Freischwebend in der Dauer-Krise

Peter Trawny reflektiert leichtfüßig und tiefschürfend zugleich die „Krise der Wahrheit“ demokratischer Gesellschaften – und weist das Beunruhigende als gesellschaftlich produktiv aus

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wahrheits-Begriff scheint gegenwärtig in gesellschaftlichen Debatten (wieder einmal) Hochkonjunktur zu haben und an vielen Stellen brandet gewissermaßen der Wunsch einer geradlinigen Positionierung sowohl in begrifflichen Fragen als auch in Bezug auf brisante Aspekte politischer Diskussionen auf: Von der Forderung nach „Einheitlichkeit“ in Fragen der Corona-Schutzmaßnahmen, über den Ruf nach „Geschlossenheit“ gegenüber rechtspopulistischen Strömungen bis hin zur Selbst-Versicherung der „ganzen Härte des Rechtsstaats“ in Anbetracht des Handelns von Straftätern – mindestens schimmert hier die Vorstellung einer nicht weiter hinterfragbaren, intersubjektiv geteilten und letztlich „alternativlosen“ Form von Wahrheit und Konsequenz durch, bei der der diskursive Raum der Aushandlung, die Ebene der Widersprüchlichkeit und Ambivalenz sowie die Möglichkeiten der Abwägung und (relativierenden) Einordnung in den Hintergrund geraten.

Der Philosoph Peter Trawny spielt bereits auf der Formebene seines Buches Krise der Wahrheit mit den Zuschreibungen an den Wahrheits-Begriff und lässt jegliche Erwartungen an eine Art Positionsbestimmung oder Leitlinie in Buchform, an einen klaren roten Faden, ein „Statement zur Gegenwart“ fulminant ins Leere laufen. Indem er stattdessen kleine Textminiaturen unterschiedlichster Perspektive, Akzentuierung und Sprache nebeneinander stellt, die allesamt im weitesten Sinne auf die Krisenerfahrung des Begriffs der Wahrheit rekurrieren, verneint er den Charakter einer hierarchischen „großen Erzählung“ und ermöglicht performativ genau das, was er in Hinblick auf die Idee einer vielstimmigen und perspektivabhängigen Form von Wahrheit im gesellschaftlichen Diskurs für zentral hält.

Inhaltlich stellt Trawny eine Einsicht ins Zentrum, die das Dauer-Geraune vom Ende der Wahrheit in allen Krisenerscheinungen (spätestens seit der Präsidentschaft von Donald Trump) insofern relativiert, als er die Problematisierung von Wahrheit als Standardsituation demokratischer Gesellschaften begreift, die ohne das permanente Ringen um Wahrheit in Autoritarismen (der einen gültigen Wahrheit) abdriften würden. Sein Diktum der „Vieldeutigkeit der Wahrheits-Krise“ impliziert auf diese Weise eine Krisenhaftigkeit von Anfang an – im Zusammenhang mit einer Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten zur Idee von Wahrheit.

Exemplarisch sichtbar wurde und wird dies am symphonischen Konzert der zuweilen gegenläufigen Stimmen aus Virologie, Sozialwissenschaften, Philosophie oder Pädagogik in Zeiten der Pandemie, die das „Wirkliche“ in seiner Diversifizität erst fassen und jeweils für sich unzureichend sind, erst in ihrem kombinatorischen Miteinander so etwas wie Annäherungen an Realität bieten. Über dieses Moment der Vielstimmigkeit schält sich auch das performative und konstruktive Moment einer Wahrheit heraus, die immer anthropologische, menschengemachte Züge trägt – die also eine Geschichte, Perspektivität und Subjektivität besitzt und damit stets gesellschaftlich bedingt ist. Bereits an sehr früher Stelle im Buch spürt man also, wie unglaublich leichtfüßig, sprachlich elegant und zugleich ungemein tiefschürfend Trawnys Dekonstruktion des gegenwärtigen Nachdenkens über Wahrheit seine Kreise zieht und eine starke Überzeugungskraft entfaltet.

Spannend werden seine Ausführungen auch da, wo sich der Philosoph an der Differenzierung von „Wahrheit“ und „Tatsache“ abarbeitet und damit auch ein wichtiges Schlaglicht auf gegenwärtige Diskussionen um das „(Post-)Faktische“ wirft, bei denen diese Differenzierung oftmals ausbleibt: Im Rekurs auf die Tatsache als historische nachprüfbare Wahrheit (zurückgehend auf die alte Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten) eröffnen sich die Möglichkeiten der Diskussion, die vor dem moralisch aufgeladenen Hintergrund einer „Wahrheitsfindung“ versperrt blieben. Jene Tatsachen machen notwendigerweise eine Interpretation nötig, müssen ausgelegt werden und sprechen keinesfalls für sich – wie mancher Bürgermeister im panischen Zuge der Pandemie irritierenderweise suggerierte. Aus dieser Deutung heraus entsteht erst der demokratische Diskurs, entsteht ein Ringen um Gemeinsamkeiten, entstehen die Grundlagen einer plural und immanent diskursiv verfassten modernen Gesellschaft. Damit aber findet sich „Wahrheit“ in einer Art Schwebezustand wieder, die permanenter Aushandlung und Neu-Kalibrierung bedarf.

Instruktiv ist auch Trawnys Einbettung der Funktionslogik sozialer Medien innerhalb des Wahrheitsdiskurses: Als personalisierte „Wahrheiten im Plural“, die angereichert von Affekten und Emotionen den Status subjektiver Wahrheiten innehaben, entziehen sie sich einer Nachprüfbarkeit, sind in ihrer Quantität schlicht überschaubar und erweisen sich aus sich selbst heraus als Beleg für die Unmöglichkeit der medialen Wahrheitskonstruktion. Gefahren sieht der Philosoph insbesondere in der Relativität eines dehierarchisierten Diskurses von Meinungen ohne Gatekeeper, zumal dieser suggeriert, dass alle diese Meinungen gleichrangig, gleich gültig sind.

Die Liste neuer Einsichten, die Trawnys Buch im Zusammenhang mit der Diskussion um „Wahrheit“, „Fakten“ und „Tatsachen“ ermöglicht, ließe sich in vielerlei Hinsicht weiterführen – am Ende zeigt sich ein tiefgreifend perspektivischer, vielstimmiger und hellsichtiger philosophischer Text, der im besten Sinne archäologisch um „Wahrheit“ ringt und dabei in einer Weise selbstreflexiv und selbstbewusst vorgeht, wie man es vielen anderen Publikationen gleichen Themas auch wünschen würde.

Titelbild

Peter Trawny: Krise der Wahrheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970654

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