Opfer, nicht TäterInnen

Hemley Boum verwebt in ihrem Roman „Die Tage kommen und gehen“ die individuellen Schicksale dreier Kamerunerinnen mit der Geschichte ihres Landes

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur selten einmal gelangt ein literarisches Werk aus Kamerun auf den deutschsprachigen Buchmarkt. Hemley Boums Romane zählen zu den wenigen, denen dies gelingt – und sie sind eine Bereicherung. Erschien 2018 ihr Debut Les Maquisards unter dem Titel Gesang für die Verlorenen in deutscher Übertragung, so hat der Peter Hammer Verlag nun auch ihren zweiten Roman Les jours viennent et passent von Gudrun und Otto Honke übersetzen lassen. Anders als im Falle des ersten Werkes entspricht der deutsche Titel Die Tage kommen und gehen demjenigen des Originals. Vielleicht, weil es sich dabei um ein Zitat aus dem Roman handelt. Es findet sich gegen Ende des Buches in einer Ermutigung. Zwar kommt sie für diejenige, an die sie sich richtet, zu spät, kann nun aber ihre Wirkung in den Köpfen und Herzen der Lesenden entfalten.

Mit Anna, Abi und Tina stehen drei kamerunische Frauen verschiedener Generationen im Zentrum der Handlung; doch stechen zwei von ihnen deutlich hervor, während die Dritte ihnen gegenüber geradezu blass bleibt. Es sind dies Anna und Tina, die beiden Figuren, die als Ich-Erzählerinnen auftreten. Abgesehen davon, dass eine von ihnen als Zeugin in einem Verhör spricht, sind ihre Erzählweisen nicht sonderlich stark individualisiert.

Die älteste der drei Protagonistinnen, Anna, wurde 1953 in einem kamerunischen Dorf geboren und liegt zu Beginn des Romans als alte Frau sterbend in einem Pariser Krankenhaus, wo sie von ihrer Tochter Abi besucht wird. In ihren letzten Tagen erinnert sie sich noch einmal an wichtige Phasen ihres Lebens. Daran etwa, wie sie in ihrem Heimatdorf nahe Bafia (einer Stadt mit zur Handlungszeit vielleicht 20.000 Einwohnern in der Provinz Mbam-et-Inoubou ) aufwächst und als Jugendliche ein von „katholischen Ordensfrauen“ geleitetes Mädcheninternat besucht. Da sie einer ärmeren Familie entstammt als ihre Schulkameradinnen, wird sie schnell zur Außenseiterin. Während die anderen Mädchen unter sich sind, liest sie sich durch die gut bestückte Bibliothek und somit durch die Weltliteratur. Ihre zahllosen Lektüren lehren sie, dass „Autoren die Frauen hart bestrafen, die den Falschen lieben“. Sie wiederum liebt es, Romane zu lesen, „bei der die Schöpfung eines anderen sich mit [ihrem] eigenen Kosmos vermählen“, wie sie in einer wunderbaren Metapher formuliert. Scheinbar rühmt sie sich also zu Recht, dass „[d]as Wort“ ihre „Domäne“ sei, wie auch ihre Mitschülerinnen wüssten. Doch nicht immer zeigt sie sich so sprachgewandt. Geht es etwa um Sexualität, greift sie zu der geistlosen Wendung „Wir gingen an jenem Tag nicht bis zum Ende“, um auszudrücken, dass es nicht zum Geschlechtsverkehr kam; sogar geradezu unbeholfen wirkt die Formulierung: „Er in mir, schwor ich, immer auf ihn zu warten.“

In Annas Erinnerungen fließen immer wieder Reflexionen über die patriarchale Kultur ihres Landes und ihrer Volksgruppe ein, in der Polygamie und gewalttätige Ehemänner herrschen, die Ehebruch begehen und selbst noch ihre schwangeren Frauen verprügeln. Auch reale politische Entwicklungen und Ereignisse in der Geschichte Kameruns fließen immer wieder in das Geschehen ein. Louis, der junge Mann, den sie in ihrer Internatszeit kennenlernt und später heiraten wird, gehört beispielsweise der nördlich des Kamerun-Bergs im Westen des Landes lebenden Minderheit der Bamilieke an und sympathisiert mit der von der Mitte der 1950er Jahre bis 1971 aktiven Untergrundmiliz Armée nationale de Liberation du Kamerun, die zunächst gegen die französischen Kolonialherren und nach der „Ramsch-Unabhängigkeit“ von 1960 gegen die Regierung Ahmadou Babatoura Ahidjos kämpfte. Nicht lange nach der Hinrichtung ihres Anführers Ernest Ouandié brach der bewaffnete Widerstand zusammen. Doch genau in dieser Zeit will Louis sich ihmanschließen.

