Der Gebrauch der Lüste in der Literatur und darüber hinaus

Überlegungen beim Wiederlesen von Roland Barthes „Die Lust am Text“

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Essay von Roland Barthes 1973 erschien, wurde er enthusiastisch als Manifest eines anarchisch-libertären Umgangs mit literarischen Texten und mit Sprache allgemein begrüßt und galt sofort als eines der wichtigsten Werke der poststrukturalistischen Theoriebildung. Schon bald wurde es zu einem Standardwerk, das hierzulande 2010 gar zur Ehre der Altäre einer Aufnahme in die Suhrkamp Studienbibliothek kam. Kommentar und Anmerkungen des Herausgebers Ottmar Ette haben den vierfachen Umfang des Essays. Die endgültige Kanonisierung wäre die Aufnahme in Reclams Universalbibliothek. Nun hat der Wallstein Verlag eine Ausgabe in seiner exquisiten Reihe „Typographische Bibliothek“ publiziert, aber ohne die behutsamen Korrekturen der Übersetzung Traugott Königs aus Ettes Ausgabe zu übernehmen. Der Text ist in der DTL Haarlemmer gesetzt; ihm sind einzelne Textfragmente in zahlreichen anderen Schrifttypen beigefügt. Sie bilden „eine kleine Schriftgeschichte“, so der Herausgeber Klaus Detjen, und machen die textuelle Materialität des Werks erfahrbar. – Eine Frage am Rande: Hätte ein Setzer alter Schule einen Absatz, zumal mit Einzug, in der letzten Zeile einer Seite, wie hier auf Seite 35, beginnen lassen?

Die folgenden Überlegungen versuchen zu ergründen, wie der Gehalt des Essays fast fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung und etwa vierzig Jahre nach meiner Lektüre heute wirkt. 

Die anfängliche Annahme, ein „umgekehrter Monsieur Teste“, der sich nicht mehr an den logischen Regeln des Denkens und der grammatischen Ordnung des Sprechens orientiert und sogar Lust an den Regelbrüchen empfindet, wäre „der Abschaum unserer Gesellschaft“, für die nichts schlimmer als der logische Widerspruch und die Inkohärenz des Denkens und Sprechens sei, markiert den Abstand des Essays zu „unserer Gesellschaft“ heute. Das von Barthes imaginierte „glückliche Babel“, in dem die mythische Verwirrung der Sprachen nicht Strafe ist, sondern eine Möglichkeit zu polymorpher Lust, multikultureller Diversität und vielsprachigem Nebeneinander, ist heute in weiten Teilen der Gesellschaft die Alltagswirklichkeit. Die hedonistischen Zeitgenossen unserer Tage werden nicht als „Abschaum“ verstanden; ihr unendlicher Spaß – wie David Foster Wallace seine Diagnose der Gegenwart vor fünfundzwanzig Jahren pointierte – ist das Ideal der Vergesellschaftung geworden.

Barthes hat seine Apologie der Lust am Text mit einer gründlichen Ausbildung im französischen Schulsystem, einem Studium der klassischen Philologie und einer umfassenden Kenntnis der Weltliteratur entworfen, vor dem Hintergrund einer Konzeption von Philologie, die mit der strukturalistischen Methode endgültig den Adel einer exakten Wissenschaft erlangen wollte und die mit einer bornierten hermeneutischen Methode le message, die „Botschaft“ von Texten als ihren Sinn zu entschlüsseln versuchte; sie sollte von derartigen Zumutungen gegenüber den Werken befreien. Der „Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet“, ist der Typus eines Verhältnisses zu dichterischen Werken jenseits methodisch begründeter Literaturwissenschaft.

Nicht die hermeneutische Forderung des Verstehens und nicht die formale Suche nach einer „Grammatik“ des Textes, sondern die entgrenzte Lust des Genießens bildet den Akt des Schreibens und Lesens als die Erfahrung der Literatur. Wenn es Barthes um „die Wissenschaft von der Wollust der Sprache, ihr Kamasutra“ geht, bedeutet dies auch, dass die Erfahrung ihre eigene Form hat. Balzac notiert in Physiologie des Ehelebens einen „kühnen“ Gedanken, der die Tragweite der Überlegungen Barthes pointiert: „die Lüste sind Arten von materiellen Ideen“. Barthes geht es mit dem von Julia Kristeva geprägten Begriff der Signifianz um „Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird“. Die Lust am Text besteht darin, dass „mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich“.

