Ausflüge nach Doggerland

Poetische und poetologische Grenzgänge mit Ulrike Draesner

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Auszüge aus dem Text doggerland. Gedicht wurde Ulrike Draesner bereits 2019 mit dem Gertrud Kolmar Preis ausgezeichnet. Im Münchener Penguin Verlag liegt nun ihr Textvollständig vor: als im Hauptteil dreispaltig gesetzte 145 Seiten Text. Die linke Spalte, überschrieben mit „D“, listet deutsche Wörter oder Wortgruppen auf, die rechte Spalte bietet englischsprachige Pendants, die aber weder aus grammatikalischer noch semantischer Sicht erkennbare Zusammenhänge zu den deutschsprachigen Begriffen/Wörtern aufweisen. Dazwischen angeordnet ist die Mittelspalte – „Ausdeutschen“ –, in der sich ein vierzeiliger Text „entwickelt“, der aber für sich genommen zunächst keine Struktur aufzuweisen scheint, jedenfalls keine, die gewohnten Dichtungsmustern oder sprachlich aggregierten Sinnzusammenhängen folgt:

spannen       um zu äußern (outer, utter) dass                stretch
                    etwas (t-hing) ihnen (pleases) gefällt
                    weil es hängt oder eine angel ist (hinge)
                    geben sie viel (leave it) auf

Auch der zweite Textblock, nunmehr einzeilig, weist diese fremdartige Struktur auf:

Mund            die fleischige wand : bürzel                        bottom

So der Gedichtauftakt, und so fort, bis zum Ende.

Und das alles in konsequenter Kleinschreibung, gedruckt in einem ungewöhnlichen Querformat: man blättert von unten nach oben, statt von rechts nach links. So entfaltet sich das Gedicht doggerland in 8 Abschnitten, oder besser gesagt: Kapiteln, die dem Ganzen so etwas wie eine äußere Struktur verleihen: erstes bodenlebendie gängige märdie fremdendie suche nach dem habichtfell fellow klovhabicht /hab achtbook of songspost-drown-moments of glory. Diese Unterabschnitte, die den Fließtext unterbrechen, schlagen jeweils neue, unerwartete Richtungen ein.

Vorangestellt ist dem Gedicht eine Textseite, auf der der Begriff „Doggerland“ erläutert wird: Es handelt sich um ein nicht (mehr?) existentes Land, ein Delta von der Größe Deutschlands, in dessen Mitte sich ein See befindet, als Zusammenfluss von Themse und Rhein. Ein mittlerweile untergegangenes Stück Land, in der Eiszeit entstanden und benannt nach einem dort gesunkenen niederländischen Fischerboot vom Typus Dogger. Auf diesem mythenbewehrten Land lebte der mittelsteinzeitliche Mensch auf Tundra und Steppe, ausgesetzt den sich entwickelnden Vegetationsformen und der Fauna zu Wasser, zu Land und in der Luft. Auch die Sprache entwickelt sich, aber Benennungen und Namen sind heute „vergessen wie der Name des Grundes, dem sie ihre Knochen schenkten“. Diese Erläuterungen der Autorin stecken den inhaltlichen Rahmen des nachfolgenden Gedichts ab, ohne sie würde man sich im Text verlieren, wie gewohnt Sicherheit in Worten, Sätzen, Abschnitten suchend, oder nach strophiger Gedichtform.

Vielleicht blättert die Leserin oder der Leser aber auch gleich ans Ende des Buches, etwas perplex und nach weiteren Erklärungen suchend. Draesner bietet am Schluss ein alphabetisches Glossar von altenglischen, althochdeutschen Wörtern, das aber auch das Gotische, Griechische und das Sanskrit umfasst. Es sei unbedingt vor der näheren Lektüre empfohlen, es ist geistreich, auf- und erklärend gleichermaßen, abseits gewohnter Kompendien, Etymologien wie Sinnwörterbüchern; außerdem ist es mit einem gewissen Augenzwinkern geschrieben, eine Zugabe der vielfach mit Preisen ausgestatteten Autorin, die Mitglied nicht nur in der deutschen Akademie der Künste in Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, sondern auch als Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig lehrt und die außerdem ein beachtliches Gesamtwerk aus Gedichten, Essays, Romanen und Erzählungen vorgelegt hat.

