einmal einen Theatererfolg. Als sich jedoch mit dem Lustspiel Weh dem, der lügt! (1838) der Misserfolg wiederholte – der Wiener Adel sah sich durch das Stück verspottet –, zog sich Grillparzer vom Theater vollständig zurück.

Der äußerst sensible Grillparzer war so gekränkt, ja verbittert, dass er als 50-Jähriger aufhörte, Stücke der Öffentlichkeit zu übergeben – er schrieb nur noch für die Schreibtischschublade. Erst die kommende Generation sollte seine Stücke auf der Bühne erleben und sich daran erfreuen. In seinem Testament verfügte er sogar, seinen Nachlass, darunter die drei Altersdramen Ein Bruderzwist in Habsburg, Die Jüdin von Toledo und Libussa, die in den Jahren 1847–51 entstanden, zu vernichten. Ihre Uraufführungen fanden erst nach seinem Tod statt.

Das vielschichtige Drama Ein Bruderzwist in Habsburg ist dabei ein Symbolstück über den unausweichlichen Untergang der Habsburgermonarchie. Vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges entfaltete Grillparzer ein historisches und menschliches Panorama von der äußeren Bedrohung durch die Türken, den Glaubenskämpfen und dem Zwist zwischen den beiden Habsburgern Rudolf II. und Matthias. In der Person des zögernden und menschenscheuen Kaisers Rudolf II., eher ein weltfremder Gelehrter als ein Herrscher, ist deutlich der Autor selbst zu erkennen und damit stellt das Stück gewissermaßen ein Selbstporträt dar.

In den Jahren der selbstgewählten Einsamkeit entstand u. a. die Novelle Der arme Spielmann (1848). In der Geschichte eines ehrgeizigen, aber erfolglosen Geigers legte Grillparzer das Problem seines literarischen Schaffens offen – ausführlicher dann in seiner Selbstbiografie, die aber nur bis 1836 heranreichte und die er später durch seine Erinnerungen aus dem Jahre 1848 ergänzte. Die Ereignisse des Revolutionsjahres veranlassten Grillparzer, wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Neben einigen Gedichten vor allem mit den Schriften Dem Vaterlande und Gedanken zur Politik, in denen er die Monarchie in ihrer Vielgestaltigkeit verteidigte. Die Revolution von 1848 bedeutete für ihn nicht den Anfang einer neuen Ordnung, sondern einen Schritt auf dem Wege der Zerstörung Österreichs, was ihm den Vorwurf einbrachte, ein Reaktionär zu sein. Ausdruck dieses Zwiespaltes war auf der einen Seite seine Unterschrift unter eine Petition für Pressefreiheit und andererseits seine Ode auf Radetzky, in der er dem legendären Feldmarschall zurief: „In Deinem Lager ist Österreich“.

1856 – pünktlich mit dem 65. Lebensjahr – wurde Grillparzer pensioniert, wobei ihm der Hofratstitel verliehen wurde. 1861 wurde er von Kaiser Franz Josef auf Lebenszeit ins Herrenhaus berufen und 1864 zum Ehrenbürger von Wien ernannt. Franz Grillparzer starb unerwartet am 21. Jänner 1872 in Wien. Das Staatsbegräbnis und die Beisetzung auf dem Währinger Friedhof fanden drei Tage später unter dem Geleit von über zwanzigtausend Trauernden statt. Noch im selben Jahr wurden seine Dramen Ein Bruderzwist in Habsburg (24. September in Wien) und Die Jüdin von Toledo (21. November in Prag) uraufgeführt.

Franz Grillparzer war ein bedeutender Repräsentant des nachklassischen deutschsprachigen Theaters. Er bildete einen besonderen Dramenstil aus, der das farbenprächtige österreichische „Barocktheater“ mit volkstümlichen Elementen des Wiener Volksschauspiels und der deutschen Klassik verband. Dabei hat er auch ausländische (u. a. spanische) Einflüsse aufgenommen. Neben Johann Nestroy und Ferdinand Raimund war Franz Grillparzer der große österreichische Nationaldichter des 19. Jahrhunderts, der mit seinen Dramen und vor allem mit seinen Charakterdarstellungen auch auf spätere Dichter der Donaumonarchie, wie Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka oder Joseph Roth, gewirkt hat.

Kurzum: Franz Grillparzer war ein großer Dichter, der viel zur deutschsprachigen Literatur beigetragen hat. Seine Werke sucht man heute allerdings vergeblich im Buchhandel. Selbst sein 225. Geburtstag vor fünf Jahren war kein Anlass für die Verlage, die heutige Leserschaft mit dem Dichter bekanntzumachen. Wer sich mit Grillparzer vertraut machen will, muss entweder ein Antiquariat aufsuchen oder auf die gelben Reclam-Ausgaben zurückgreifen. In Reclams Universal-Bibliothek erschienen zumeist in den 1980er Jahren (vor vierzig Jahren!) seine wichtigsten Werke in Textausgaben – häufig mit einem Nachwort des Literaturwissenschaftlers Helmut Bachmaier versehen.

