Manchmal muss man einfach verduften
Ein Sammelband, herausgegeben von Sebastian Bernhardt, beleuchtet das Motiv des „Ausreißens in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur“ aus literaturwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAusreißen, Durchbrennen, Flüchten, Verduften – es gibt zahlreiche Bezeichnungen für das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche aus ihrem bisherigen Leben ausbrechen und sich ohne Erlaubnis aus der elterlichen bzw. familiären Obhut begeben, respektive die Schulpflicht durch Schulabsentismus verweigern. Im Deutschunterricht spielen entsprechende literarische Texte durchaus eine erkennbare Rolle, wie man exemplarisch an der in vielen Lehrplänen und schulinternen Curricula deutlich werdenden Stellung von Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschick (2010) ablesen kann. Literaturwissenschaftliche oder didaktische Studien zu Themen wie Flucht, Vertreibung und Reisen haben Konjunktur – nicht zuletzt in der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Jedoch fehlen bislang wissenschaftliche Studien zur Ausreißer-Thematik in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur (KJL), was nun ein von Sebastian Bernhardt herausgegebener Sammelband zu ändern intendiert.
In einer sachlich versierten Einleitung beschreibt der Herausgeber die Vielfalt des Ausreißens – sowohl in räumlicher als auch in gedanklicher Hinsicht. Die ältere Forschung habe vor allem die Aspekte des (Ver-)Reisens in Form des räumlichen Entfernens und die Normalität des Phänomens als Teil des Erwachsenwerdens betont. Hingegen konstatiert Sebastian Bernhardt, dass „das Ausreißen drastischer und mit einem Endgültigkeitsanspruch belegt“ sei, was vor allem die Genese des Ausreißer-Motivs in der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1970er Jahre nahelege. Die Thematik ist von der problemorientierten KJL aufgegriffen und ausgestaltet worden. Zerrüttete Familienverhältnisse, Generationen- und Erziehungskonflikte, Sozialkritik und Protest seien mit dem Ausreißen verbunden und führten dazu, dass sich in der Gegenwartsliteratur die Gründe für entsprechende Handlungen diversifizierten und das Thema in der Kinderliteratur auch auf jüngere Protagonisten ausgedehnt wurde. Insoweit ist es das Anliegen des Bandes, neueste Texte der Gegenwartsliteratur auf die Darstellung und Motivation des Ausreißens hin zu analysieren und didaktisch zu kommentieren. Gerade in dieser Hinsicht bietet die Ausreißer-Thematik vielfältige Ansatzpunkte, was auf motivationaler und identitätsbildender Ebene, aber auch für Prozesse des Erwerbs literarischer Kompetenzen im Unterricht produktiv genutzt werden kann. Eine Gefahr benennt Bernhardt in zutreffender Weise: Es müsse darauf geachtet werden, entsprechende literarische Texte „nicht in einem bewahrpädagogischen Sinne als erzieherische Instrumente“ reduktionistisch zu verwenden.
Die 17 Beiträge des Bandes sind nach Altersstufen des schulischen Einsatzes geordnet und behandeln neben klassischen Romanen auch Bilderbücher und eine TV-/Streaming-Serie. Der Aufbau der Aufsätze ist systematisch aufeinander abgestimmt, nach Vorstellung des jeweiligen Plots mit einer pointierten Inhaltsangabe sowie einem knappen thematisch-didaktischen Aufriss erfolgt eine literaturwissenschaftliche Analyse, sodann die Beschreibung didaktischer Perspektiven und zuletzt eine didaktisch-methodische Konkretisierung mit unterrichtlichen Anregungen und kommentierten Aufgabenstellungen. Für Lehrkräfte enthält der Sammelband somit eine Fülle an zu entdeckenden Neuerscheinungen und Unterrichtsanregungen.
Interessant ist der Sammelband an erster Stelle wegen der Mehrfachadressierung, eröffnen die behandelten Bücher doch Einsatzmöglichkeiten von der Grundschule bis zur gymnasialen Oberstufe. In Umsetzung der Intention, Ausreißer-Motive und -Themen breit zu eruieren, werden etwa explizit für die Primarstufe Peter Sís` Bilderbuch Robinson, 2019 in einer deutschsprachigen Ausgabe erschienen, Pija Lindenbaums Bilderbuch Greta haut ab, 2017 erschienen, sowie der mehrfach preisgekrönte Kinderroman Kannawoniwasein. Manchmal muss man einfach verduften (2018) von Martin Muser intensiv betrachtet. Die Vielfalt der Zugänge und die thematische Differenziertheit des Ausreißens werden bereits anhand dieser vier Texte deutlich: Die beiden genannten Bilderbücher werden von der Frankfurter Deutschdidaktikerin Lea Grimm und der an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd tätigen Didaktikerin Eva-Maria Dichtl aus ganz unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. Während Grimm den Fokus auf die ästhetische Ausgestaltung und die Intertextualität des Ausreißer-Motivs im Bilderbuch legt, liegt Dichtls Beitrag eine fundierte Bilderbuchanalyse zugrunde.
