Kunstfehler als solcher
Der Schriftsteller-Arzt Ernst Augustin nimmt Schaden und nimmt Rache
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Literatur verdankt der – gar nicht so seltenen – Spezies des Schriftsteller-Arztes viel: Den Blick ins Leichenschauhaus und in die Krebsbaracke (Gottfried Benn), in die Abgründe sexueller Begierden (Arthur Schnitzler) oder in die Schocktherapien von Nervenheilanstalten (Rainald Goetz). Die Fallgeschichten Sigmund Freuds sind schon der Novellistik zugeordnet worden (vgl. https://literaturkritik.de/goldmann-alles-wissen-ist-stueckwerk-sigmund-freud-als-novellist,25973.html), und die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung benennt einen Preis nach Freuds Wissenschaftsprosa. Helmut Eisendle, promovierter Psychologe, schöpfte Romanstoffe aus ihr (Der Narr auf dem Hügel, Oh Hannah), und es wundert nicht, dass aus dieser neuen Psychologie wundersame Koryphäen und Sonderlinge erwuchsen: Iwan Bloch, Albert Eulenburg, Richard von Krafft-Ebing, Otto Gross, Magnus Hirschfeld, Leopold von Sacher-Masoch, Otto Weininger und viele andere.
Von Selbstverlust im Wahnsinn erzählt Alfred Döblin (Die Ermordung einer Butterblume, Berlin Alexanderplatz), vom Selbstexperiment Ernst Weiß (Georg Letham, Arzt und Mörder). Von seiner Krebserkrankung sang John Burdon Sanderson Haldane: „I wish I had the voice of Homer / To sing of rectal carcinoma.“ Nachdem ihm ein künstlicher Darmausgang gelegt worden war, hob er zu diesen Versen an: „So now I am like two-faced Janus / The only god who sees his anus.“
Ernst Augustin hingegen ging der Witz verloren, als er Opfer eines Kunstfehlers wurde. Davon erzählt (s)ein literarisches „Protokoll“ Das Monster von Neuhausen, und mit der dubiosen Diagnose eines Doktors ohne Titel, eines Neurologen, beginnt dort entsprechend Tobias Knopps Leidensgeschichte:
Knopp fiel auf, daß er auf der Straße beim Hochschauen auf, sagen wir, zwei Fenster, daß er das eine, das linke, jeweils etwas größer sah. Immer etwas größer und immer das linke. Und es dauerte zwei Monate, bis er das herausfand. Hätte er doch besser nicht!
Hinter seiner Stirn wird ein „gutartiger“ Tumor gefunden, „der nur wenig wuchs, der noch dazu an einer glücklichen Stelle saß.“ Gleichwohl fügt sich Knopp in die sofort angesetzte Operation, denn „wollte er blind werden?“ Nein. Doch sein vorschnelles Vertrauen in die Ärzte mündet in ein Trauerspiel „ersten Ranges“, eine „entsetzliche Tragödie“:
Da wird über der Stirn ein Portal geöffnet, eine Knochenplatte wird gesägt, ein breites Knochentor geöffnet, eine feine weiße Hirnhaut, ein hochverletzliches, bläulichzartes Hirn erblickt das Licht des Tages, blank und bloß, steht plötzlich frierend im Freien.
Ein Traumbild ersteht vor dem inneren Auge des Opfers, des Betrachters, während das Skalpell „frißt, was im Wege steht, Hypophysen, Epiphysen, bläulichzarte Hirnhaut, Wolken und Wind und einen weißen Sehnerv.“
Mit dem Meningeom ist dann auch das Augenlicht „entfernt“ – „Einen letzten Rest kann ich noch sehen. Groß wie ein Fünfmarkstück“ – und ist die Hypophyse geschädigt worden: ein nie wieder gutzumachender Schaden, denn der ganze Stoffwechsel bleibt auf immer gestört.
Ernst Augustin, der hier Selbsterlebtes, Selbsterlittenes außergerichtlich vorträgt, wurde zum Pflegefall. Er, der immer beweglich, schlank und weltgewandt gewesen war, veränderte sich, unmerklich zunächst, und wuchs sich zu einem weißen, bezopften „Monster“ aus – jenem gestaltlosen, teigigen Buddha im „teefarbenen Licht“ (Jan Bürger) nicht unähnlich, den er in seinem Roman Raumlicht. Der Fall Evelyne B. so eindrucksvoll beschrieben hatte. Denn das Wasser, das ihm in die Beine stieg, zerstörte die Gefäße und schlug den Körper aus seinem Gleichgewicht. Seine Füße entwickelten sich zu reptilienartigen, schuppigen Klauen und passten bald in keine Schlappen mehr – die schwerste Form des Lymphödems, die man sich vorstellen kann. Aus einem zauberhaften Wesen voller Poesie wurde am Ende ein unförmiger Kaschelott, der die Kissenflut seines Krankenbettes nicht mehr ohne Hilfe verlassen konnte.
In seinem „Protokoll“ einer Krankengeschichte nimmt Augustin Rache, führt sich selber vor: als Opfer eines übereilten Eingriffs, eines Kunstfehlers, eines zynischen Operateurs, der ihn überdies zum Simulanten stempelt – in der Vorlesung, vor künftigen Ärzten, die jener zweifelhaften Koryphäe in Weiß, die ihn operierte und dabei verstümmelte, an den Lippen hängen und deren schmutzigen Witze auf Kosten des Patienten mit Gelächter quittieren.
Peter Sloterdijk hat diese gespenstische Menagerie als „Medizinzynismus“ beschrieben (Kritik der zynischen Vernunft), Rainald Goetz hat sie aus der Praxis geholt und in die Literatur eingeführt (Irre), Dieter Spazier (Der Tod des Psychiaters) erzählt, wie diese marktschreierische Forensik darin gipfelte, dass der Patient seinen Arzt tötete. Ernst Augustin wählte die doppelte Perspektive: als Erzähler „auf der Galerie“, als Opfer „in der Manege“ sitzend. Sein „Wahrnehmungstraining“ (Jutta Osinski) in Romanform (Mamma, Schönes Abendland) nahm erzählend vorweg, was der Autor erduldete. Sein Mittel, sich zu wehren, aber war und blieb die Literatur – er ließ sich nicht verhärten, zumal der Kunstfehler für ihn nichts Sensationelles hatte: „Ich wollte im Grunde weniger das Krankheitsgeschehen als das Existenzielle des Menschen schlechthin darstellen.“
Sein pergamentenes Antlitz blieb bis ins hohe Alter schön und durchgeistigt – als ob Meditationen ihn in tiefe Bewusstseinslagen geführt hätten. Zuletzt glich er einem alten, erleuchteten Chinesen, den Blick ganz auf die innere Schau gerichtet.
Hinweise der Redaktion
Unser Mitarbeiter und ehemaliger Redaktionsleiter Lutz Hagestedt lehrt seit 2004 als Professor an der Universität Rostock, an der Ernst Augustin einst Medizin studierte. Er war ein Wegbegleiter und Freund des Schriftsteller-Arztes und hat das eben im Verlag C.H.Beck erschienene Buch „Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben“. Ernst Augustin zum Gedächtnis herausgegeben. Das Buch versammelt Texte von Augustin (Auszüge aus seinen Büchern, Reden und Interviews) und Beiträge über ihn (Laudationes und Aufsätze, Porträts, Essays und Reportagen, Beerdigungsreden und Nachrufe).
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