Nordisches Mittelalter und Ideologie(n)

Der Tagungsband „Old Norse Myths as Political Ideologies“ zeigt Perspektiven und (eigene) blinde Flecken in der Rezeption altnordischer Überlieferung auf

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des vorliegenden Tagungsbandes gibt eine klare Richtung vor: Es soll um Gebrauch und mehr noch Missbrauch altnordischer Mythologie in politisch-ideologischen Kontexten gehen. Der Untertitel weicht diese Vorgabe mit der Rede von einer Appropriation of Medieval Narratives zwar ein wenig auf, die grundsätzliche Aufgabe aber ist gestellt und als solche ja auch nicht neu. Tatsächlich verlaufen sich die Aufsätze dann allerdings in verschiedene Richtungen. Jeder Beitrag hat für sich genommen etwas zu sagen, steht aber oft recht allein da und ist bisweilen nicht einmal erkennbar mit dem angestrebten Kernthema des Buches verknüpft.

Elf Aufsätze sind neben der Einleitung versammelt und sehr grob in die Kategorien „Medieval Uses“, „Scholarly Uses“ und „Old Norse Myths in Popular Culture“ unterteilt. Das kurze einleitende Kapitel kann angesichts von Umfang und Komplexität der Thematik nur wenige Akzente setzen. Mancher Einschätzung der Herausgeber Nicolas Meylan und Lukas Rösli stimmt man rasch zu, dann wieder erscheint ihr Blick befremdlich verkürzend bis verzerrt: Ausgerechnet die zweite Auflage des internationalen Standardwerks Reallexikon der Germanischen Altertumskunde als Paradebeispiel für eine unkritische Rezeption des Germanenbegriffs zu nennen, wird weder dessen 40-jähriger Entstehungsgeschichte gerecht, noch der Tatsache, dass gerade die Frage nach einem ‚Germanischen‘ seit Jahrzehnten in einer Vielzahl an Ergänzungsbänden zum Reallexikon kritisch erörtert wird – so etwa 2021 vom früheren Mitherausgeber Heiko Steuer auf rund 1600 Seiten. Dass Meylan und Rösli hier allein auf die Nazi-Vergangenheit des (an der Realisierung des Lexikons gar nicht mehr aktiv beteiligten) Archäologen Herbert Jankuhn in den 1960er-Jahren verweisen, ist eine irritierende Verzerrung. Klar wird: Die übergeordnete Fragestellung harrt in vielen Dingen der eingehenderen Auseinandersetzung, und dabei gilt es offensichtlich auch, Un- und Missverständnisse im Fachbereich selbst auszuräumen.

Der gesetzte Anspruch wird im vorliegenden Buch aber nur in Teilen erfüllt. Das liegt, wie angedeutet, vor allem daran, dass viele Beiträge Einzelbetrachtungen bleiben, deren Aneinanderreihung keine eigentliche Summe ergibt. So mag es verwundern, dass die erste Sektion zu „Medieval Uses“ nur aus einem einzigen Aufsatz besteht: Anhand einer Betrachtung ausgewählter Passagen der mittelalterlichen Prosa-Edda kommt Richard Cole zu dem nicht unerwarteten Fazit, dass eine ideologiefreie Betrachtung unmöglich ist, im Mittelalter genauso wie heute. Der Aufsatz stellt im gegebenen Zusammenhang weniger einen eigentlichen Beitrag zum Titelthema dar als vielmehr eine Ergänzung zur Einleitung, in der auf diese Edda wiederholt verwiesen wird.

Es schließen sich vier Beiträge zur historischen Dimension der Forschung an, einsetzend im 19. Jahrhundert mit Fokus auf den Brüdern Grimm, um sich dann zwei Einzelbeispielen des 20. Jahrhunderts zu widmen. Drei Verfasserinnen gehören dem sogenannten ‚Nachwuchs‘ an (wenn man diesen Begriff verwenden will) und ihr Interesse ist begrüßenswert. Damit ist freilich auch gesagt, dass nicht alles in diesen Beiträgen auf eigener Forschung beruht, sondern zum Teil recht deskriptiver Natur ist. Völlig heraus fällt der vierte Beitrag dieser Sektion, in dem Margaret Clunies Ross – die als seit 2009 emeritierte Professorin am anderen Ende der wissenschaftlichen Laufbahn steht – einige Herausforderungen und Chancen interdisziplinärer Forschung reflektiert, konkret von Philologie und Archäologie. Diese Problematik ist seit Jahrzehnten bekannt (und unter anderem im genannten Reallexikon bis heute umfassend behandelt), aber weiterhin nicht einfach gelöst. Insofern stimmt man Clunies Rossʼ neuerlicher Erinnerung gerne zu, doch ein Bezug zu „Political Ideologies“ ist allenfalls zwischen den Zeilen herauszulesen.

