Scham, Schweigen, Schmerzen

Andrea Pető analysiert in „Das Unsagbare erzählen“ die sexuelle Gewalt durch die Rote Armee

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ungarische Historikerin Andrea Pető, eine Expertin auf dem Gebiet der Frauenforschung und der Gender Studies und Professorin an der aus Budapest vor einigen Jahren vertriebenen „Central European University“ in Wien, legt mit ihrer Monographie Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg mehr als nur eine Erzählung von Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten vor. Ihre Darstellung ist eine methodische Einführung in das schwierige Themenfeld der von Männern an Frauen verübten sexuellen Gewalt in Kriegszeiten. Dem Haupttitel Das Unsagbare erzählen kommt im Kontext des Phänomens sexueller Gewalt eine besondere Bedeutung zu, weil er sich auf zwei Gruppen bezieht, die Frauen als Opfer sexueller Gewalt und die Historiker, die darüber schreiben wollen. Beim „Unsagbaren“ handelt es sich selbstredend nicht um etwas Metaphysisches, Ethisches oder Ästhetisches wie bei Ludwig Wittgenstein und dessen berühmtem 7. Satz aus dem Tractatus. Es ist vielmehr jene Erfahrung der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins gemeint, die Ende des Zweiten Weltkriegs in ganz Osteuropa wohl Hunderttausende von Frauen machen mussten, als sie von sowjetischen Soldaten mitunter dutzendfach hintereinander vergewaltigt wurden. Diese erniedrigende, schmerzhafte und mit Scham behaftete Erfahrung stellte für viele einen derartigen Einschnitt in ihrem Leben dar, dass sie davon jahrzehntelang nicht erzählen konnten. Die Sprache fehlte vielen Frauen ebenfalls, weil ihnen die richtigen Worte fehlten, um zu beschreiben, was ihnen widerfuhr. Doch auch die heutigen Historikerinnen und Historiker sehen sich mit der Frage konfrontiert, wie sie solche Erfahrungen in Worte fassen sollen, ohne dabei die Würde der Opfer noch einmal zu tangieren und ins Voyeuristische zu verfallen.

Die Verfasserin teilt ihre Untersuchung in vier Kapitel und fasst die Ergebnisse in einem Fazit zusammen. Abgeschlossen wird der Band mit einer detaillierten und vielfach gegliederten Bibliographie sowie einem Abbildungsnachweis. In ihrer Einleitung unterscheidet Pető die intentionalistische Deutung von Vergewaltigungen, die davon ausgeht, dass Politiker und die militärische Führung sie bewusst gegen bestimmte Volksgruppen als Strafe einsetzen, von der strukturalistischen. Während die intentionalistische Erklärung die sexuelle Gewalt ethnisiere, gehe die strukturelle davon aus, dass diese Gewalt ein Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sei. Die Männer zeigten auf diese Weise ihre Macht über die Frauen und verübten aufgrund der Verhältnisse, der Struktur und der Werte des Militarismus die Gewalttaten.

Das erste Kapitel widmet Pető historischen Vergleichen. Sie stellt nicht nur den (spärlichen) Stand der Forschung in Ungarn dar, sondern geht als Vor- und Vergleichsgeschichte auf die Besetzung Ungarns durch Russland 1849 und 1956 ein und streift knapp das Verhalten der deutschen Besatzer 1944. Hierbei hebt sie das in Ungarn vorherrschende positive Erinnern an diese Besatzung hervor, was auch mit dem negativ behafteten Auftreten der Sowjets nach 1945 zusammenhängt. Die von den sowjetischen Soldaten verübte sexuelle Gewalt werde in Ungarn vor allem intentionalistisch gedeutet und generell herrsche im öffentlichen Diskurs ein Bild vor, wonach die Sowjets unzivilisierte, betrunkene und gewalttätige Barbaren gewesen seien, während die deutschen Soldaten diszipliniert aufgetreten seien. Bereits aus diesem Kapitel geht ein Vorzug von Petős Vorgehen hervor, wenn sie wiederholt Bezug auf vergleichbare Erfahrungen polnischer, tschechischer oder deutscher Frauen nimmt.