Deshalb bildet das Polymorphe auch die Form des Essays. Es ist vor dem Hintergrund der Psychoanalyse zu verstehen. Freud hatte das Polymorphe der Triebe und Affekte als pervers klassifiziert; es entwickelt sich im Zug der Persönlichkeitsbildung vom Freischweifenden der frühkindlichen Phase, indem es sich der genitalen Triebverfassung unterordnet. Das Polymorphe wird genital eingehegt und an einem Zentrum orientiert. Lacan hat das in der Unterscheidung des Imaginären und Symbolischen neu konfiguriert. In dem 1972/73 gehaltenen Seminar Encore hat Lacan die Unterscheidung von Lust (plaisir) und Wollust (jouissance) entfaltet, die auch für Barthes eine Rolle spielt, allerdings ohne sie terminologisch zu festigen.

Der in den gängigen Ausgaben kaum hundertseitige Text besteht aus einer Reihe von Mikrotexten: 46 Abschnitten, die noch einmal in Unterabschnitte aufgeteilt sind. Der Reichtum an Verweisen auf literarische und philosophische Werke der Tradition macht deutlich, dass die Lust am Text auf eine bestimmte Art konfiguriert ist. Der literarische Text überschreitet die Grenzen von Lexik, Grammatik und Logik – aber auf eine wohlkomponierte Weise. Barthes Text ist ein Muster der Verbindung des Abenteuers der Freiheit mit einer geregelten Ordnung. Diese Dynamik von Entgrenzung und Einhegung ist die Gestalt der Lust am Text. Ihr Extrem markiert ein Libertin der Romane de Sades, der „den flüchtigen, unmöglichen romanhaften Augenblick am Höhepunkt eines gewagten Arrangements genießt, wenn er den Strick, an dem er hängt, im Moment höchster Wollust durschneiden lässt“. Das ist der Blick in den Abgrund mit Geländer, die Todeslust mit Sicherungswort.

Für Barthes ist die Lust am Text auf die „Sprache selbst“ bezogen: „die Muttersprache“. Der Schriftsteller ist jemand, „der mit dem Körper seiner Mutter spricht“. Die Subversion von Sprache und Gesellschaft zielt auf eine Ordnung der Mutter als Form der Vergesellschaftung. Die symbolische Ordnung der Sprache im Namen des Vaters, des Gesetzes und der hierarchischen Gliederung soll neu konfiguriert werden nach Maßgabe der imaginären Ordnung der Sprache nach dem Bild der Mutter, der parataktischen Fügung und eines anarchischen Miteinanders. Es geht nicht um „Epistemologien des Gesetzes (und seiner Infragestellung)“, sondern um „sein Fehlen oder besser noch um seine Nichtigkeit“. Das ist der revolutionäre Anspruch einer Gesellschaft außerhalb des „Gesetzes“ nach Maßgabe eines freischweifenden Gebrauchs der Lüste jeder Art und Provenienz. Es geht um nichts weniger als „eine utopische Idee (einer zukünftigen Kultur, die hervorgeht aus einer radikalen, noch nie dagewesenen, unvorhersehbaren Revolution, von der jeder, der heute schreibt, nur eines weiß: wie Moses wird er dieses Land nicht betreten)“.

Das gelobte Land der sexuellen, emotionalen und sozialen Freiheit konfiguriert sich im Horizont einer Revolution der Sprache, deren Vorschein für Barthes die Texte der modernen Literatur sind. Die Frage ist, wie es von dieser libertären Hoffnung auf eine radikale Umwälzung aller Strukturen in eben diesem Feld von Geschlecht, Gefühl und Gesellschaft zur Terreur der Identitätslogiken unserer Tage gekommen ist. Sie wäre im Horizont der Dialektik von Freiheit und Diktatur in den historischen Revolutionen von den großen in Frankreich, Russland und China bis zu den vielen kleinen Ablegern aller Art zu untersuchen. Es ist die Frage der Verwandlung von realem Denken in Ideologie. 

Die Schreibweise Barthes zielt auf eine Sprache des Unbewussten – aber nicht diesseits, sondern jenseits der symbolischen Ordnung. „Bei einem Text der Lust sind die entgegengesetzten Kräfte nicht mehr im Zustand der Verdrängung, sondern des Werdens; nichts ist wirklich antagonistisch, alles ist plural.“. Ein solches Unternehmen hat kurz darauf Wilfred Bion mit A Memoir of the Future realisiert. Von diesem bis heute wenig gelesenen Werk aus würden die Grenzen von Barthes Denken und Schreiben erkennbar. Die Lust am Text, die Barthes im Sinn hat, verbleibt, trotz aller Anstrengungen, die er dagegen unternimmt, im Feld des Imaginären. Barthes war ein glücklicher Hedonist „aus der Herde Epikurs“. Bion dagegen bewegt sich mit seinem Schreiben durchweg im Realen. Das ist seine Zumutung.

Barthes nennt das Polymorphe im Rahmen der Psychoanalyse – er hat, wie damals üblich, mit ihren Denkfiguren gearbeitet – das Perverse, um das Subversive seiner Konzeption deutlich zu machen. Heute ist es als das Diverse das leitende Ideal einer Zivilisation, die das einst Subversive unter dem Rubrum der Identität auf nicht leicht verstehbare Weise in eine neue symbolische Ordnung überführt hat; ihre Rigidität steht dem einst perhorreszierten Ödipalen in nichts nach und macht den autoritären Charakter unter dem Anschein der Freiheit wieder gesellschaftsfähig.

Das Polymorphe der Lust und des Genießens ist im Horizont der Trieb- und Affektstruktur, wie sie die Psychoanalyse deutet, als Regression zu verstehen. In dem Maße, wie Barthes seinem Text selbst eine polymorphe und dezentrale, aber wohlkomponierte Form gibt, ist sein Text nicht regressiv, sondern eine sublimierte Form der polymorphen Triebverfassung. Es ist zu befürchten, dass die Marginalisierung der Psychoanalyse im intellektuellen Feld heute ein Hinderungsgrund für eine anspruchsvolle Lektüre des Essays ist. Das Polymorphe und Polyzentrische als geistige Gestalt haben andere Theoretiker damals in den Denkfiguren der Dissemination (Derrida), des Polylogischen (Kristeva) oder des Rhizoms (Deleuze / Guattari) entfaltet. Zur Signatur der Zeit gehörte der Wunsch nach einer intellektuell anspruchsvollen Transformation der sozialen Verhältnisse, die mit einer Veränderung des Denkens einhergehen sollte.

Barthes erwartet von einem Text, dass seine Lust einen Verlust erzeugt und einen Umsturz alles Überlieferten bewirkt: „die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in die Krise bringt“. Der Hedonismus unserer Tage scheint nichts weniger als Sublimierung einer infantilen Triebstruktur, sondern die Verfassung der Infantilität als sozialer Habitus zu sein. Allerdings ist das Infantile auch bei Barthes gelegentlich spürbar: „Der Text ist (sollte sein) jene ungenierte Person, die Vater Politik den Hintern zeigt.“ Das war auch damals kaum ziviler Ungehorsam, sondern Vorschein des politischen Bullerbü von heute.

Der Essay entstammt erkennbar einer Zeit, als das Subvertieren noch geholfen hat. Das Nachwort zur gegenwärtigen Ausgabe sowie Ettes Kommentar werden geleitet von einer affirmativen Haltung gegenüber den auch 2010 schon und heute erst recht stereotyp gewordenen Formeln der Sechziger- und Siebzigerjahre: „unabschließbare, nie zum Halt kommende Bewegung“ in „immer neuen Kombinationen, in immer neuen Spannungsfeldern, in immer neuen Logiken“. Es geht um den Kampf gegen eine „institutionalisierte Sprache“ als Instrument von Herrschaft und Unterdrückung – als wären im postmigrantischen Frankreich oder Deutschland die Forderungen des bon usage ernsthaft ein Problem. Die „Heterotopien“ und „Heterologien“ sind längst nicht mehr „anderswo“, sondern konstitutives Moment „unserer Gesellschaft“. Das könnte die Frage der Sprache und der Lust an ihr neu konfigurieren.

Hymnisch ist auch Ettes Lob der Mikrotexte Barthes, die nicht auf eine „kontinuierliche Linie“ des Denkens und Argumentierens, sondern auf „mobile, immer wieder neue Verbindungen und Diskontinuitäten erzeugende dynamische Netzstrukturen“ zielen und „multirelationale Theorieformen“ bilden, die keine „fixierten Systeme“ erzeugen. Wie sich diese Utopie zur Topik der Kurznachrichtenkommunikation und Twitter-Politik sowie zur Dynamik des virtuellen Netzes unserer Gegenwart verhält, wäre immerhin eine Frage wert. Schließlich ist die allgemeine Missbilligung der „postmodernen Theorie“ seit geraumer Zeit zu einem Topos der gegenwärtigen Kulturkritik geworden. Deshalb wäre es wohl eine Aufgabe für mindestens einen fächerübergreifenden Sonderforschungsbereich zu verstehen, wie es von jenem hehren Anspruch zu dem banalen Ergebnis gekommen ist. Denn Barthes Text ist zurecht kanonisch: wahrhaft eine „zarte Götterblume“ des komplexen Denkens, das wir – frei nach dem Marquis von Posa aus Schillers Don Karlos – als die Träume der Jugend in Achtung halten sollten, um es nicht den wirren Schwarmgeistern gerühmter wilder Unvernunft zu überlassen.

Titelbild

Roland Barthes: Die Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette.
Aus dem Französischen von Ottmar Ette.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
504 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518270196

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Titelbild

Roland Barthes: Die Lust am Text.
Hg. und mit einer kleinen kommentierten Schriftgeschichte sowie gestaltet von Klaus Detjen. Mit einem Vorwort von Krassimira Kruschkova und Michael Hagner.
Aus dem Französischen von Traugott König.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
112 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350632

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