Zahnschmerzen und Todesstimmung

Eine Mammut-Edition gibt Einblick in Patricia Highsmiths Tage- und Notizbücher

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer editorischen Großleistung hat der Diogenes-Verlag zum 100. Geburtstag von Patricia Highsmith aufhorchen lassen. Herausgegeben von Anna von Planta, und unter Mitwirkung mehrerer Übersetzerinnen und Übersetzer liegt nun endlich eine zwar nicht vollständige, aber umfangreiche Ausgabe der mehr als 50 Tage- und Notizbücher vor, die nach Highsmiths Tod 1995 in ihrem Haus gefunden wurden, und aus denen sich bereits die Biographin Joan Schenkar für ihr Buch Die talentierte Miss Highsmith bedienen konnte. Die mehr als 1.300 Seiten umfassende Edition dürfte gerade im deutschsprachigen Raum das Herz so manchen Lesers höher schlagen lassen, und wie man dem Vorwort der Herausgeberin entnehmen kann, ist die dafür aufgewendete Fleißarbeit nicht hoch genug zu schätzen. Dass Highsmith in fünf verschiedenen Sprachen Tagebuch geführt hat, zählt dabei noch zu den geringeren Herausforderungen – bei der Syntax ist sie trotzdem konsequent im Englischen geblieben, was zum Teil Übersetzungen ,über Bande‘ erforderlich gemacht hat.

Nach der Lektüre des Buchs, das zudem mit einem umfassenden bibliographischen Anhang, einer (wenn auch unvollständigen) Filmographie sowie erhellenden Kurzeinführungen in die unterschiedlichen Lebens- und Schaffensphasen von Patricia Highsmith aufwartet, kommt man der umstrittenen Autorin sehr nah, ohne dass uns die Aufzeichnungen einen wirklichen Schlüssel zu ihrem Charakter in die Hand geben würden. Ein wenig verhält es sich so wie mit Highsmiths bekanntester Schöpfung, dem talentierten Mr. Ripley, dem Highsmith über fast 40 Jahre hinweg in mehreren Büchern beim Altern, oder besser: beim Nicht-Altern, über die Schulter schaut, ohne jemals abschließend zu klären, wer dieser Mann eigentlich ist. Auch die Tagebücher lassen letztlich nur Vermutungen darüber zu, wie aus der sensiblen Idealistin eine Misanthropin wurde, zumal die Introspektion in den letzten Lebensjahrzehnten (in denen auch die Tagebucheinträge immer spärlicher werden) fast völlig in den Hintergrund tritt. Dennoch lassen sich hier Entwicklungen verfolgen, etwa ihr Aufstieg zur prominenten Schriftstellerin sowie ihre Abwendung von den Vereinigten Staaten, wo ihre Bücher auf immer weniger Interesse stoßen, die diversen Liebschaften und Wohnsitze in Europa, die zunehmende Bitterkeit. Laut Anna von Planta bedeutete persönliche Bekanntschaft mit Patricia Highsmith, die „stachelige Außenseite (öfter) ebenso wie ihre weiche Innenseite (seltener)“ zu kennen.

Dass diese Widersprüche unaufgelöst bleiben, hat mich am Ende sehr für dieses Buch eingenommen, denn auch künftig wird das Interesse an Highsmiths Romanen und Kurzgeschichten vor allem der Qualität des Werks geschuldet sein, und nicht ihrer Rolle als vermeintliche Galionsfigur für eine Bewegung. Dass die Highsmith-Bücher bis heute auf Publikumsinteresse stoßen und weiterhin verfilmt werden, liegt nicht daran, dass sie als Kult-Autorin reklamiert oder beispielsweise als Leitfigur der LGBTQ-Community in Stellung gebracht worden wäre. Das unterscheidet Highsmith u. a. von Virginia Woolf, Shirley Jackson oder – in jüngerer Vergangenheit – Sarah Waters. Verehrt werden Tom Ripley und Carol Aird, nicht aber ihre Erfinderin, die niemals zum Sprachrohr für eine Bewegung getaugt hat. Fast alle ihrer männlichen Figuren sind interessanter und differenzierter gezeichnet als die Frauen; über ihre Kleinen Geschichten für Weiberfeinde (1975) dürfte Highsmith mehr gelacht haben als ihre treuesten Fans; und auch in den Tage- und Notizbüchern finden sich einige Sätze, an denen man schwer zu schlucken hat. So deutet Highsmith die in der Revolverpresse breitgetretene Affäre von Jacqueline Kennedy mit Aristoteles Onassis als ein Symptom dafür, dass Frauen grundsätzlich von Macht und Geld angezogen werden; und als 22jährige, die längst in der lesbischen Szene von New York eine Heimat gefunden hat, ist sie sich sicher, dass Kreativität „der einzige mildernde Umstand dafür [sein kann], homosexuell zu sein“.

Möglicherweise macht man mit solchen Passagen am ehesten seinen Frieden, wenn man der Autorin eine Art Narrenfreiheit zugesteht. Highsmith stieß so gut wie alle Menschen vor den Kopf, beim Austeilen praktizierte sie also durchaus das equal opportunities-Prinzip. Nicht zuletzt aufgrund von Highsmiths Gewitztheit kann man an der vorliegenden Edition viel Freude haben. Sie verströmt den Zauber jeder großen Tagebuch-Edition, in der sich das Banale und das Profunde aufs Schönste durchmischen – „Zahnschmerzen & allgemein Todesstimmung“, wie es in einem Eintrag aus dem Jahr 1952 heißt. Chronologisch von vorne nach hinten sollte man dieses Buch freilich nicht durchschwarten. Das wäre schon aufgrund der üppigen Figurenliste ein frustrierendes Unterfangen. Zwar kann man einer Fußnote entnehmen, wer jene „Spivy“ ist, bei der Highsmith im Juli 1941 „auf einen Absacker einkehrt“, aber das hat man das dann bei Spivys nächstem (und letztem) Auftritt, mehr als 200 Seiten bzw. knapp zwei Jahre später, wieder vergessen. Schön wäre es, könnte man in diesen Aufzeichnungen blättern wie in den digitalisierten Tagebüchern von Samuel Pepys, in denen alle Namen immer mit dem nötigen Hyperlink versehen sind, der gleich zu einer Erklärung führt. Spätestens mit den vielen Marys, die sich in den 1960er-Jahren in Highsmiths Leben tummeln, fühlte ich mich jedenfalls überfordert.

Öffnet man das Buch aber an einer beliebigen Stelle, stößt man schnell auf ein Kleinod, eine pointiert formulierte Einsicht oder ein überraschendes Detail aus einer anderen Epoche. Wieviel anders? Sagen wir so: San Francisco gilt noch als „extrem konservativ“, denn „alle schwulen Leute sind wohl in L.A.“. Viel zu bestaunen gibt es v.a. in den 1940er-Jahren, in denen Highsmith erst aufs College geht und später in New York ihre ersten beruflichen Schritte als Autorin macht. Selbst ohne fertigen Roman in der Schublade diagnostiziert sie sich eine Ähnlichkeit zu Kafka, die ihr später auch alle Biographien nachgewiesen haben. Die Vierziger füllen mehr als die Hälfte des Buches, denn Highsmith notiert hier noch viel disziplinierter und regelmäßiger, vertraut den Kladden Details aus ihrem Liebesleben ebenso an wie Kinobesuche, Story-Ideen und kleinere essayistische Einlassungen. So erfährt man, dass Highsmith die Musik von Richard Wagner für „geeignet [hält], um dazu miteinander zu schlafen“, dass gute Laune sie vom Schreiben abhält, und dass James Joyce stirbt, als Highsmith gerade mit der Lektüre von Finnegans Wake begonnen hat. Über den ambitionierten und sympathisch prätentiösen Plan der gerade mal 20jährigen, sich in jedem Lebensjahrzehnt einer anderen Kunstform zu widmen, lässt sich ebenso schmunzeln wie über ihr mit 21 formuliertes Vorhaben, demnächst die ,Great American Novel‘ abzuliefern: „lang und breit und tief und hoch“.

Allen, die Highsmith vor allem als pampige alte Schachtel zu kennen meinen, sei eine eingehende Lektüre dieser Sturm- und Drangjahre ans Herz gelegt, denn hier sucht nicht nur eine empfindsame und äußerst hellsichtige junge Frau ihren Platz in der Welt, sie setzt auch einige famose Pointen. Darüber, wie Highsmith den frommen Brave-Mädchen-Schlager „Let’s Go to Church on Sunday“ weiterdichtet, so dass auch Sex und Abtreibung drin vorkommen, habe ich ebenso laut gelacht wie über ihre an Kevin allein zu Haus erinnernde Liste von Todesfallen, die jedes Kind daheim basteln kann. Und mag die Beziehung zu ihrer Mutter auch (vorsichtig ausgedrückt) kompliziert gewesen sein, Mary Coates Highsmith war immerhin für den schönen Satz gut, ihre Tochter sei keine Kommunistin, sondern besitze lediglich „eine rosa Zahnbürste“.

Die späteren Lebensjahre nehmen dann deutlich weniger Raum ein, protzen dafür aber mit prominenten Gastauftritten. Highsmith korrespondiert mit Wim Wenders, besucht Peter Ustinov und sichert sich über Loriot Karten für die Bayreuther Festspiele. Als intellektuelles Who’s Who der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man die Tage- und Notizbücher im Übrigen auch gewinnbringend parallel bzw. im Dialog mit anderen Veröffentlichungen lesen. Im Hybriden Verlag ist eben posthum Ein letztes Interview mit der Künstlerin Tabea Blumenschein herausgekommen, die mit Highsmith befreundet war und im Gespräch der „alten Frau“ mit den „zwanzig Katzen“ gedenkt; hier liest man nun – Schuss und Gegenschuss – Highsmiths Einschätzung von Blumenschein als „eine verrückte Motte, die um eine Glühbirne herumschwirrt“. Dass die Autorin sogar einmal träumt, ihre deutsche Freundin werde von ihrer Mutter enthauptet, das kriegt man nicht mal bei Kafka geboten.

Titelbild

Patricia Highsmith: Tage- und Notizbücher.
Hg. von Anna von Planta.
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, pociao, Anna-Nina Kroll, Marion Hertle und Peter Torberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2021.
1392 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071474

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