Der einzige Titel zum diesjährigen 150. Todestag von Franz Grillparzer ist eine Reclam-Neuauflage aus dem Jahre 1979 seiner Novelle Der arme Spielmann – versehen mit Anmerkungen von Helmut Bachmaier und einem Nachwort von Christian Schmitt. Obwohl Grillparzer fast ausschließlich Dramatiker war, hat er mit Der arme Spielmann eines der klassischen Werke deutscher Novellistik geschaffen – ein Status, der durch die Tatsache bestätigt wird, dass der Text immer noch in Schulen und Universitäten gelesen und diskutiert wird.

In der Rahmennovelle wird die Geschichte des Wiener Bettelmusikanten Jakob erzählt, dessen Geigenspiel mit einer vielzersprungenen Violine aber höchst dilettantisch ist und damit bei seinen Zuhörern nur auf Ablehnung stößt. Selbst dem Erzähler erscheint das groteske Gestümper als „unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie“. Der Sohn einer wohlhabenden Familie ist er auf der ganzen Linie ein Versager, der den Anforderungen der Realität nicht gewachsen ist. Er entzieht sich seiner Umwelt. Nur in seinem Geigenspiel und in der heimlichen Liebe zu dem Mädchen Barbara findet er die göttliche Offenbarung. Nach dem Tod seines Vaters wird er um sein Erbe gebracht und Barbara heiratet einen Schlachtermeister. Seitdem zieht der Spielmann als Außenseiter durch die Straßen Wiens. Jahre später trifft der Erzähler Barbara am Totenbett des Geigers. Er will die Geige als Andenken kaufen, Barbara schlägt ihm jedoch diesen Wunsch ab, da sie den Spielmann selbst nie vergessen konnte.

Ein paar Tage darauf – es war ein Sonntag – ging ich, von meiner psychologischen Neugierde getrieben, in die Wohnung des Fleischers und nahm zum Vorwande, daß ich die Geige des Alten als Andenken zu besitzen wünschte. Ich fand die Familie beisammen ohne Spur eines zurückgebliebenen besondern Eindrucks. Doch hing die Geige mit einer Art Symmetrie geordnet neben dem Spiegel und einem Kruzifix gegenüber an der Wand. Als ich mein Anliegen erklärte und einen verhältnismäßig hohen Preis anbot, schien der Mann nicht abgeneigt, ein vorteilhaftes Geschäft zu machen. Die Frau aber fuhr vom Stuhle empor und sagte: »Warum nicht gar! Die Geige gehört unserem Jakob, und auf ein paar Gulden mehr oder weniger kommt es uns nicht an!« Dabei nahm sie das Instrument von der Wand, besah es von allen Seiten, blies den Staub herab und legte es in die Schublade, die sie, wie einen Raub befürchtend, heftig zustieß und abschloß. Ihr Gesicht war dabei von mir abgewandt, so daß ich nicht sehen konnte, was etwa darauf vorging. Da nun zu gleicher Zeit die Magd mit der Suppe eintrat und der Fleischer, ohne sich durch den Besuch stören zu lassen, mit lauter Stimme sein Tischgebet anhob, in das die Kinder gellend einstimmten, wünschte ich gesegnete Mahlzeit und ging zur Türe hinaus. Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.

Grillparzer, der den klassischen Vorbildern verpflichtet war, gestaltete in der Novelle „den dauernden und quälenden Widerspruch seiner eigenen künstlerischen Existenz inmitten einer kunstfeindlichen Umwelt“ (Claus Träger, 1967). Die autobiografischen Bezüge werden vor allem in der Person des Erzählers deutlich, der sich als Dramatiker zu erkennen gibt. Darüber hinaus war für Grillparzer und seinen Protagonisten Jakob die Musik ein emotionales Grunderlebnis.

In dem Nachwort der Reclam-Ausgabe beleuchtet der Literaturwissenschaftler Christian Schmitt neben den schlüssigen Bezügen zu Grillparzers Biografie auch die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Novelle und ordnet sie in die kulturellen und medialen Kontexte ihrer Zeit ein. Er verweist darauf, dass solche „Außenseiterfiguren wie Grillparzers Spielmann in der Literatur des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit sind“. Durch sie erscheint die normale bürgerliche Welt in einem anderen, „verfremdeten Licht“. Die politischen Verhältnisse der Restauration und des Vormärz in dem habsburgischen Vielvölkerstaat werden ebenfalls aus Grillparzers Sicht symbolisch angedeutet.

Titelbild

Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. Erzählung.
Reclam Verlag, Stuttgart 2021.
90 Seiten, 3,60 EUR.
ISBN-13: 9783150140932

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