Das Unverlierbare der geschundenen Sprache

Jana Hrdličková spürt in „Zweiter Weltkrieg und Shoah in der deutschsprachigen hermetischen Lyrik nach 1945“ dem ‚Wahnsinn des Jahrhunderts‘ und seiner Poetologie nach – und überzeugt mit einem geschärften Blick auf die deutschsprachige Lyrik nach 1945

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hermetische Lyrik“ – auf diesem schillernden Begriff und Konzept fußt die überaus lesenswerte Studie der habilitierten und an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem (Tschechien) lehrenden Jana Hrdličková. Der im Berliner Wissenschaftsverlag Frank & Timme publizierte Text skizziert von vornherein eine diskussionswürdige Opposition zwischen Dialogizität bzw. Realitätsnähe auf der einen und Dunkelheit bzw. Unverständlichkeit und Rätselhaftigkeit auf der anderen Seite: Hrdličková versucht in diesem Zusammenhang zu verdeutlichen, dass die vielfach in dieser Weise apostrophierte „hermetische Lyrik“ nach 1945, die sich im Besonderen den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und der existenziellen Grunderfahrung der Shoah verschrieben hat (mindestens mit Blick auf die hier verhandelten Autoren und Autorinnen Paul Celan, Nelly Sachs, Ernst Meister, Ingeborg Bachmann und Erich Arendt), keinesfalls so verschlossen, rätselhaft und dunkel ist, wie allerorten dargestellt.

Einerseits ließe sich nun der These der Autorin in besonderem Maße zustimmen, zumal letztere kompositorisch gelungen Lebens- und „Werkbiografien“ der handelnden Personen verknüpft, en passant einen instruktiven lyriktheoretischen Überblick zu zentralen Positionen nach 1945 sowie wunderbare Formen des close readings und der textnahen Analyse bietet, um zu ihrer zentralen These zu gelangen: Das lyrische Schaffen der Autorinnen und Autoren, die sich im Besonderen ihren in der Nachkriegszeit wachgerufenen Traumata konfrontiert sahen, arbeitet sich realitätsnah und dialogisch kommunizierend an den erlebten Geschehnissen ab, transzendiert diese poetisch, verliert aber bei all dem nicht die Balance und erweist sich so zu keinem Zeitpunkt als „in sich gekehrt“.

Andererseits verdichtet sich beim Lesen des Textes mehr und mehr der Eindruck, dass der von der Autorin konzeptuell mitgedachte Gegensatz in sich schon problematisch, mitunter brüchig wird, gerade weil die außergewöhnlichen Poetiken der Autorinnen und Autoren das Hermetische als Realitätserfahrung – und zu keinem Zeitpunkt in Opposition dazu – denken und darauf gründend zu so etwas wie einer lyrischen Form der Lebensbewältigung gelangen, deren Eckpfeilern Hrdličková nachspürt.

Innerhalb dieses Kosmos an unterschiedlichsten Gedichten wird ein Verhältnis zur Sprache deutlich, über das die Sprache – nationalsozialistisch missbraucht, kontaminiert und eingehegt – trotz allem das letzte Refugium vor dem weiten Raum des Schweigens bleibt: Die Erfahrungen der Shoah, die Entsetzlichkeit von Auschwitz – wenn auch unzulänglich – sprachlich zu artikulieren (und damit das Diktum der Unmöglichkeit der Lyrik nach Ausschwitz ad absurdum zu führen), bildet eine Möglichkeit der Krisenbewältigung und scheint so etwas wie eine eigene Form der Ermächtigung zu sein, derer sich die Autoren und Autorinnen bedienen.

Auch wenn Sprache und Körper geschundene, wunde und von Geschichte(n) eingeschriebene, existenziell überaus wirkmächtige Größen sind, die auf diese Weise parallel gesetzt werden, offenbaren sich Möglichkeiten einer – wie Celan formuliert – „grauen Sprache“, mithilfe derer das „Dasein zur Sprache“ geht, „wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“. In einem solchen „Nachzittern des Grauens“ scheint jeder Wohlklang, jede Musikalität (um die Kategorien aufzugreifen, die vielleicht klassischerweise der Lyrik zugeschrieben werden) dahin; wichtiger als das wird zum einen ihr Realitätsgehalt (die Wahrheit der Schornsteine und Todesfugen), zum anderen ihr dekonstruktiver und ironischer Umgang mit allem Pathetischen, aller mythologischen Aufladung, was aus ihr eine fokussierte Sprache des gegenwärtigen Traumas macht, die die Allgegenwart des Krieges nach 1945 mitverhandelt.

Konkret führt Hrdličková diese Zusammenhänge vor allem in Form des Gesprächs von jeweils zwei Gedichten vor und entwickelt aus diesem Dialog und weiteren intertextuellen Bezügen (auch vor dem Hintergrund der am Anfang des Textes dargelegten theoretischen Positionen) ein facettenreiches Gesamtbild einer Lyrik nach 1945. Die „Artikulierbarkeit der Shoah“ changiert dabei zwischen dem Bewusstsein einer Ausweglosigkeit in der Sprache, der Unabschließbarkeit des Umgangs mit ihr, und einem resignativen Ton des Lieder-Singens „jenseits des Menschen“. Dies mutet weniger gegensätzlich an, als hier artikuliert; überhaupt liefert Hrdličkovás Arbeit untergründig einen neuen Zugang zum Hermetischen – möglicherweise auf eine andere Art und Weise, als die Autorin es beabsichtigt hat.

Titelbild

Jana Hrdličková: Zweiter Weltkrieg und Shoah in der deutschsprachigen hermetischen Lyrik nach 1945.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2021.
346 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783732907700

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch