Vieles ist getan, etliches bleibt zu tun

Die Präsidentin der Heinrich Mann-Gesellschaft Ariane Martin legt Grund zu einer historisch-kritischen Ausgabe des Romans „Der Untertan“

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band versteht sich als Prolegomena zu einer zukünftigen historisch-kritischen Ausgabe von Heinrich Manns Roman Der Untertan, indem er das bisherige Wissen über die Textzeugen und die in ihnen vergegenständlichte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte bündelt und durch neue Forschungsergebnisse erweitert. 

So die Autorin in ihrer Einleitung. Es gehe darum, über jenen durch aufgefundene „ungedruckte und gedruckte Textzeugen“ (u. a. Notizbuch C, „weitere Vorabdrucke aus dem Roman“, Kontextmaterial) entstandenen „Wissenszuwachs“ zu informieren, der sich seit den Studien von Kirsch / Schmidt (1960), Schneider (Studienausgabe des Untertan; 1991) und Sprengel (1992) ergeben habe, und dergestalt „zu rekonstruieren, wie die textgenetische Schichtung sich anhand der Sichtung der Textzeugen […] überhaupt darstellt.“ 

Der mit der Einleitung anhebende erste von drei Teilen der Studie untergliedert sich weiter in neun sprechend betitelte, äußerst materialreiche und in Darstellung wie Kommentierung vorzügliche Kapitel, die von Eckdaten 1906, 1912, 1914, 1918 bis hin zu Die öffentliche Buchausgabe von 1918 reichen.

Eckdaten diskutiert u. a. rückblickende Mitteilungen Heinrich Manns über die Entstehung des Untertan. Belegt wird, dass diese „zu ungenau sind, um die komplexe Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Romans adäquat nachzuvollziehen.“ Entgegen einer Aussage Manns müsse der „Beginn der Niederschrift des Romans deutlich vor 1912 angenommen werden.“

Quellen und Werk eines ‚être collectif‘ unterstreicht einmal mehr, dass Wilhelm Schröders Broschüre Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Äußerungen Wilhelm II. die „Hauptquelle“ für alle „im Roman zitierten Kaiserworte“ ist. Darüber hinaus habe Mann aber „eine Fülle“ zum Teil noch nicht identifizierter weiterer Quellen im Roman verarbeitet. Diese Quellen seien „von den Textsorten her äußerst disparat“ – „Buchpublikationen“, „diverse Presseartikel“, „alltagskulturelle Versatzstücke der Kaiserzeit“, „Bildmedien“, „außerdem briefliche Berichte von Freunden und Bekannten sowie aus der Familie.“ Namentlich genannt und in ihrem Beitrag zum ‚être collectif‘ Der Untertan gewürdigt werden neben dem Bruder Thomas u. a. Maximilian Brantl, Ludwig Ewers, Wilhelm Herzog, Waldemar Bonsels, Rudolf Schmied und Inés Schmied.

Die vergeblichen Versuche Heinrich Manns seit Ende 1903, einen „Roman um den Kaiser herum“ zu entwerfen, werden in  Vorgeschichte: Ein ‚Roman um den Kaiser herum‘ nachzeichnet. Über das Zusammentragen von Quellen wie Paul Limans Buch Der Kaiser. Ein Charakterbild Wilhelms II. (1904) sei er aber nicht hinausgekommen, habe sich vielmehr zunächst anderen Projekten – Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen (1905) – gewidmet. Erst bei einem zweimonatigen Kuraufenthalt in Jungborn („im Eckertal bei Stapelburg im Harz“) 1906 sei ihm dann – angeregt durch die politische Publizistik Maximilian Hardens und dessen „Verfahren, Zitate Wilhelms II. in die eigenen Ausführungen gegen dessen Politik einzubinden“ – die „zündende[] Idee“, der „Genieblitz“ (Siegfried Schmitz) gekommen, von einem „Gleichungsexempel Untertan-Kaiser“, von der „Identität von Kaiser und Untertan als Identität der Mimik und Rhetorik“ (Peter Sprengel) auszugehen und keinen Roman mehr über den Kaiser zu schreiben, sondern einen „über dessen Untertan“ bzw. über eine im Kaiserreich „dominante Mentalität“.

Das Kapitel Der Simplicissimus und die Teilvorabdrucke weist zunächst auf die vier Vorabdrucke aus dem Untertan im Simplicissimus zwischen 27. November 1911 und 9. September 1912, auf Reaktionen darauf sowie auf die Parallelen hin, die dann Ende 1918 Anfang 1919 in frühen Besprechungen des Untertan vor allem aus konservativer Eckezwischen diesem Roman und der satirischen Zeitschrift gezogen wurden. Dann werden weitere Vorabdrucke in Licht und Schatten, Pester Lloyd, Rigasche Rundschau, März und Die Zeit (Wiener Tageszeitung) thematisiert. Insbesondere die „politisch brisanten Texte[]“ Der Krawall und Der Fall Lück, „die auf historische Ereignisse der 1890er Jahre Bezug nehmen“ – Arbeitslosenunruhen 1892, Erschießung eines Arbeiters 1892 durch den Grenadier Heinrich Lück – und die Wilhelm II. „in ein kritisches Licht setzen“, hätten Wirkung und „Anstoß“ erregt. Hier seien aber noch „weitere Recherchen“ erforderlich, „wer wo welche Einwände formulierte“.

Dass die (etwas weitschweifig) porträtierte, „im Geist der Lebensreform“ agierende und „widersprüchliche“, doch zentrale „Zeiterscheinungen“ vereinigende Kuranstalt „Jungborn“ „für den entstehenden Roman in mehrfacher Hinsicht – konzeptionell, gegenständlich und als kulturgeschichtlicher Kontext – von besonderer Bedeutung ist“, wird in ‚Jungborn‘ detailliert herausgearbeitet: „Die Realität präfiguriert die Fiktion.“

Lesungen aus dem unveröffentlichten Roman unterstreicht, dass diverse, z. T. von der Presse (Berliner Tagblatt, Berliner Börsen-Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten) besprochene Lesungen Heinrich Manns (u. a. 6. November 1911 im Künstlerhaus in Dresden, 28. Januar 1913 in der Buchhandlung Reuß & Pollack in Berlin, 12. Dezember 1913 in der Galerie Caspari in München, 12. Dezember 1916 auf einer privaten Veranstaltung bei Erik-Ernst Schwabach in Berlin) aus dem unveröffentlichten, im Entstehen begriffenen Roman zu jenen hervorzuhebenden „Ereignisse[n]“ zählen, die auf diese Entstehung selbst eingewirkt haben. Doch seien auch Lesungen jener Texte zu berücksichtigen, die zwar zum „Gesamtkomplex des entstehenden Romans“ gehören, jedoch wie die Novelle Gretchen aus dem „Erzählprojekt […] ausgeschieden“ und separat publiziert wurden. Einlässlich werden von daher diese Lesungen und deren öffentliche wie private Rezeption vorgestellt und diskutiert.

„Heinrich Manns Roman Der Untertan war über zehn Jahre hinweg ein ‚work in progress‘“, so das Kapitel Gesamtvorabdruck in Zeit im Bild und ‚work in progress‘ zu Beginn. Ende 1906 sei das Konzept fertig gewesen. Zum 1. April 1907 dann habe eine zweite Arbeitsphase begonnen, die „[g]ut zwei Monate später“ zum Beginn einer „ersten“, wohl 1910 abgeschlossenen, doch nicht überlieferten Niederschrift des Untertan geführt habe.