„Obwohl die Jungfräulichkeit“ in ihrem Dorf „nicht als heilig galt“, hat Anna merkwürdigerweise doch „verinnerlicht“, „dass meine Jungfräulichkeit kostbar war, wenn nicht gar das Kostbarste, das ich besaß“. Dennoch hat sie mit Louis erstmals Sex, bevor er sich aufmacht, um sich dem Widerstand anzuschließen – und wird sogleich schwanger. Zwar ist sie da bereits 18 Jahre alt, aber noch völlig unaufgeklärt. Denn als ihre Menstruation zwei Monate ausbleibt, und ihr die „Mutter Oberin“ daraufhin eröffnet, dass sie offenbar schwanger ist, fällt sie „ohnmächtig von meinem Stuhl“.

Anders als üblich erhält sie als herausragende Schülerin trotz ihrer Schwangerschaft das Privileg, die Schule abschließen zu dürfen. Dies eröffnet ihr die Möglichkeit, später in Bonaberi, dem westlich des Wouri gelegenen Stadtteils der größten kamerunischen Metropole Duala, als Französisch-Lehrerin zu unterrichten.

Mit wenigen Strichen skizziert die Autorin etwa die Turbulenz der alltäglichen Straßenszenen in der Zwei-Millionen-Stadt oder die Wucht, mit der die feuchte Hitze des tropischen Klimas und seiner regengeschwängerten Luft europäischen Flugreisenden nach ihrer Ankunft auf dem Aeroport International Douala den Atem raubt. Noch plastischer aber schildert die Autorin das Leben Annas und die stets zu beachtenden Traditionen und Hierarchien, die etwa in Feinheiten der Anrede zum Ausdruck kommen. Auch fließen immer wieder Informationen über das Land, die Gesellschaft, die Korruption, die Sitten und Gebräuche namentlich der Ethnien in den im Südwesten Kameruns gelegenen Regionen und eben in Bonaberi oder auch im „Armenviertel von Elobi“ ein.

Zudem werden öfter historische Personen und Ereignisse bis in die jüngste Vergangenheit hinein erwähnt, sofern sie einen Einfluss auf Annas Leben oder das der Ihren haben. Die seit 2017 in den englischsprachigen Provinzen Southwest und Northwest zunehmend virulenten Bestrebungen, die beiden Landesteile aus dem kamerunischen Staatsgebiet herauszulösen, um eine eigenständige Nation namens Ambazonia zu gründen, und die daraus resultierenden bürgerkriegsähnlichen Zustände, die bereits zahlreiche Tote forderte, spielen allerdings keine Rolle. Im Zentrum des in den letzten Jahren handelnden Teils des Romans steht vielmehr die von Boko Haram ausgehende Gefahr, denn der lange Arm der Terrororganisation aus dem Norden reicht längst bis nach Duala.

Louis’ Versuch, sich der Guerilla anzuschließen, liegt da beinahe schon ein halbes Jahrhundert zurück. Er misslang, denn da er Sohn eines Ministers ist, wurde er schon auf dem Weg in den Untergrund verraten und seine Wandlung vom idealistischen Opponenten zum korrupten Politiker nahm ihren Lauf; und mit ihr der Niedergang seiner Ehe mit Anna, die er noch vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Abi geheiratet hatte. Hinter Annas Rücken legte er sich eine Zweitfrau zu. Als Anna auf einem Familientreffen davon erfuhr, verließ sie ihn in einem furiosen Auftritt.

Nun getrennt von ihrem Mann lebend, nimmt Anna Tina, eine „Waise aus der Nachbarschaft“, deren Mutter sich im Alter von siebzehn Jahren umbrachte, unter ihre „Fittiche“. Das Mädchen war beim Suizid ihrer Mutter gerade einmal fünf Jahre alt. Auch Jenny, die etwa im gleichen Alter wie Tina ist, lebt mit ihrer Mutter bei Anna.