Mit sechs Beiträgen ist die dritte Sektion zu „Popular Culture“ die umfangreichste. Horst Junginger, ausgewiesener Fachmann in der Thematik, leitet ein mit einer Reflexion zur religiösen und gesellschaftlichen, letztlich also psychologischen Bedeutung von Mythen: In einem Bogen vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert zeigt er überzeugend auf, wie Mythen gleichsam wissenschaftliche Immunität aufweisen, sich also durch intellektuelle Kritik nicht einfach entkräften lassen – ein Umstand, der, weitergedacht, gerade in aktueller Zeit mehr Beachtung verdienen würde.

Die folgenden Aufsätze legen ihren räumlichen Schwerpunkt auf Schweden, Russland und die USA (zu Mitteleuropa findet sich im Buch wenig) und befassen sich mit den Themenkomplexen Neuheidentum, Rechtsextremismus sowie Adaptionen in Film, Fernsehen und Videospielen. Zu jedem dieser Themen gibt es mittlerweile eine kaum noch überschaubare Anzahl an Studien, sodass die hier versammelten Beiträge weniger Neuland betreten, als vielmehr bestehende Thesen erweitern oder präzisieren. So gesehen ergeben diese Aufsätze aber eine gewisse Einheit, ohne dass die Frage nach der Adaption nordischer Mythologie überall im Zentrum stehen würde. Vor allem auf deren politische Dimension geht Verena Höfig im vorletzten Beitrag ein: Anhand einer Vielzahl von Online-Meldungen der letzten Jahre zeigt sie auf, wie rechtsextreme Gruppen in den USA anhand altnordischer Überlieferung ihre verqueren Weltbilder konstruiert haben, zumal diese Bewegungen in den von rassistischen Äußerungen geprägten Regierungsjahren Donald Trumps nennenswerten Zulauf erhalten zu haben scheinen. In eine ähnliche Richtung geht schließlich Merrill Kaplan, die aufzeigt, wie die Idee eines wikingischen Vínlands in Nordamerika von Rechtsextremen als Untermauerung rassistisch-politischer Forderungen etabliert worden ist; dabei hebt die Verfasserin ihre eigene Betroffenheit hervor, was dem Beitrag eine bemerkenswert persönliche Note verleiht.

Das Buch entsprang einer Tagung in der Schweiz im Herbst 2017, und wie so viele Tagungsbände ist das finale Ergebnis nicht aus einem Guss, sondern eher ein Mosaik. Das hat seine Berechtigung, da sich die Beiträger auch in unterschiedlichen Stadien ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit befinden. Angesichts dieser fehlenden Homogenität – die, wie gesagt, auch eine Stärke sein kann – hätte man sich allerdings einen anderen Titel und auch eine andere Schwerpunktsetzung der Einleitung gewünscht: Bereits auf der ersten Seite des einführenden Kapitels und dort dann wiederholt werden mit der Prosa-Edda und der Liederedda die zwei zentralen mythologischen Werke des mittelalterlichen Nordens ins Zentrum gestellt und wird damit der Buchtitel konkretisiert. In den folgenden Beiträgen setzt dann aber jeder Verfasser eigene inhaltliche, räumliche und zeitliche Schwerpunkte, womit der Bezug zu diesem Titelthema immer wieder vage bleibt.

Der eingangs im Buch formulierte Vorwurf, völkische Ideologie habe in der Forschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfahren, hat ebenso seine Berechtigung wie die (seit Jahrzehnten geäußerte) Kritik, Fachvertreter seien an ihrer eigenen Fachvergangenheit wenig interessiert – hier bleibt noch viel zu tun. Allerdings findet eben bei Weitem nicht alles, was die internationale Forschung in dieser Richtung bereits unternommen hat, im vorliegenden Buch überhaupt Erwähnung, und manche Behauptung zeugt von fehlendem Über- beziehungsweise Einblick. Auch hier steht also Arbeit aus, die Aufgabe nämlich, auf den populistischen, nationalistischen und rassistischen Missbrauch des (nordischen) Mittelalters geschlossen zu reagieren – nicht als Einzelperson oder kleine Arbeitsgruppe, die stets nur einen begrenzten Ausschnitt sinnvoll erfassen können, sondern als grenzüberschreitende, gesellschaftlich relevante Fachgemeinschaft.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Lukas Rösli / Nicolas Meylan (Hg.): Old Norse Myths as Political Ideologies. Critical Studies in the Appropriation of Medieval Narratives.
Brepols Publishers NV, Turnhout (Belgium) 2020.
260 Seiten, 75,00 EUR.
ISBN-13: 9782503588216

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