Auswege und Fluchtlinien
Der französische Schriftsteller Alain Damasio legt in „Die Flüchtigen“ ein episches Werk über unsere digitale Welt und die (Un)möglichkeit, ihr zu entkommen, vor.
Von Sascha Seiler
Der Anfang von Alain Damasios episch anmutendem Roman ist atemberaubend: Ein Mann sitzt in einem weißen Raum und sucht unter Beobachtung eines Forscherteams in diesem nach einem so genannten „Flüchtigen“. Dies sind, so lernen wir recht schnell, Kreaturen, die sich ebenso schnell wie geschickt assimilieren und bewegen können, so dass sie im Normalfall von keinem menschlichen Auge wahrgenommen werden können. Es stellt sich heraus, dass jener Mann, Lorca Varése, gerade bei einer geheimen militärischen Spezialeinheit nach jahrelangem Training die Abschlussprüfung als „Jäger“ ablegt. Seine zukünftige Aufgabe soll es sein, jene Flüchtigen zu fangen, was allerdings noch nie einem Menschen gelungen ist. Wie sich bei der Prüfung im weißen Raum nämlich zeigen wird, ist es erfahrenen Jägern durchaus möglich, unter extremer psychischer und vor allem auditiver Belastung – die Flüchtigen stoßen unheimliche, verwirrende Töne aus – ein solches Wesen zu sichten. Doch hat die Spezies die Eigenart, sofort zu Stein zu erstarren, sobald ein menschliches Auge sie erblickt; eine blitzartige Schutzreaktion, die ihrem langfristigen Erhalt dienen soll. Am Ende der Prüfung hat Lorca zwar den Flüchtigen im weißen Raum ertappt, aber dieser konnte sich dennoch, wie gewohnt, in harte Materie verwandeln.
Diese Eingangssequenz ist faszinierend und setzt die Stimmung für das erste, großartige Drittel des rund 850-seitigen Romans, in dem man so einiges über die Welt lernt, in der sich die Handlung entfaltet: Man schreibt die 2040er Jahre, eine nicht allzu ferne Zukunft, in der sich die Menschheit freiwillig und vollständig der Digitalisierung und den Überwachungsmechanismen des Internet hingegeben hat. Keine Bewegung, keine noch so leise Äußerung mehr, ohne dass Unternehmen dies erfahren und unmittelbar mit dem passenden Produkt zur Stelle sind, das in ein nächstgelegenes Schaufester projiziert wird. Der Konsumzwang ist allgegenwärtig und die Menschen stehen ihm fast ausnahmslos affirmativ gegenüber, auch wenn er mittlerweile in die intimsten Bereiche des Zusammenlebens vorgedrungen ist. Die Städte wurden allesamt privatisiert, das heißt an Unternehmen verkauft, die den Bewohnern wiederum verschiedene Kategorien des Bürgertums verkaufen. Fast jeder Mensch (außer einer kleinen Gruppe anarchistischer Verweigerer) trägt einen Ring, das Zukunfts-Äquivalent zum heutigen Smartphone, der alle Informationen über ihn speichert und diese dauerhaft dem Staat sowie der Industrie verfügbar macht. Als „Standardbürger“ kann man bestimmte Straßen oder Plätze nicht betreten, da braucht es mitunter die teure Platin-Mitgliedschaft. Bürgersteige sind mit Sensoren ausgestattet, die, mit Hilfe des Rings, erkennen, wer denn da lang läuft, damit ihm im nächsten Schaufenster ein passendes Produkt angeboten werden kann. Betritt man wiederum ein nicht freigeschaltetes Viertel, wird man von Drohnen bedroht.