Einen Neuanfang stelle die zweite, im Sommer oder Herbst 1911 begonnene Niederschrift dar, jenes Mann neben „Spaß beim Schreiben“ auch mit „bitteren Empfindungen“ konfrontierende, als Handschrift überlieferte „Romangesamtmanuskript“, das im Sommer 1913 wohl „etwa zur Hälfte weitgehend fertig“ gewesen und erst unmittelbar vor Kriegsbeginn am 26. Juli 1914 wirklich abgeschlossen worden sei – die ersten sieben Monate des Jahres 1914 habe Mann noch für Um- und Überarbeitungen einer am 9. Dezember 1913 abgeschlossenen ‚Rohfassung‘ genutzt.

Nach gescheiterten Verhandlungen mit dem Berliner Tageblatt habe am 1. Januar 1914 ein Vorabdruck dieses „Romangesamtmanuskripts“ in „Fortsetzungsfolgen“ „in der Münchner illustrierten Wochenzeitung Zeit im Bild (gleichzeitig ein anderer in russischer Übersetzung in der Sankt Petersburger Zeitschrift Sowremennij Mir – übersetzt: Moderne Welt)“ begonnen. Ausführlich informiert Martin über den entsprechenden Vertragsabschluss und diverse damit verbundene Unbill für den Autor. Herausgearbeitet wird anhand von Briefmaterial auch, dass der Abbruch des Fortsetzungsabdrucks „mitten im Kapitel VI“ am 13. August 1914 nicht, wie gemeinhin angenommen, durch ein Verbot der Zensur bewirkt wurde. Vielmehr habe es sich bei diesem Abbruch „um eine Initiative der Redaktion von Zeit im Bild“ gehandelt, „die in einem Akt vorauseilenden Gehorsams aus Opportunismus dem Zeitgeist gegenüber den Untertan nicht weiter in ihrem Blatt abgedruckt sehen wollte.“

Über positive (u. a. Friedrich Markus Huebner, Ludwig Rubiner, René Schickele, Max Hermann-Neiße, Curt Moreck) wie negative (u. a. Rudolf John, Hans Baas, Otto Flake) Reaktionen auf den Vorabdruck in Zeit im Bild bis ins Jahr 1918 hinein informiert das Kapitel Rezeption der Veröffentlichung in Zeit im Bild. Es habe zwar eine private wie öffentliche, auf den Untertan als „politische[n] Roman“ abhebende Resonanz gegeben, doch habe diese „bei weitem nicht an die der Buchausgabe nach dem Krieg“ herangereicht.

Das Kapitel Die öffentliche Buchausgabe von 1918 beschließt den ersten Teil der Studie. Hinweise auf den Verlagswechsel Heinrich Manns von Paul Cassirer zu Kurt Wolff und den von diesem veranstalteten Privatdruck des Untertan Anfang 1916 „als Teil“ des gemeinsam mit Mann entwickelten „Publikationskonzepts“ leiten zur Buchausgabe des Romans vom 30. November 1918 über.

Als „satirischer Abgesang auf das Kaiserreich unter Wilhelm II.“ sei Der Untertan „das Buch der Stunde“ gewesen, ein „Massenerfolg“, wie vor Jahrzehnten schon Renate Werner bemerkte. „Die überwältigende Rezeption“ dieser Buchausgabe „mit den zahlreichen Rezensionen pro und contra“ sei „ein weites Feld“, so Ariane Martin, das „gesonderter“, für die Entstehungsgeschichte nur mittelbar bedeutsamer „Erörterung“ bedürfe. Für die pro-Seite lasse sich generalisierend sagen, dass Heinrich Mann mit dem Untertan als „Prophet“ wahrgenommen worden sei, der „den Krieg und den Untergang des wilhelminischen Kaiserreichs vorausgesagt habe“.

