Historische Augenblicke eines Germanistenlebens

Bénédicte Terrisse und Clément Fradin gelingt eine überfällige Annäherung an Hans Mayer

Von Stephan EhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Ehrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann nicht behaupten, dass Literaturwissenschaftler:innen allzu oft größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Wenige Ausnahmen wie Walter Jens, Käthe Hamburger oder Georg Lukács bleiben trotz ihrer relativen Reichweite dennoch meist auf fachliche Kreise beschränkt. Lange Zeit ähnliche Bedeutung, in der DDR wie auch der Bundesrepublik, hatte der Germanist und Literaturkritiker Hans Mayer, dem nun Bénédicte Terrisse und Clément Fradin eine, dem Erachten des Autors dieser Zeilen nach, längst überfällige kritische Würdigung im Rahmen einer Themenausgabe der Revue Germanique Internationale (auf Französisch) widmen – auch, um ihn einem französischen Publikum näher zu bringen. In Stil und Aufbau an Text + Kritik erinnernd, nähert sich der Band in elf Beiträgen Mayer teils biographisch, teils über seine Netzwerke, teils über seine Schriften. Allein der kurze Überblick, den die Herausgeber:innen in der Einleitung präsentieren, zeigt bereits, wie Mayers Biografie untrennbar mit Deutschland im 20. Jahrhundert verbunden ist und warum sich die Beschäftigung mit ihm heute lohnt:

Mayer, 1907 in Köln geboren und Sohn jüdischer Eltern, die beide in Auschwitz ums Leben kamen, studierte Jura, Geschichte, Germanistik und Musik in Köln, Bonn und Berlin und wurde 1930 als Jurist promoviert. Als Jude und Marxist erhielt er nach 1933 Berufsverbot und siedelte 1934 nach Genf über, wo er als Sozialforscher Arbeitsaufträge von Max Horkheimer erhielt. Von 1937 bis 1939 war Mayer mit Walter Benjamin Mitglied des 1937 unter anderem von Georges Bataille gegründeten Collège de Sociologie in Paris. 1949 trat er in Leipzig – wie auch sein Freund Ernst Bloch kurz zuvor – eine Professur an und avancierte zum einflussreichen Kritiker der neueren deutschen Literatur. Durch Reiseprivilegien wurde er Mitglied der Gruppe 47. Nach Konflikten mit der Staatsführung verließ er 1963 die DDR und moderierte zwischen 1964 und 1967 zusammen mit Marcel Reich-Ranicki die Rundfunk- und Fernsehsendung Das literarische Kaffeehaus, einen Vorläufer des Literarischen Quartetts. 1965 wurde er auf einen neu eingerichteten Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Technischen Hochschule Hannover berufen; seinen Lebensabend verbrachte er, wie Ernst Bloch, in Tübingen.

Wissenschaftliche Bedeutung hat er vor allem als Theoretiker und Verfechter einer dialektisch-marxistischen Kulturkritik erreicht, die sich einer zu stark ideologischen Ausrichtung verweigerte und die ihn mit Bloch, Brecht, Seghers und Hermlin in der DDR zusammenbrachte und ihn mit Lukács und der Staatsführung in Konflikt geraten ließ. Obwohl er über Lukács zum Marxismus gekommen war und sich stets als Marxist verstand, war er im theoretischen Sinne auch „Historist“: Es ging ihm immer um den historischen Kontext im Zusammenspiel mit der Autonomie des Werks, eingebettet in eine Konstellation aus Autor:in, Rezipient:in, dem Werk in seiner Zeit und weiteren Bezugsgeflechten, die ein bestimmtes Thema in zeitgenössischen Kontexten besonders hervortreten lassen. Dem Ganzen stellte er oft eine Biografieanalyse der Autor:innen an die Seite, als Mischung aus soziologischem und ideengeschichtlichem Erkenntnisinteresse am von ihm wahrgenommenen deutschen „Sonderweg“ in der Literatur. Als einflussreicher Hochschullehrer prägte er die Büchner-, Kleist- und Kafkarezeption in der DDR nachhaltig. Die berühmten Vorlesungen im Leipziger Hörsaal 40 zogen ein großes Publikum an – u.a. die Studierenden Uwe Johnson, Irmtraud Morgner, Alexander Weigel, Christa Wolf und Adolf Dresen – und wurden zuletzt lebhaft in Christoph Heins Roman Verwirrnis (2018) literarisch verewigt. Darüber hinaus hat Mayer mit seinem Hauptwerk Außenseiter (1975) eine der ersten literaturwissenschaftlichen Beschäftigungen mit Homosexualität geschrieben, und seine kulturwissenschaftliche Betrachtung der Kategorien von Klasse, Gender und Race/Ethnie könnte für die heutige Zeit nicht relevanter sein.