Im zweiten Kapitel stehen die Typologien der Kriegsvergewaltigungen, die Frage ihrer Quantifizierbarkeit und das Thema der Folgen im Mittelpunkt. Die Wiener Historikerin stellt unterschiedliche „Klassifizierungen“ sexueller Gewalt durch andere Forscherinnen und Forscher vor. Cynthia Enloe grenze etwa die sexuelle Gewalt als Kriegswaffe (mit der ideologischen Erklärung „zum Schutz der Nation“ und den strukturellen Massenvergewaltigungen) von der „rekreativen Vergewaltigung“ ab. Was sich so bizarr anhört, lässt sich tatsächlich auf einen Ausspruch Stalins zurückführen, der zu Milovan Ðjilas sagte, dass doch die sowjetischen Soldaten „das Recht auf ein bisschen Unterhaltung hätten“ (80f.). Eine weitere Erklärung der sexuellen Gewalt durch Historiker bezieht sich auf „archaisch-patriarchale“ Muster, wonach solche Gewalt zwangsläufig zu den Kriegen und die Frauen der eroberten Gebiete dem Sieger gehörten. Deutungen, die Vergewaltigungen innerhalb eines „ideologisch-nationalen Rahmens“ (83) verorteten, erklärten, so der Ansatz von Paul Kirby, diese Gewalt als instrumental, also auf einen Zweck hin als Mittel gerichtet (z.B. um Rache zu üben). Das „archaisch-patriarchale“ Muster sei ein irrationaler Ansatz, doch gäbe es auch einen mythologischen Versuch, solche Gewalttaten verständlich zu machen.

Doch von welchen Zahlen ist bei diesem Thema eigentlich die Rede? Pető mag sich nicht an dem beteiligen, was sie den „Zahlenkrieg“ der Nachgeborenen nennt, sind doch die Schätzungen so disparat wie ohne eine ernsthafte Basis: Sie reichen von 20.000-50.000 bis zu 2 Millionen im Falle Deutschlands und manche ungarischen Angaben, die allerdings heftig umstritten sind, beziffern die Zahl der in Ungarn verübten Vergewaltigungen auf 80.000 bis 250.000. Doch wie zählt man solche Gewalttaten? Wie zählt man es, wenn eine Frau in einer Nacht (oder über mehrere hindurch) dutzendfach Leid erlitten hatte: als eine oder mehrfache Vergewaltigung? Pető scheut sich, zu Recht, hier Position zu beziehen und an Spekulationen teilzunehmen. Viel eindeutiger bestimmbar bleiben die Folgen der Gewalt: Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen, Prostitution, psychische Leiden, Verlust der Gebärfähigkeit usw.

Im dritten Kapitel analysiert die Autorin die unterschiedlichen Formen des Sprechens und Erinnerns an das „Unsagbare“. Die in zeitgenössischen Quellen privaten und offiziellen Charakters oft erwähnten und angeklagten Brutalitäten, Gewalttaten und Machtmissbräuche sowjetischer Soldaten konnten allerdings auf legalem Wege in den meisten Fällen nicht geahndet werden, da die sowjetischen Soldaten außerhalb der ungarischen Gesetzlichkeit waren. Sofern sich sowjetische (Militär-)Behörden mit solchen Gewaltakten konfrontiert wurden, leugneten oder bagatellisierten sie sie. Tagebücher waren eine häufige Form (ob in Deutschland oder Ungarn), durch die die Opfer versuchten, zumindest für sich die Erlebnisse aufzuarbeiten. Romane mit dokumentarischem Charakter, Fotoaufnahmen, filmische Darstellungen waren weitere Gattungen der Auseinandersetzung mit dem erlittenen Leid. Allerdings konnten sie häufig erst Jahrzehnte nach Kriegsende erstellt werden, wobei die Fiktionalität von Filmen neue Maßstäbe an ihre Bewertung legten. Im Zeitalter des Internets spielten Blogs und andere Kanäle ebenfalls eine wichtige Rolle im Erinnern. Die meisten dieser Quellen sind nur in ungarischer Sprache zugänglich, so etwa der Film A vád (Die Anklage) des Regisseurs Sándor Sára. Die auch sprachlich beeindruckenden Erinnerungen von Alaine Polcz aus dem Jahr 1991 sind allerdings 2012 auch auf Deutsch erschienen (Frau an der Front. Ein Bericht. Frankfurt am Main, 2012).

