Dreiste Lüge, blanke Fantasie oder doch Realität?
Richard Evans zum Gehalt von Verschwörungstheorien im Kontext des Dritten Reiches
Von Stefanie Steible
Fünf der sich bis heute am hartnäckigsten festgesetzten Verschwörungstheorien aus der NS-Zeit hat der renommierte Historiker Richard Evans in seinem Werk Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien untersucht. Ausgewählt wurden dabei die Protokolle von Zion, die Dolchstoßlegende, der Reichstagsbrand, der Großbritannien-Flug von Rudolf Heß sowie die angebliche Flucht von Adolf Hitler aus dem Bunker.
Mit Akribie und Genauigkeit widmet sich der Autor diesen Theorien. Er zeigt jeweils auf, von wem sie erschaffen wurden, wer sie sich zu eigen gemacht hat und warum sie sich bis heute behaupten konnten, ja in Zeiten allgemeiner Verunsicherung und gesellschaftlichen Wandels sogar aktueller denn je erscheinen.
Evans zieht dabei den Vergleich zur aktuellen Situation, die Populismus befeuert und in der es Fake News leicht haben, glaubhaft zu erscheinen. Somit öffnet sich auch für alte Verschwörungstheorien das Tor zu einer neuen Anhängerschaft, die davon überzeugt ist, dass Geschichte von geheimnisvollen Verabredungen mächtiger Gruppen geprägt ist. Der Autor erklärt anhand seiner geschichtlichen Erzählungen zum Dritten Reich, wie es gelungen ist, die einzelnen Theorien am Leben zu erhalten oder sie mithilfe angeblich neu aufgetauchter Beweise, Zeugenberichte oder Dokumente sogar zusätzlich zu untermauern.
Dabei kommt eine Prise Humor nicht zu kurz, sodass sich das Buch trotz seines Umfangs und des Themas erstaunlich flott liest. Zudem verleitet es stets zum Weiterlesen, auch wenn noch so viele Quellen angeführt werden. Denn Evans liefert minutiös Belege zu seinen Darstellungen. Mithilfe dieser detaillierten Aufarbeitung und der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Ereignissen gelingt es ihm, ein Muster innerhalb der Theorien erkennbar zu machen.
Er stellt auch dar, wie es über das Internet als Medium und „Untergrund der Pseudoinformationen“ heute gelingt, „Botschaften schneller und weiter zu verbreiten, als dies vorher möglich war“, obwohl keine neuen Inhalte geliefert werden. Verschwörungstheorien beinhalten demnach eine „außerordentliche Detailversessenheit“, mit der auch winzige Einzelheiten übermäßig aufgeblasen werden, um im Gegenzug kleinste Unstimmigkeiten in den allgemein akzeptierten Hergängen der Geschichte einer Täuschungsabsicht zu bezichtigen.
Der Autor liefert jeweils eine Dokumentation von Literatur und Verfilmungen, Aussagen, Personalia und angeblichen Beweisstücken, die zu den einzelnen Theorien vorliegen. So bleibt es dem Lesenden überlassen, sich selbst eine Meinung zu bilden, denn er findet hierzu eine vollständig erscheinende Auflistung an Materialien. Weiterhin nimmt Evans auch stets die Perspektive ein, dass die Theorie Wahrheitsgehalt haben könnte und stellt diese Seite ebenso detailtreu und zugleich plakativ dar wie seine Gegenargumentation.
Anhand der angeblichen Flucht von Hitler aus dem Bunker erklärt er beispielsweise, dass unter der Annahme der Wahrheit dieser Behauptung „eine Verschwörung von beträchtlichem Ausmaß“ existiert haben muss, die „höchstwahrscheinlich auch Mitarbeiter von FBI und CIA umfasst haben musste“. Er stellt weiter infrage, warum „dann so viele der Beteiligten, angefangen mit Joseph und Magda Goebbels, die in das Komplott eingeweiht gewesen sein müssten, Selbstmord begehen sollen, anstatt die Gelegenheit zu nutzen und zusammen mit Hitler zu fliehen“.
Dieses imponierende Gesamtwerk richtet sich zwar in erster Linie an Politik- und Geschichtsinteressierte und natürlich auch diejenigen, die sich mit dem nationalsozialistischen Deutschland und seinen Wurzeln beschäftigen, aber es ist ebenso gut lesbar auch für diejenigen, die erstmals einen Einblick in die Gedankenwelt der Verschwörungstheorien gewinnen möchten. Vieles von dem, was aktuell diskutiert wird, rückt mit der Lektüre des Buches in ein anderes Licht. Evans ist es somit gelungen, die deutsche Historie des beginnenden 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus einem speziellen Blickwinkel aufzuarbeiten, der eine Gesamtschau schafft, die fasziniert, aber zugleich wachsam und sensibel für die aktuelle Situation macht.
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