Schlagschatten fragiler Individualisierung

Der Historiker Philipp Sarasin porträtiert in „1977“ das Ende der 1970er-Jahre als Ausgangspunkt einer neuen Gegenwart

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich braucht nicht gesondert darauf hingewiesen werden, dass historische Veränderungsprozesse sich wahrscheinlich höchstselten datieren lassen auf Ereignisse bestimmter Jahre – gerade bei so umfassenden Momenten gesellschaftlichen Wandels, die der Historiker Philipp Sarasin in 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart beschreibt. Wenn man dem Autor diese wahrscheinlich eher marketingstrategisch orientierte Zuspitzung seines ungemein reichhaltigen und vor luziden Verbindungen und Wissenszusammenhängen nur so strotzenden Buches nachsieht, kommt man sehr schnell in den Genuss eines Textes, der auf kompositorisch kluge Weise das biografisch Besondere mit dem strukturell Allgemeinen verknüpft und daraus eine Kontextualisierung unserer Gegenwart vornimmt, die erhellend und ernüchternd zugleich einen besonderen Sog entfaltet.

Die Genialität von Sarasins Annäherung an die komplexe Verknüpfung von aktueller Gegenwart und dem Ausgang der 1970er Jahre besteht vor allem in der formalen Idee, das Allgemeine im permanenten Dialog mit den biografischen Linien zentraler Bezugspersonen zu erhellen, sich fortlaufend also zwischen Zoom und Weitwinkel zu bewegen – und damit sowohl erzählerisch zu überzeugen, als auch eine Art archäologische Lesart des Historischen hervorzubringen, die nicht zuletzt seiner intensiven Foucault-Rezeption geschuldet sein dürfte. Sarasin sieht mit dem Jahr 1977 einen bedeutsamen gesellschaftlichen Wandel eingeleitet: Die Gesellschaft erweist sich als mehr und mehr zersplittert, das Ich singularisiert und privatisiert sich, dies alles scheint eingebettet in eine grundlegende Distanzierung von einem Denken im Kollektiv und einem politischen Klassendenken. Bei alldem rückt die biografische Selbstverantwortung des Einzelnen stärker in den Fokus, eine Art „Wahrheitsmoment im Subjektiven“ wird konstitutiv für eine auf persönliche Identität fixierte Gesellschaft. 

Aufschlussreich ist die in Sarasins Denken aufscheinende Dialektik, die dieser Identitätsbegriff mit sich bringt und die auch für die Grundstruktur des Buches konstitutiv wird: Beschreibbar werden ab dem Ende der 1970er Jahre sowohl sämtliche Bewegungen der Befreiung, Integration und Inklusion (in Richtung eines freiheitlich gedachten Individuums) als auch diejenigen Formen der Überbewertung von Partikularinteressen, der gesellschaftlichen Distanzierung durch ein Übermaß an Identifizierung und Individualisierung, bei dem das Allgemeine, das Verbindliche und Übergreifende aus dem Blick gerät. Dabei ist für Sarasin offensichtlich, dass das Individuum in seiner Abgrenzung immer Ergebnis eines Auseinandersetzungsprozesses in und mit der Gesellschaft, mit ihr also integrativ und relational verbunden ist und sich deshalb – trotz aller zunehmenden Schritte der Emanzipation – nicht von ihr loslösen kann und sollte. Angezeichnet ist hier auch die aktuell weiter zunehmende Gefahr einer solchen Separierung als eine Art Kippfigur von Individualisierung, der das Gesellschaftliche, das Verbindende, das Allgemeine gewissermaßen fremd wird.

Interessant sind nun die verschiedenen Ebenen, auf denen der Autor diesen gegenwärtig überaus sichtbaren und relevanten Veränderungsprozessen nachspürt – was keinesfalls so schematisch (und darin eigentlich unzureichend) geschieht, wie im Rahmen dieser Besprechung, sondern sich erst über verschlungene, kompositorisch hervorragend gestaltete Argumentationsmuster entwickelt. Politisch betrachtet stehen die Veränderungen im Zeichen einer post-ideologischen Epoche: Das moralische Desaster des Vietnam-Krieges (als Form des Kolonialismus) und der damit verbundene Ansichtsverlust der USA als westliche Vorbilddemokratie sowie das Ende aller linken Ideen einer Revolution zeigen sinnbildlich gesprochen vor allem eines: In den ausgehenden 1970er Jahren kippt eine vormals teleologisch ausgerichtete Weltinterpretation ins Regressive, das utopische Potenzial versandet in linksextremer Gewalt und schafft als Reaktion Übergänge in einen Sicherheits- und Präventionsstaat jenseits aller Ideologien, die von Foucault beschriebenen „Absicherungsgesellschaften“.