Im letzten Kapitel, das den bezeichnenden Titel Schweigen und Verschweigen trägt, geht Pető insbesondere auf die (international) mangelhafte juristische Aufarbeitung der sexuellen Gewalt ein. Sie versucht auch, die sowjetische bzw. russische Perspektive darzustellen, wobei sie sowohl die Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zu russischen Quellen als auch die Entwicklung des russischen Diskurses erörtert. Bei letzterem stellt sie eine nur langsam entstehende Selbstreflexivität fest, was sie u.a. mit den immer noch existierenden militärischen Werten und Normen in der russischen Gesellschaft und Politik erklärt.

In ihrem Fazit betont die Autorin einmal mehr den Zusammenhang des Sprechens über Vergewaltigungen mit den politischen Strukturen, aber auch dem gesellschaftlichen Klima in einer Gesellschaft. Das Verschweigen der sexuellen Gewalt sei ein vielfaches Schweigen, das der Institutionen, der Opfer und der nationalen Gemeinschaft, die darüber ebenfalls nicht zu sprechen mag. Das habe in Ungarn (im Gegensatz etwa zu anderen Ländern) auch dazu geführt, dass die Opfer keine Entschädigung für ihr erlittenes Leid erhalten (haben).

Andrea Petős Buch ist ein außerordentlich wichtiges, zugleich aber schwer verdauliches Buch, das sich eines Themas annimmt, das in der Öffentlichkeit kaum bekannt und zu selten erörtert wird. Die Verfasserin bettet ihr Thema in die internationale Forschung ein und zeigt damit vielfach überzeugende Parallelen und Unterschiede hinsichtlich der sexuellen Gewalt und ihrer Nachgeschichte in unterschiedlichen Ländern auf. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt überwiegend auf der Methodik und der Weise des Sprechens über die sexuelle Gewalt. Was einerseits die Stärke der Darstellung ist, könnte auch als ihr Mangel angesehen werden, nämlich das Fehlen einer eingehenden und vertieften Analyse von Primärquellen. Denn durch die Vielzahl der vorgestellten Deutungsansätze, Theorien, Vergleiche und Diskurse drohen die Aussagen von Zeitzeugen in den Hintergrund zu geraten, obwohl zu überlegen wäre, ob nicht eine eingehendere, vertiefende Analyse von Opferstimmen adäquater gewesen wäre. In seinem Buch Kipontozva… (Mit Punkten versehen… Sexuelle Gewalt in Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg)  von 2019 unternahm der ungarische Historiker Gergely Kunt ein Jahr nach dem ungarischen Original von Pető diesen Versuch, indem er mehrere Tagebücher ungarischer Frauen detailliert (einschließlich der verwendeten Begrifflichkeit) analysierte. Dennoch kann festgehalten werden, dass Petős Untersuchung einen eminent wichtigen Beitrag leistet, um sexuelle Gewalt in Kriegszeiten zu verstehen und ihr Buch daher auch jenen Lesern unbedingt zu empfehlen ist, die am Thema allgemein interessiert sind.

Titelbild

Andrea Petö: Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im zweiten Weltkrieg.
Aus dem Ungarischen von Krisztina Kovacs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
240 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783835350724

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