Annäherung an den Bruder

Monika Helfer zeichnet in „Löwenherz“ ein einfühlsames Porträts ihres Bruders Richard

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Roman Die Bagage von 2020 macht sich Monika Helfer auf die Spuren ihrer Familie, die von allen nur die Bagage genannt wird. Sie erzählt die Geschichte ihrer Herkunft und gestaltet ein eindrückliches kraftvolles Bild ihrer Großmutter und ihrer Mutter, der Grete, deren Vater Josef nie ein Wort mit ihr sprechen wird. In Vati, ein Jahr später veröffentlicht, geht die Schriftstellerin-Tochter dem Leben ihres Vaters nach, das geprägt ist vom 20. Jahrhundert, von Sprachlosigkeit, von großer Sehnsucht und trostloser Einsamkeit. Ihren neuen Roman Löwenherz, im Januar 2022 ebenfalls im Hanser Verlag erschienen, widmet die österreichische Autorin, die seit vielen Jahren im Vorarlberg lebt, ihrem Bruder Richard, der sich mit dreißig Jahren das Leben nahm. Der kleine Bruder wuchs nach dem Tod der Mutter – er war damals fünf Jahre alt – bei der einen Tante auf, die Schwestern bei der anderen. Die Geschwister wussten voneinander, doch blieben sie sich fremd:

Der Bruder gehörte nicht mehr zu uns. Wie unsere Mutter nicht mehr zu uns gehörte. Weil sie tot war. Wie unser Vater nicht mehr zu uns gehörte, weil er sich in einer Klosterzelle versteckte und sich dort Suppe servieren ließ zwischen seinen Büchern. Wir mussten das endlich einsehen, Gretel, Renate und ich!

Nach seinem Tod will Monika Helfer es genauer wissen: Wer war dieser seltsam menschenscheue und gleichzeitig herzensgute Mann, dem sie sich nahe fühlte, der sie verwirrte und den sie gleichzeitig kaum kannte.

So war mein Bruder Richard:
Er dachte beim Gehen ans Liegen,
beim Sitzen ans Liegen,
beim Stehen ans Liegen,
sogar beim Fliegen dachte er ans Liegen.
Dachte immer ans Liegen.

Richard staunte über die Geheimnisse der Welt, seine Liebe galt den Tieren, Menschen interessierten ihn weniger. Oder nur sporadisch mal wieder.  Als Erwachsener war Richard gerne im Haus der Schwester, zwischen den beiden wuchs eine Vertrautheit, die ihnen viel bedeutete, die jedoch immer auch zerbrechlich blieb. Mit Monika Helfers Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, verband ihn eine stille Männerfreundschaft.

Gutmütig und immer wieder naiv – auch das gehörte zu Richard. Das erkannte die zwanzigjährige Kitti sofort, der er zufällig begegnete. Angesichts seiner Unbeholfenheit packte sie die Gelegenheit beim Schopf und fragte ihn ohne lange Erklärung, ob er ihr Kind für ein paar Tage zu sich nehmen könne, es gehe grad nicht anders. Richard sah kein Problem. Die Kleine, Putzi genannt, wuchs ihm rasch ans Herz, sie hausten zusammen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Richard dachte immer weniger daran, dass Kitti das Kind mal zurückholen könnte. Auch nicht, dass dies im Grunde doch eine sehr seltsame Geschichte war.

Später lernte er Tanja, eine Anwältin, kennen, die sich in ihn verliebte. Und er sich in sie. Sie schienen überhaupt nicht zusammenzupassen und hatten vielleicht gerade deshalb zusammengefunden. Sie heirateten, Tanja wollte sich darum kümmern, dass sie Putzi adoptieren könnten. Der Brief, den sie an Kitti schrieb, als Anwältin einer renommierten Kanzlei, musste die Mutter – inzwischen hatte sie ein weiteres Kind geboren – daran erinnert haben, dass da ja noch eine ältere Tochter war und dass sie diese keinesfalls bei Richard lassen wollte. Umgehend tauchte sie bei Richard auf und entriss ihm das Kind buchstäblich.

Kitti war nicht allein gekommen. Drei Männer waren mit ihr. Zwei Schränke und ein normaler. Sie klingelte und pumperte an die Tür. (…) Richard war noch nicht ganz da. Während er die Männer anglotzte, marschierte Kitti an ihm vorbei in die Wohnung hinein, zog Putzi, die auch noch nicht ganz da war, vom Bett herunter und zerrte sie am Ärmchen aus der Wohnung hinaus und die Stiege hinunter. Das ging alles sehr schnell. Erst als sie schon durch die Haustür waren, begann Putzi zu schreien.
„Papa“, schrie sie, „Papa, Papa! Hilfe, Papa!“ Kitti hielt sie so hoch am Arm, dass sie auf einem Bein hopsen musste, sie war barfuß.

Richard war 25, als ihm Putzi weggenommen wurde. Zurück blieb ein gebrochener Mann, dem jeder Lebenssinn abhanden gekommen war. Entgegen den Vermutungen der älteren Schwester trennten sich Tanja und Richard nicht, „Tanja aus Beharrlichkeit und Treue nicht, Richard aus Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit nicht“.

Richard sollte noch fünf Jahre leben. Tanja hoffte, dass er sich erholen würde, dass er über den Verlust des Kindes – und jenen des geliebten Hundes, der noch vor der Entführung Putzis im Wald getötet wurde und dessen Tod für Richard wohl ebenso unüberwindbar blieb wie das Verschwinden des Kindes – hinwegfinden würde. Es kam anders. Richard nahm sich mit dreißig das Leben. Auch die Malerei – Richard, der gelehrte Schriftsetzer, war ein begabter Maler –, die ihm immer wieder über tiefe Krisen hinweggeholfen hatte, konnte ihn nicht von diesem letzten Schritt abhalten.

In ihrem neuen Roman zeichnet Monika Helfer eine eindrückliche Geschwisterbeziehung. In Löwenherz geht es nicht nur um den Bruder Richard. Eine ebenso zentrale Rolle nimmt die Schwester und damit die Autorin ein. Als Leser:innen begleiten wir Bruder und Schwester, wie sie sich annähern, wie Vertrauen zwischen ihnen möglich wird. Wir lesen Richards Geschichte und erfahren gleichzeitig einiges aus dem Leben der Autorin, von der Trennung vom ersten Mann, von der Liebe zum zweiten und wie wichtig damals Richard für sie wurde. Als bereichernd kommt hinzu, dass Monika Helfer uns Einblick in den Schreibprozess gibt. Sie deckt die Skrupel auf, die sie erlebt, wenn sie aus Familiengeschichten Literatur entstehen lässt. Sie erzählt von den Gesprächen, die sie mit ihrem Mann, der gleichzeitig Schriftstellerkollege war, über den entstehenden Roman führt. Damit setzt Monika Helfer nicht nur die Erzählung der Familiengeschichte fort, sie fügt zudem interessante Reflexionen über das Schreiben von privaten Geschichten hinzu.

Titelbild

Monika Helfer: Löwenherz.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446272699

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