Ganz im Stile von Mayers eigenen Arbeiten, greifen die elf Beiträge des Bandes „historische Augenblicke“ aus Mayers Leben und Werk auf und besprechen diese in Hinblick auf ihre historische wie heutige Bedeutung. Gegliedert ist der Band dabei in drei Teile: „Lebensstationen“ (Stations Historiques de Hans Mayer), „Identitäten und Affinitäten“ (Identités et Affinités), und „Der Leser Hans Mayer“ (Hans Mayer Lecteur).

So widmet sich Stephanie Baumann Mayers Exilzeit am Pariser Collège de Sociologie, die er mit staatstheoretischen und juristischen Analysen des Dritten Reichs und den politischen Mythen des Faschismus verbrachte. Baumann zeichnet nach, wie zwischen Roger Caillois, Bataille und Mayer eine Debatte entbrannte, in welchen kritischen Kontext man die Faschismusdiskussion stellen sollte. Helmut Peitsch zeichnet Mayers Lukács-Rezeption und die Frage, wie politisch die marxistische Literaturwissenschaft sein sollte, nach. Im Zentrum steht die komplexe, internationale geistige Debatte, in der Intellektuelle in der Exils- und Nachkriegszeit Konzepte suchten, um eine geistige Neuaufstellung Europas und der Welt zu gewährleisten. Peitsch zeigt, dass Mayer sich zwar der philosophischen Ansätze Lukács‘ bediente, letztendlich sich aber gegen Lukács‘ ideologische Methodik entschied und ein anderes Marxismusverständnis entwickelte, woran man durchaus auch die unterschiedlichen „Exilschulen“ der Sowjetunion und des Westens erkennen kann. 

Sarah Kiani wiederum beschäftigt sich mit Mayers Leben in der DDR (1956–1963) und wertet Stasi-Reporte, SED-Berichte und Mayers Autobiographie in Hinblick auf seine Homosexualität aus, um Diskreditierung nachvollziehen zu können. Zentrale Erkenntnis ist, dass die Stasireporte fast nie auf seine Homosexualität anspielen, um Beweise für seine Staatsfeindlichkeit zu suchen, sondern eher mangelnde Kollegialität ankreiden.

Anekdotenhafte biographische Einblicke offenbaren die besonderen intellektuellen Beziehungsgeflechte, die Mayer unterhielt. Marielle Silhouette wirft einen Blick auf die Treffen Mayers mit Brecht in den DDR-Aufbaujahren. Während Brecht sich mit einem Theater des kulturellen Wiederaufbaus beschäftigt, springt Mayer ihm als Germanist, Essayist und Wissenschaftler bei. Vor allem zeigt sich, wie viele Überschneidungen es bei beiden in puncto Geschichtsphilosophie, Geschichtlichkeitskonzepten und der Frage nach einem nationalen Literaturkanon in der dialektischen Beziehung von alt und neu gab. Norbert Waszek widmet sich der bisher wenig erforschten Freundschaft zwischen Mayer und Bloch, um neue biographische Perspektiven zu ermitteln und Mayers Lesarten von Blochs literarischen Aufsätzen und Versuchen sowie letztlich Lesarten von Blochs Philosophie nachvollziehen zu können. Am aufschlussreichsten ist dabei, dass – trotz vielseitiger Bezüge – Hegels Philosophie weitaus weniger einflussreich auf Mayer war als auf Bloch, der Hegel einen großen Teil seines Werkes widmete. 