In dieser Brüchigkeit einer scheiternden gesellschaftsübergreifenden Veränderung liegt aber gleichzeitig das Potenzial diverser „Kämpfe um Anerkennung“ und der Rekurs auf Minderheiten, zeigt sich die Schaffung eines neuen Bewusstseins für die Bedeutung der Menschenrechte und etwa die Aufarbeitung des westlichen Rassismus. Bei alldem verschwimmen die politischen Aushandlungsräume zunehmend – Öffentlichkeit (gedacht als Ort politischer Interessen und Sachfragen) und Privatheit (verstanden als Ebene der Gefühle, der Subjektivität und Emotionalität) gehen schrittweise ineinander auf. Die darin zuweilen beklagte „Ideologie der Intimität“ und das Authentische als Argument, das Politische zu „privatisieren“, führen in der Perspektivierung Sarasins allerdings entscheidend weg von der Idee des Allgemeinen und des Gemeinsamen als Zielpunkt eines Politikverständnisses, bei dem das Private einstmals bewusst maskiert, reglementiert und zurückgedrängt wurde, um Verbindungen zum Anderen zu schaffen.

Die wirtschaftlichen Begleitumstände dieser Zeit stehen im Zeichen des Neoliberalismus: Als Antwort auf die kommunistischen Systeme (mit der Sowjetunion als zentrale Gefährdung der individuellen Freiheit des Westens) sowie auf die Krise westlicher Sozialstaaten, deren öffentliche Sektoren zunehmend aufgebläht erscheinen, erlebt die „freie Marktwirtschaft“ eine starke Aufwertung: Begründet in den Theorien Hayeks und der politischen Führung Thatchers entfaltet sich in diesen Jahren eine Austeritätspolitik in Fragen des Sozialen, die den „schlanken Staat“ externer Investitionen zum Zielpunkt von Ökonomisierung und Rentabilität erklärt – die bis heute ihre Schatten werfen. Aus dieser Rahmung geht ein Individuum hervor, das gewissermaßen die Imperative der Selbstformung und Leistungsorientierung zu Grundpfeilern der eigenen Lebensführung macht, wobei sich Ökonomie und Biologie (Stichwort: Sozialbiologie) zu einer Art Darwin’schen Anwendung der Idee von Wettbewerb und Auslese verbinden und die Leistungsfähigkeit der Gesellschaften steigern. Zum Sinnbild wird der disziplinierte, kontrollierte und leistungsorientierte Körper – als Fluchtpunkt einer physischen Form der Lebenskunst, bei der Bodybuildung, Fitness und Ernährung in neuartiger Weise wichtig und breitenwirksam werden (im Kontext einer „erarbeiteten Körperlichkeit“). Entscheidend wird das Bild eines „freigesetzten Ichs“, das Selbstermächtigung an die Stelle staatlicher Kontrolle, Fürsorge und übergreifender Strukturen setzt. Zur technischen Unterstützung dieses Lebensstils treten dabei mehr und mehr Gadgets und andere Medien in den Vordergrund, die einen stark individualisierten Weltzugang ermöglichen – zwischen der Überwachungsgefahr durch digitale Monopolstruktur und der zunehmend kultivierten Selbstformung und -disziplinierung durch das Ich selbst.

Kulturell (um rein künstlich einen letzten Bereich der weitaus vielfältigeren Darstellung Sarasins in den Blick zu nehmen) bringen die 1970er und 1980er Jahre einen ungeheuren Schub der Demokratisierung, Massenorientierung, Veralltäglichung und Diversifizierung der Kunst mit sich – bei der letztere nicht zuletzt und verstärkt zum individuellen Konsumgegenstand avanciert. Im treffenden Baudrillard’schen Bild des Centre Pompidou als „Kulturhypermarkt“ wird darüber hinaus die ökonomische Verflechtung des Künstlerischen evident. Einleuchtend im Sinne der „Hauptthese“ Sarasins ist abseits dessen die prägende Neu-Ausrichtung der Bedeutung des Sexuellen: Sex entwickelt sich dabei zum zentralen Bestandteil von Identität, wird mit Foucault gesprochen zur „tiefen Wahrheit des Subjekts“ und vollzieht damit – ebenso wie viele zuvor geschilderte Phänomene – eine wesentlich individualistische Stoßrichtung. Überhaupt wird der Begriff der „Selbsterfahrung“ zum bedeutsamen Schlüsselbegriff einer kulturellen Orientierung zwischen New Age, Esoterik, Drogenkonsum, orientalischer Spiritualität und Meditation.

Auch wenn der Gegenstand von Sarasins Text historisch vergangene Fluchtpunkte besitzt, ist sein unbedingt zu empfehlendes Buch unweigerlich vor dem Hintergrund gegenwärtiger Entwicklungen zu lesen: Seine in diesem Sinne folgerichtige „kurze Geschichte der Gegenwart“ belegt die Unabschließbarkeit des Vergangenen, und wird streckenweise auch interpretierbar als dezidiert gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit eben nicht naturgegebenen Entwicklungen. Das Buch plädiert mindestens implizit für eine fortwährende Arbeit am Gegenstand der Geschichte, die – folgt man Sarasin – an der gegenwärtigen Dialektik der Individualisierung und Identität ihre Hauptaufgabe zu sehen hat.

Titelbild

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
502 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587638

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