Derzeit sei der Roman „in zwei neueren Editionen greifbar“ – die von Ariane Martin bei S. Fischer herausgegebene Jubiläumsausgabe (2021) nach Peter-Paul Schneiders Studienausgabe (1991), die wiederum „der zweiten Auflage (1967) der von Sigrid Anger betreuten Ausgabe im Aufbau-Verlag folgt, und die von Werner Bellmann herausgegebene Ausgabe im Reclam-Verlag (2021), die die „öffentliche Buchausgabe von 1918“ zur „Textgrundlage“ hat –, „die beide als zuverlässig gelten dürfen, gleichwohl [sie] im Wortlaut nicht identisch sind.“ Das mache einmal mehr deutlich, dass eine „historisch-kritische Ausgabe des Jahrhundertromans […] zweifellos ein Desiderat“ sei. Derzeit sei eine solche Ausgabe allerdings „ein nicht zu leistendes Großprojekt“ – Ariane Martin beschließt diesen ersten Teil, indem sie die in diesem Zusammenhang zu leistenden Aufgaben kurz umreißt.

Der zweite Teil der Studie listet zunächst einmal chronologisch jene 42, den Zeitraum 1906 (Notizbuch A) bis 1918 (Druckvariante der Buchausgabe Der Untertan. Achtes bis dreiundfünfzigstes Tausend. Leipzig, Wien: Kurt Wolff Verlag) umfassenden „handschriftliche[n], getippte[n] und gedruckte[n] Überlieferungszeugen“ auf, die „nach derzeitigem Kenntnisstand mit Blick auf eine historisch-kritische Ausgabe des Romans Der Untertan zu berücksichtigen“ wären.

Im Anschluss werden diese „Überlieferungszeugen“ wo möglich u. a. nach Stand- bzw. Publikationsort, Datierung, Blatt- und Seitenanzahl, Papierart und -format, Schreibutensil, Handlungselementen des Romans und sonstigem Inhalt, Bezügen innerhalb des bzw. der „Überlieferungszeugen“, Roman- und sonstigem Werkekontext, Wissens- bzw. Forschungsmodifikation und -inspiration sowie „Status“ (u. a. „Vorarbeiten“, „Parallelarbeit“, „Fassung“, „Teilfassung“) akribisch vorgestellt und kommentiert. Fußnoten stellen u. a. weiterführende Bezüge her. Dem Umfang nach knappere „Überlieferungszeugen“ (bspw. Einzelblätter) werden dem Wortlaut wie dem Erscheinungsbild nach wiedergegeben.

Den Band beschließt ein Anhang von hohem Gebrauchs- und Forschungswert. Der nämlich enthält neben einem Siglenverzeichnis und mehreren Registern (Personen, Werke Heinrich Manns, Zeitungen und Zeitschriften) auch neun ausgesprochen aufschlussreiche, kenntnisreich kommentierte und nach überzeugenden Richtlinien edierte Briefe der knapp biographierten russischen Übersetzerin des Untertan Adele Polozsky-Wolin an Heinrich Mann – „[e]inen wesentlichen Bereich der Textgeschichte des Untertan“ mache ja, so Martin zu Recht, „die russische Übersetzung des Romans aus, der im zaristischen Russland 1914 als Vorabdruck […] und 1915 als erste Buchausgabe […] erschienen ist“. 

Will man überhaupt etwas an der auch darin vorzüglichen Studie kritisieren, dass sie häufiger auf noch nicht gänzlich Geklärtes und sogar regelrechte Forschungslücken verweist, dann dies vielleicht, dass an der einen oder anderen Stelle des ersten Teils die Gefahr zu drohen scheint, angesichts der Fülle der Details (z. B. zur Freikörperkultur der Lebensreformbewegung) den argumentativen Überblick zu verlieren. Doch könnte dieser Eindruck mit gleichem Recht auch mit einer eventuellen winterlich-nachweihnachtlichen Schläfrigkeit des Rezensenten in Verbindung gebracht werden.

Titelbild

Ariane Martin: Heinrich Mann ‚Der Untertan‘ 1906 bis 1918. Entstehung und Überlieferung.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
164 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783849817527

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