Hans-Joachim Hahns exzellenter Aufsatz analysiert Mayers Judentum als „Denkanstoß“ für dessen kritische Philologie. Wie vielen Juden in den DDR-Aufbaujahren, diente das „Jüdisch-Sein“ Mayer weniger als Identitätsanlass, sondern als kritische Fokussierungshilfe: als gemeinsamer Erfahrungshintergrund, der weniger mit dem jeweiligen jüdischen Selbstverständnis (liberal, orthodox, säkular u.a.) als mit der geteilten Fremdwahrnehmung zu tun hatte. Dem stellt Hahn die Vermutung anbei, dass ein Zusammenhang bestünde zwischen Mayers fortschreitender Desillusionierung über die politisch-kulturellen Gestaltungsspielräume innerhalb der DDR und seiner literaturgeschichtlichen Ursachenforschung zum Scheitern der bürgerlichen Aufklärung. Als Kulminationspunkt dieses Scheiterns gilt Mayer der Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden. Mayers jüdische „Selbstwahrnehmung“, so formuliert Hahn zugespitzt, hängt eng mit der Reflexion „dieser existentiellen Bedrohung“ von Jüd:innen zusammen. Dass der Antisemitismus als Extremform der Fremdbilder des Jüdischen nicht mit Auschwitz endete, gehörte zu den Einsichten Mayers am Ende seiner Außenseiter. Hahn zeigt, dass für Mayer erst im Rückblick die Außenseiter, an denen die bürgerliche Aufklärung – und eben auch der Sozialismus – scheitert, zum Lebensthema wurden.

Ein weiterer Höhepunkt des Bandes findet sich in der Sektion, die sich schließlich Mayer als Leser und seinem spezifischen Zugang zu weitestgehend strukturalistischer Textinterpretation widmet. Clément Fradin hat nicht nur Mayers Kleistaufsatz Der geschichtliche Augenblick (1963) ins Französische übersetzt und dem Band beigefügt, sondern sich auch intensiv mit Mayers Kleistlektüren beschäftigt. An Mayers Aufsatz ist so besonders, dass er wenig theoretisch und textinterpretatorisch interessiert ist, sondern vielmehr sich der Bedeutung Kleists in dessen historischem Kontext und im Kontext des Lesers Hans Mayer widmet. Denn der Aufsatz entsteht zu einer Zeit, da die DDR 1961 Kleists 150. Todestag feierlich begeht. Die kritische Aneignung der komplizierten Biografie und der komplexen Werke Kleists bereiteten der SED-Kulturpolitik Lukács’scher Doktrin von Anfang an viele Schwierigkeiten, wobei gleichzeitig viele Widersprüche der DDR-Kulturpolitik und der marxistischen Kulturtheorie zutage traten. Der Text ist aber auch Spiegel der historischen Situation, der sich Mayer kurz vor seiner Ächtung in der DDR ausgesetzt sah. Der Text offenbart auch die fundamentalen Unterschiede zu Lukács, da Mayer hier wichtige Thesen seiner Texthermeneutik veranschaulicht: Seine historisch-materialistische Dialektik deutet nicht nur den Text im Kontext seiner Zeit und seiner Autor:innen, sondern auch den Kontext der Interpret:innen in ihrer Zeit – beides erachtete er als essentiell für ein historisch-kritisches Textverständnis. Dies ist Teil eines breiteren Umdenkens von geschlossenen Großnarrativen des Realismus hin zu mehrdeutigeren, offenen Formen in der DDR jener Zeit, die eine Ko-Konstruktion der Leser:innen erfordert. Theaterwissenschaftlich betrachtet, löste der Aufsatz zudem erfolgreich Lukács‘ kanonisches Kleist-Urteil aus den 30er und 40er Jahren im Kontext des Kleistjahrs 1977 ab, wo er dankbar als wissenschaftlich-dramaturgische Grundlage für alle Jubiläumsinszenierungen herangezogen wurde.