In dieser Welt scheinen jene Flüchtigen eine Möglichkeit entdeckt zu haben, jener Dauerbeobachtung und dem Optimierungszwang zu entgehen. Aber was sind diese Flüchtigen, von deren Existenz die breite Bevölkerung nichts ahnt und die nur von einer geheimen Spezialeinheit erforscht und gejagt werden, überhaupt? Es scheint sich um Hybridwesen zu handeln, die in der Lage sind, stetig zu metamorphisieren, keine feste körperliche Form haben und auch keiner festen tierischen (oder menschlichen) Gattung zuzurechnen sind, auch wenn sie Versatzstücke verschiedener Tierarten vorweisen. Sie sind so schnell und wendig, dass sie mit dem bloßen Auge nicht gesehen werden können. Und Lorca, der Mann im weißen Raum, hegt die Vermutung, dass seine zwei Jahre zuvor verschwundene Tochter nicht wie vermutet Opfer eines Verbrechens geworden ist, sondern mit den Flüchtigen gegangen, möglicherweise selbst hybridisiert sei, auch wenn man (ehemalige) Menschen bisher nicht unter der Spezies vermutet. Aus diesem Grund hat er sich der Spezialeinheit angeschlossen.
Mit jedem weiteren Kapitel lernen wir mit Lorca und seinem kleinen, verschworenen, aber letztlich auch zunächst ahnungslosen Einsatzteam mehr über die Flüchtigen: Dass sie sich über Schall verständigen und dabei einen „Schauder“ aussenden, der gleichzeitig ihr Wesen ausdrückt. Dass sie in Form von „Glyphen“, in Materie eingeritzte Buchstabenformen, kommunizieren und sogar über ein eigenes Glyphenalphabet verfügen. Mit jeder Enthüllung sind sich Lorca und seine Frau Sahar sicher, sich ihrer Tochter anzunähern, bis sie einen gewagten Versuch unternehmen, diese herbeizurufen – und dabei in die Fänge des diktatorischen Staates geraten.
Ab diesem Moment, also etwa nach den ersten 300 Seiten, franst das Buch aus, der Autor verliert mehrfach den Faden seiner Erzählung, die immer absurder und leider auch oberflächlicher wird. Damasio gelingt es nicht, den eigentlich brillanten Plot gekonnt auszuerzählen, sondern verliert sich zunehmend in Banalitäten und mit der Dauer repetitiven Szenen. Die letzten 200 Seiten des Buchs schließlich sind eine wahre Qual und stehen dem wunderbaren Beginn somit diametral entgegen. Hierbei ist auch der Versuch, mit Sprache zu spielen, vor allem, die Buchstaben des Buches selbst als Glyphe zu verstehen und mit einer seltsamen Druckästhetik auszuschmücken, im Grunde zum Scheitern verurteilt. Dass jede der Figuren eine eigene Stimme in sich trägt, die einleitend stets mit einem persönlichen Satzzeichen geschmückt wird, sorgt zwar zum einen dafür, dass die Leser*innen wissen, wer da gerade seine Gedanken teilt, soll aber zum anderen das komplexe Spiel um Sprache und Schrift, das die Flüchtigen betreiben, irgendwie illustrieren – ohne dass man zwingend dahinterkommt, was das Ganze letztlich soll. Figuren „verlieren“ manchmal Teile ihrer Buchstaben wie die Flüchtigen ihre überflüssig gewordenen Gliedmaße. Bevor das Ganze, und das ist besonders ärgerlich, aber allzu experimentell wird, kehrt Damasio wieder zu normaler Schrift zurück.
Letztlich krankt dieser epische Roman daran, dass sich sein Autor nicht entscheiden kann, ob er einen actiongeladenen Science-Fiction-Thriller oder eine komplexe moralische Parabel auf unsere digitalisierte Gegenwart schreiben will und verliert sich zusehends zwischen diesen beiden Polen. So stehen teils kapitellange, ermüdende Verfolgungsjagden mitsamt Schießereien surrealen Passagen gegenüber, in denen die Absurdität der dargestellten Gegenwart offenbart wird. Auch die generelle Vorstellung einer dauerhaft mutierenden Spezies, die nur so den Zwängen der digitalisierten Überwachungsgesellschaft entkommen kann, ist sehr reizvoll und auch wunderbar ausgearbeitet. Gleichzeitig scheitert Damasio an Figurencharakterisierungen, inneren Monologen und anderem schriftstellerischen Handwerkszeug, das sich mitunter liest wie aus einem abgeschmackten Groschenroman. So ist Die Flüchtigen trotz der brandaktuellen und durchaus spannenden Prämisse leider ein etwas zweifelhaftes Vergnügen.
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