Ein schwarzer Spiegel

Vincent O. Carter begegnet in „Meine weiße Stadt und ich“ der Schweiz mit dem Interesse eines Ethnographen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 20. Juni 1953 stieg der schwarze Ex-GI Vincent O. Carter in Bern aus dem Zug und erregte sogleich Aufsehen. Alle Augen richteten sich auf den dunkelhäutigen Mann. Er sei, sagte man später, der erste Schwarze gewesen, der in Bern gesichtet worden und hier hängen geblieben sei. Auch wenn das sicherlich übertrieben war, schien die Schweizer Hauptstadt damals noch nicht so recht bereit, einen wie ihn bei sich aufzunehmen. Nicht zuletzt deshalb bekundete Carter Mühe, eine Bleibe zu finden, wo er in Ruhe arbeiten, also schreiben konnte. Denn das war sein Traum: Schriftsteller zu werden. Und daran hielt er hartnäckig fest. Er richtete sich ein, besuchte Tea Rooms, sprach mit Fremden und schlenderte durch die Straßen der Stadt. Allmählich gewöhnte man sich an ihn, doch eines blieb ihm weiterhin nicht erspart: „ALLE, Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Katzen und andere Tiere, Wild- oder Haustiere, starren mich an – die GANZE Zeit.“ Bern war in den 1950er Jahren noch immer eine tief provinzielle Stadt in einem kriegsverschonten Land mit einer selbstgenügsamen Bevölkerung.

Ein paar Monate nach Carters Ankunft in Bern veröffentlichte der schwarze Schriftsteller James Baldwin einen Essay, Fremder im Dorf, worin er ganz ähnliche Erfahrungen festhielt. Baldwin hatte sich zwei Jahre vorher ins alpine Leukerbad zurückgezogen, um in der Abgeschiedenheit seinen ersten Roman Go Tell It on the Mountain zu schreiben. Auch er war im Dorf eine „Sehenswürdigkeit“, wie er schreibt, mit äußerlichen Attributen, die in den „Augen der Dorfbewohner ganz einfach übernatürlich, wenn nicht gar Teufelszeug“ darstellten. Selbst wenn dies eher naiv als böse gemeint sei, fährt er fort, wüssten die Einheimischen nicht, „welche Echos sie damit in mir auslösen“. Baldwins Essay erschien zuerst in Harper’s Magazine und zwei Jahre später im Band Notes of a Native Son, einem wichtigen Werk für die damals aufbrechende Bürgerrechtsbewegung.

Wie Baldwin ging auch der 1924 in Kansas gebürtige Carter eigene Wege. Im Krieg war er als Soldat in Europa stationiert gewesen. Dahin wollte er wieder zurück, weil er zuhause in Amerika für sich als Schwarzen keine Zukunft sah. In Paris gefiel es ihm, doch schließlich landete er in Bern. Mochten ihn hier die Ruhe und Provinzialität zuweilen auch befremden, so fühlte er sich in der beschaulichen Kleinstadt mit ihren zurückhaltenden Menschen gleichwohl aufgehoben. Mit dem Schreiben ging es indes zäh voran, bald war sein kleines Kapital aufgebraucht. Trotzdem scheute er sich, eine Arbeit anzunehmen, wie ihm geraten wurde: „Ich hatte Angst um mein Schreiben und noch mehr um mich“. Diese Angst war verständlich angesichts der sich bietenden Möglichkeiten. Einmal kam ein dynamischer Werbemanager auf ihn zu, um ihn als Bananenverkäufer anzuheuern, weil er, wie er treuherzig meinte, „dem Ganzen Farbe geben“ würde. Carter lehnte dankend ab. Lieber nahm er die Hilfe von ein paar treuen Freunden an, die ihm hin und wieder mit etwas Geld oder einem Essen über die Runden halfen. 

Vincent O. Carter blieb bis zu seinem Tod 1983 in Bern. Weil es mit der literarischen Arbeit nicht voran ging, verlegte er sich auf die Malerei, ebenfalls nicht sehr erfolgreich, um sich später der Mystik zuzuwenden, worin er in der Stadt einige Bekanntheit als „spirituelle Autorität“ erlangte. Sein Auskommen verdiente er als Englischlehrer. 