Für den Übergang in die weiterführende Schule werden der 2019 erstmals auf Deutsch veröffentlichte Kinderroman Unterwegs mit Kaninchen von Benjamin Tienti genauer vorgestellt und kompetenzorientiert didaktisiert, ferner Katherine Rundells Zuhause redet das Gras (2011 erschienen, seit 2015 in einer deutschsprachigen Ausgabe verfügbar) und Sabine Bohlmanns Wie ich Fräulein Luise entführte (2016). Wenngleich die Ausreißer-Motivik unterschiedlich entfaltet ist, zeigt sich doch die Bedeutung der Figurengestaltung und deren unterschiedliche Bearbeitung zur Generierung von Figurencharakterisierungskompetenz, des Weiteren die Durchdringung metaphorischer Bedeutungselemente. Zahlreiche Vorschläge mit sinnvollen und plausiblen Textvorschlägen werden auch für die Sekundarstufe I bzw. die Mittelstufe vorgelegt, etwas Antonia Michaels Tankstellenchips von 2018 oder Elisabeths Etz‘ Roman Morgen ist woanders, 2019 erschienen. Explizit betrachtet für den Einsatz in der Oberstufe wird etwa Sarah Crossans Roman Eins, der die Beschreibung eines besonderen „Road Trips“ enthält und für „einen kulturwissenschaftlich orientierten, diversitätssensiblen Literaturunterricht“ als geeignet gehalten wird, wie die Kölner Didaktikerin Judith Leiß prägnant herausstellt:
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die beiden Zwillingsschwestern Grace und Tippi. Die beiden sind sogenannte ‚siamesische‘ Zwillinge, an der Hüfte miteinander verbunden. […] Doch nur wenige Wochen nach Schulbeginn bekommt Grace massive Herzprobleme, sodass das Leben beider Zwillinge akut bedroht ist. Eine operative Trennung ist die einzige Chance auf Überleben […] Bevor die Vorbereitungen auf die Operation beginnen, unternehmen die Zwillinge […] einen ‚Road Trip‘ […]. Ihre Reise bringt die Zwillinge an fremde Orte, sie ermöglicht neue soziale Konstellationen und konfrontiert sie mit unbekannten Situationen.
An zweiter Stelle belegt der Sammelband die Vielfalt des Ausreißens als Motiv, wodurch für schulische Lernsituationen differenzierte Zugänge und Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden. Ausreißen steht in vielfältigen Zusammenhängen wie etwa Mobbing als Initiator, Grenzüberschreitung als Motivation, Heldenreise und dramatischen Abenteuern als Konsequenz sowie Erfahrung mit Fremdheit respektive Neuorientierung als Teil von Erlebnissen. Insoweit können die vorgestellten Texte dem Vorschub leisten, was in der Literaturdidaktik oftmals unter dem Konzept des Probehandelns diskutiert wird: Gerade road-movie-artige Romane und Heldenreisen bieten für Schülerinnen und Schüler das „Potenzial, in Gedanken selbst eine solche Reise zu vollziehen“. Dadurch, dass die Beiträge den ‚Gestaltungsraum Deutschunterricht‘ durch kompetenzorientierte und mediengestützte Unterrichtskonzeptionen sowie interkulturelle, intermediale bzw. intertextuelle Zugangsweisen und Methoden erschließen, zeigt der Sammelband die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten entsprechender Texte und Medien, die auch zu „einer Schärfung der genauen Wahrnehmung der Gestaltung einladen“.
Der als erster Band der neuen Schriftenreihe Kinder- und Jugendliteratur. Themen – Ästhetik – Didaktik erschienene Sammelband beleuchtet das Ausreißen als bislang in der Forschung unterrepräsentiertes literarisches Thema und Motiv in wegweisender Art und Weise. Klar gegliedert, systematisch angelegt, ansprechend illustriert und mit vielen aktuellen literarischen Texten wird ersichtlich, dass Ausreißen sowohl mit räumlichen Dimensionen literarisch dargestellt werden kann, aber auch rein mental inszeniert werden kann als Flucht in Gedanken. Ausreißen wird so zu einem vielschichtigen Motiv, das noch bewusster und reflektierter im Deutschunterricht thematisiert werden sollte, wozu der Sammelband vielfältige Impulse anbietet. Insgesamt ermöglichen die fachlich überzeugenden Beiträge des Bandes einen profunden und vielschichtigen Einblick in die zeitgenössischen Facetten der Ausreißer-Thematik mit dem Potenzial, wünschenswerte neue Forschungs- und Unterrichtsprojekte im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zu initiieren.
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