Michael Woll analysiert Mayers Auseinandersetzung mit Hofmannsthal im Kontext der ideologischen Streitigkeiten der Hofmannsthal-Gesellschaft der 1960er Jahre und zeigt Mayers exemplarische Verlagerung des Blickwinkels vom Beispielhaften (Hofmannsthal als Spiegel für Mayers ideologiegeschichtliche Position) zum Individuellen (Mayers Reaktion auf die Konflikte der Werke) zu einer Erweiterung der Perspektive auf ein grundsätzliches Phänomen der Disziplingeschichte. Auf ähnliche Weise nähert sich Solange Lucas Mayer als Kafkainterpreten. Ähnlich wie bei Kleist, setzte er sich konsequent dafür ein, die Werke von ideologischen Vorurteilen zu befreien und textimmanent und zeithistorisch einer neuen Kritik zu unterziehen. Daran kann man exemplarisch Mayers kritischen Ansatz verfolgen, den er so prägend auf seine Studierenden übertragen sollte. Und auch, dass er seine eigenen theoretischen Forderungen oft nicht so genau nahm und eher persönliche/autobiographische Lesarten anwandte.

Bénédicte Terrisse weitet am Ende den Blick und untersucht Mayers Beschäftigung mit Hegels Konzept von „Zeitgenossenschaft“. Terrisse arbeitet dabei einerseits heraus, dass Mayer das Konzept der Zeitgenossenschaft nutzte, um verschiedene unter der Realismusdoktrin (oder Lukács‘ persönlichem Geschmack) ausgeschlossene Autor:innen, Texte und den Modernebegriff selbst umzudeuten. Mayer spricht dabei von „Konstellationen“: das Wechselspiel von Autor:in/Text im historischen Kontext, im Wechselspiel des Interpreten mit dem Studienobjekt. Dieses Konzept macht ihn für die westlichen Verfechter des New Criticism und des Strukturalismus lesbar, während er die Möglichkeiten des historischen Materialismus dabei nominell integriert und terminologisch vermischt und somit in der DDR-Literaturwissenschaft anschlussfähig bleibt.

Trotz der Kürze vieler Beiträge zeigt sich doch deutlich anhand der Fülle der diskutierten Themen und Betrachtungen, dass Terrisse und Fradin erfolgreich eine zentrale Figur der deutsch-deutschen Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts kritisch zu würdigen wissen, um ihn in das deutschsprachige Geistesleben des 20. Jahrhunderts einzuordnen, wo er neben Bloch, Lukács, Adorno und Horkheimer stehen sollte. Prägnanterweise gelingt ihnen dies durch den Kunstgriff, Mayers eigenen wissenschaftlichen Ansatz zu nutzen und die verschiedenen „Konstellationen“ und „geschichtlichen Augenblicke“ für diese Wiederentdeckung fruchtbar zu machen. Das Konzept, Biographisches mit Mayers Œuvre sinnfällig zusammenzubringen, geht über weite Teile hervorragend auf und unterstreicht dabei implizit, warum Mayer heute noch relevant und lesbar ist. Vermutlich auch, weil er eben kein klassischer Germanist war. Mayer, der – selbst ein Außenseiter – die zentralen Außenseiter der deutschen Literaturgeschichte zu verstehen suchte und ihr Schaffen im sich aus der Französischen Revolution ergebenden, unaufgelösten Widerspruch verortete, der auf der einen Seite eine Vermenschlichung des Denkens und Empfindens herbeiführte und anderseits aber die zunehmende Entmenschlichung sozialer Praxis bis in die Gegenwart der geteilten deutschen Nachkriegszeit zur Folge hatte. Dieses von ihm empfundene Scheitern der bürgerlichen Aufklärung hallt bis in unsere Gegenwart hinein; und man kann hoffen, dass Mayer weiterhin gelesen wird, um Antworten für künftige Zeitgenossenschaften zu finden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bénédicte Terrisse / Clément Fradin (Hg.): Hans Mayer. Revue Germanique Internationale 33.
CNRS EDITIONS, Paris 2021.
206 Seiten, 30 EUR.
ISBN-13: 9782271135810

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