Sein einziges literarisches Werk, The Bern Book, erschien 1973 in New York. Vincent O. Carter hielt darin die Erfahrungen seiner ersten Jahre in Bern fest. Unter dem Titel Meine weiße Stadt und ich liegt es nun auch in einer deutschen Übersetzung vor. Dem Original war in den 1970er Jahren kaum Resonanz beschieden. Während James Baldwin den Rassismus und die Segregationspolitik präzise analysierte, wirkten Carters Schweizer Erlebnisse eher unspektakulär und stark auf die eigene Person bezogen. Carter klagte nicht an, sondern kehrte die Blickrichtung um. Seine Originalität besteht darin, dass er begann, die Berner Bevölkerung wie ein Ethnologe zu beobachten, zu taxieren und so allmählich auch etwas zu verstehen. Die erste Skurrilität bot sich ihm gleich schon bei der Ankunft im Juni 1953, als ihn ein historischer Festumzug erwartete, mit dem Bern seine 600-jährige Zugehörigkeit zur schweizerischen Eidgenossenschaft feierte. Er wurde Zeuge einer nostalgischen Inszenierung, die aus der Zeit gefallen schien. 

In seinen Beobachtungen erweist sich Vincent O. Carter als ausgesprochen kulturbeflissener, philosophischer Geist, der Kant liest, Beethoven schätzt und auf Goethe schwört. Auch wenn er sich zuweilen unbehaust und ausgegrenzt fühlt, versucht er, „den Aspekt meines Ich zu objektivieren“, indem er seine Stellung in Zeit und Raum überprüft. Er gewahrt an sich die „Illusion von mir selbst als ein von allen anderen unterscheidbares Wesen“, ja „als bloßen Gedanken von mir selbst“, wie er im Vorwort schreibt, um darin eins zu werden „mit allen anderen Wesen im Universum“. Im Gefolge dieser Introspektion ist er darauf bedacht, „schwarze“ Stereotypen zu (ver)meiden. Als ihm seine weißen Freunde einmal zu verstehen gaben, dass Gospel und Spirituals „den tiefsten Empfindungen von Schwarzen“ entsprängen, hält er ihnen vehement entgegen, dass die wahre Kunst anderswo liege, beispielsweise bei der schwarzen Opernsängerin Marian Anderson, die er Mahalia Jackson oder einem Gospelchor vorziehe, weil ihre Kunst „der Gipfel dessen (ist), was schwarzer Ausdruck erreichen kann“. 

Meine weiße Stadt und ich ist eine Mischung aus Beobachtung, Lebensbericht, Essay und Roman. Das Buch ist eine „sanfte Elegie des Zorns und des Zweifels“, wie Martin Bieri im Nachwort schreibt. Es ist ein Versuch, sich von der Frage zu befreien, warum er eigentlich nach Bern gekommen und hier geblieben sei. Die Antwort fällt ihm nicht leicht, aber schließlich bilanziert er, dass sein Leben „nun so sehr mit dem der Stadt verbunden (war), mit meiner eigenen persönlichen Geschichte der Stadt“. Im Versuch, diesen eigenen Status zu klären, hält er den Einheimischen einen „schwarzen“ Spiegel vor. Er zeigt ihnen, wo ihre naive Neugier gegenüber dem schwarzen Mitbürger eine rassistische Färbung erhält, die diesen herabsetzt und allein aufgrund der Hautfarbe verdächtigt. Das liest sich da am spannendsten, wo Carter seine Überlegungen und Beobachtungen aus den alltäglichen Erfahrungen heraus speist, beispielsweise in Gesprächen im Tea Room oder am Tisch seiner Vermieter im noblen Kirchenfeldquartier, an dem ebenso leidenschaftlich wie intelligent gestritten wurde. 

Weniger originell und zuweilen langatmig wirken hingegen Verallgemeinerungen zur Schweiz und ihren Bewohnern, die selbst in den betulichen 1950er Jahren kaum mehr Gültigkeit hatten. Ganz im Zeitgeist dieses Jahrzehnts verankert sind dafür Carters Frauenbild sowie sein wenig aufgeklärtes Urteil über die „künstliche Homosexualität“, die er für therapierbar hielt. Das sind Ausreißer im Rahmen einer intensiven Auseinandersetzung mit alltäglichem Rassismus. Pointiert und genau tippt Carter die sensiblen Punkte an, wenn er Neid und Kleinlichkeit, Angst und mangelnden Mut vor radikalen Ideen, den Konservativismus der Wohlhabenden in Bern aufs Korn nimmt. Doch mit der Jahresangabe 1957 lässt Vincent O. Carter sein Buch versöhnlich enden: „Je mehr wir verstehen, desto mehr lieben wir es“. Bern und Carter haben sich aneinander gewöhnt und miteinander versöhnt.

Titelbild

Vincent O. Carter: Meine weiße Stadt und ich. Das Bernbuch.
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda.
Limmat Verlag, Zürich 2021.
440 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260096

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