Davor hat Draesner einen längeren Text eingeschaltet, unbedingt lesenswert und nebenbei ein poetologisches Meisterstück: Der Abschnitt „Zum Verfahren“ verspricht und liefert Aufklärung, darüber, was die Autorin sagen „möchte“ und warum sie es so sagt, wie sie es sagt:

Dichtung ist Grenzgang. Sie sucht das Entzücken, den Abgrund, Lob, Klage, Liebe, Krieg, eine Welt mit und eine ohne Ich, bezieht sich auf den Redegang als solchen (Sprechen, Verstummen, Schweigen, Stottern), macht Sprechbarkeit zu ihrem eigensten Prozess (was durchlaufen, im Metrum, im freien Vers aufgebracht wird). Dichtung ist liminal.

Hier beschreibt und charakterisiert Draesner ihre Herangehensweise und ihren Umgang mit sprachlichem Material, rechtfertigt ihren Grenzgang entlang einer Jahrtausende währenden Entwicklung der Menschheit. Dieser „liminale“ Prozess konstituiert „Ordnungen“ der Sprache und macht diese erkennbar.

Das heutige begriffliche Denken nähert sich dem Korpus von doggerland. Gedicht – durch die Spaltenanordnung sichtbar und lesbar gemacht – und greift gleichsam in dessen „Körper“ hinein, um zu ergründen, was auf der Landmasse in einem rasanten Klimawandel eigentlich vor sich ging. Draesner will die Naturgeschichte nachzeichnen und versetzt den Menschen und seine Sprache in dieses Urchaos einer an sich bedrohlichen Umwelt. Der sich entwickelnde Werkzeuggebrauch erstreckt sich ins Gedankliche, handwerkliches Geschick verbindet sich mit geistigen Visionen, Äußeres (Lautes) wandelt sich allmählich zu Innerem und leisem Sprechen. Vielleicht sollte man – dies ein Rat des Rezensenten – Teile des Textes auch mal laut lesen, bevor man allzuschnell zur gewohnten Stilllektüre übergeht.

Der Prozess des Aufzeichnens, das Schreiben, lässt sich laut Draesner nur innerhalb der angesprochenen „liminalen“ Begrenzungen nachzeichnen – „der Klangkörper des Gedichtes wird von den Gleisen der heutigen Sprachformen Englisch und Deutsch ‚gehalten‘“. Wie sich die Sprache entwickelt hat, das wird an „Konzepten“ erkennbar: wie an den Lautungen „Ohr“ und „ear“, „brüllen“ und „Rillen“, „roar“, „stride“ und „Streit“. (damit erklärt sich auch die Sinnhaftigkeit der linken wie rechten Rahmung des Gedichttextes).

Wenn man sich auf dieses Verfahren einlässt – und das sollte man, auch wenn dabei höchste Lesewiderstände auftauchen – enthüllen sich Etymologien, Wortverwandtschaften, historische Sprachstufen gleichsam von selbst, und vielleicht bemerkt man erst im zweiten Durchgang, beim sich nochmaligen Hineinarbeiten in doggerland, wie sich die Sprache, wie sich Denk- und Sprechräume entwickelt haben könnten, und bekommt einen Eindruck von der Beweglichkeit und Formbarkeit von Sprache; vielleicht erweitert sich auch der Blick auf manches Kuriosum des heutigen Sprachwandels, so wie ihn die Dudenredaktion (jeweils in nachträglichen Ergänzungen und Ausmerzungen) abzubilden vermag.

Ulrike Draesner gelingt dieser Abbildungsprozess mit Mitteln, die zutiefst poetisch und selbst sprachschöpferisch sind. Und sie tut dies auf eine ungewöhnliche Weise, die mit anderen Großgedichten der Gegenwart wenig zu tun haben mag.

Das sollte man wissen, bevor man zu diesem Buch greift, denn das Auge sucht vergebens Halt in Strophischem; Reim und Rhythmus (herkömmlicher Art) gibt es in diesem Text nicht. Der Leser hält vielmehr inne, wie im „Starren auf eine gut 10.000 Jahre alte Harpunenspitze, 1931 von einem Doggerboot aufgefischt.“ Und wir fragen uns mit der Autorin, „auf welche Artefakte unserer Welt Menschen in 10.000 Jahren starren mögen.“

Titelbild

Ulrike Draesner: doggerland. Gedicht.
Penguin Verlag, München 2021.
184 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601661

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