Die beiden Mädchen bilden zusammen mit einem muslimischen Jungen namens Ismael und Max eine kleine unzertrennliche Gruppe. Jedenfalls immer dann, wenn Max während seiner Ferien in Bonaberi ist. Denn er ist der Enkel von Anna. Seine Mutter Abi aber ist schon vor seiner Geburt nach Frankreich ausgewandert, da sie sich in den Franzosen Julien verliebt hat und ihm in dessen Heimat folgte. Abis Ehe wird nicht glücklicher als die ihrer Mutter. Im Gegenteil. Schon bald betrügt Julien sie mit einer anderen Frau, was sie ihm verzeiht. Als er jedoch Jahre später herausfindet, dass nun sie es ist, die einen – stets namenlos bleibenden –„Geliebten“ hat, verprügelt er sie brutal in aller Öffentlichkeit, beleidigt sie mit den „schlimmsten rassistischen Äußerung“ und verlässt sie und den gemeinsamen Sohn zornentbrannt.

Die Passagen aus dem Leben Abis sind zwar aus ihrer Sicht geschildert, doch tritt sie nicht wie Anna und später Tina als Ich-Erzählerin auf. Gegenüber den ausführlichen Erinnerungen Annas fallen die Schilderungen aus dem Leben Abis knapper aus. So ist kaum etwas über ihre Kindheit und Jugend in Kamerun oder ihren späteren Alltag in Frankreich zu erfahren. Ebenso wenig darüber, wie sie Julien während dessen Aufenthalt in dem zentralafrikanischen Land kennen lernte. Allein ihre Affäre mit ihrem Geliebten und ihr Trennungsschmerz, als Julian sie verlässt, werden etwas näher geschildert.

Eine weitere Perspektive kommt hinzu, wenn Max mit seiner Clique durch die Straßen Bonaberis zieht. Denn da er nach der Trennung seiner Eltern ein autoaggressives Verhalten an den Tag legte und sich selbst Schnittwunden zufügte, hat Abi ihn für ein ganzes Jahr zu seiner Großmutter geschickt. Dort bei seinen FreundInnen blüht er auf.

Nach diesem Jahr kehrt Max nach Frankreich zurück und für seine drei zurückgebliebenen GefährtInnen kommt eine fatale Entwicklung in Gang, die dazu führt, dass sie sich aus unterschiedlichen Gründen der islamistischen Terrorbande Boko Haram anschließen. Nur bei einer von ihnen spielen dabei religiöse Motive eine Rolle. Doch alle drei sind Opfer der Terrorbande, ohne je selbst zu TäterInnen zu werden. Von Duala aus werden sie in ein Camp der Bande im nigerianischen Sambisa-Wald verfrachtet, von wo aus Boko Haram Terrorakte im Norden Kameruns unternimmt.

Mit Maxens Jahr in Kamerun betritt in der zweiten Hälfte des Buches auch Tina als eine seiner drei dortigen FreundInnen die Bühne des Geschehens, ohne dass ihre Figur jedoch gegenüber den anderen beiden hervorstechen würde. Dies ändert sich erst im letzten Kapitel des Buches. Denn nun berichtet sie als überlebende Zeugin von der Rekrutierung der drei „dumme[n] Teenager“, „die ihrem Leben einen Sinn geben wollten“, dem misogynen Alltag im islamistischen Terrorcamp und dem fiktionalen Angriff auf einen belebten Markt in einer kamerunischen Grenzstadt. Ihr ebenso eindringlicher wie ergreifender Bericht bringt das Grauen insbesondere der von Boko Haram versklavten Frauen deutlich vor Augen, ohne dass die Schilderungen sich dazu in grausamen Details ergehen müssten. Es ist dies ganz zweifellos der inhaltliche und erzählerische Höhepunkt des Buches.

Am Ende des Romans symbolisiert ein gerettetes Baby Hoffnung. Aber ist es wirklich ein reines Symbol der Hoffnung? Immerhin wurde es durch die Vergewaltigung einer versklavten Frau durch einen Boko-Haram-Terroristen gezeugt.

Titelbild

Hemley Boum: Die Tage kommen und gehen.
Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2021.
376 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783779506690

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