Franz Fühmann und die Literaturwissenschaft der DDR
Von Ralf Klausnitzer
Das Jahr 1976 beginnt für den Schriftsteller Franz Fühmann mit existentieller Ungewissheit: „Plan 76. – Wohin soll es führen. – / Nichts [kann] so bleiben“, notiert er am 1. Januar in seinen Taschenkalender. Der erste Monat dieses bedeutsamen Jahres verfliegt mit intensiver Arbeit am Werk von E.T.A. Hoffmann (zu dessen 200. Geburtstag am 21. Januar er in der Akademie der Künste mit einer weitreichenden und noch zu erläuternden Rede auftritt) sowie zahlreichen Korrespondenzen, u. a. mit den jungen Dichtern Frank-Wolf Matthies und Uwe Kolbe sowie Reclam-Verleger Hans Marquardt und dem stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke. Am 31. Januar 1976 schreibt Fühmann an den Philologen Gerhard Schneider, dessen Bändchen Studien zur deutschen Romantik er auf eine bevorstehende Reise nach Weimar mitnehmen will. Nach einigen direkten Worten gegen die „hier bestallte Germanistik“ (und also gegen die akademische und universitäre Germanistik in der DDR), die „in schöner Unanfechtbarkeit ihre Abstraktionsweise, nämlich die Fixierung aufs jeweilige Ideologische oder auf den literaturhistorischen Moment […] als die einzige Art und Weise der Literaturinterpretation auffaßt“, wird er persönlich: „Ich sehe nicht ein, warum das so sein muß, und was mich vor allem immer wieder verblüfft, ist diese Selbstherrlichkeit der Herren Professores, die gar nicht zu ahnen scheinen, daß es ringsum so was wie eine tiefe Krise der Lit.wissenschaft gibt. Nehmen Sie mir den Stoßseufzer nicht übel: Ich hab’s so satt.“
Es ist nicht die erste explizite Stellungnahme gegen die staatstragende Literaturwissenschaft der DDR, die der namhafte Schriftsteller äußert. Und es wird in diesem Krisenjahr 1976 nicht die letzte sein. Denn im Frühsommer erscheint der elfte Band der ,offiziellen’ Literaturgeschichte der DDR, der von Horst Haase und anderen Professoren ,fabriziert’ wurde und die Zeit zwischen 1949 und unmittelbarer Gegenwart behandelt. Von bitteren bis empörten Reaktionen darauf zeugen zahlreiche Briefe, die Franz Fühmann im Sommer und im Herbst 1976 schreibt; unter anderem an den federführenden Herausgeber dieser Literaturgeschichte, der an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED wirkt und mitsamt dem Herausgeberkollektiv den Nationalpreis der DDR erhalten wird an Wilhelm Girnus, der die renommierte Zeitschrift Sinn und Form herausgibt, und an die HU-Professorin Anneliese Löffler, die seit Juni 1971 als IM „Dölbl“ für das Ministerium für Staatssicherheit tätig ist und eine monographische Darstellung von Fühmanns Leben und Werk plant.
Dem ,alten Genossen’ Wilhelm Girnus, der in der NS-Zeit in Zuchthaus und KZ gelitten und nach später Promotion über Goethe zwischen 1962 und 1971 als Professor für Allgemeine Literaturwissenschaften an der Humboldt-Universität gewirkt hatte, bevor er sich als Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form für die Bewahrung von Freiräumen engagiert, erklärt Fühmann unumwunden: „Ich halte und empfinde diese Art Literaturgeschichte als ruchlos, nämlich als Betrügen einer Gesellschaft um ihre Erfahrungen.“ Gegenüber Anneliese Löffler wird der Schriftsteller in einem (nicht abgesandten) Schreiben noch direkter:
Ich halte diese Literaturgeschichte für perfid, und für eine Herausforderung der hier arbeitenden Schriftsteller, ich wenigstens fühle mich herausgefordert. Natürlich nicht nur wegen dieser 1 Passage […] – Das Entscheidende ist, daß diese Lit.geschichte perfid ist, weil sie eine Bevölkerung, eine Regierung und eine Literatur um ihre bitteren Erfahrungen prellt, und eine Beleidigung, weil sie dem Schriftsteller den Status eines beflissenen Ausführers von gefassten Beschlüssen zuweist; die Herausgeber mögen sich ja nun so fühlen. Das Verhältnis von Partei zu schöpferischer künstlerischer Arbeit wird auf ein Klein-Moritz-Niveau heruntergebracht, für das ich mir den einzig passenden Namen verkneifen möchte. – So. – Und dieses Ding fährt nun nach Frankfurt/Main und wird dort präsentiert, das ist die Literaturgeschichte, und ich steh da mit meinen Kollegen als Witzfigur, und das soll ich mir nun gefallen lassen.
Zugleich benennt der Autor die in der Literaturgeschichte der DDR praktizierten Umgangsformen mit der Textproduktion der Gegenwart als „Kriterium der Beziehungen zwischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, speziell Germanisten“. Dass diese Interventionen über den privaten Kreis hinaus gehen (sollen), zeigt sich daran, dass Fühmann seine Kritikpunkte in einem Schreiben an die Sektion Literatur der Akademie der Künste der DDR wiederholt und weiter entfaltet (auch wenn der Autor resignierend erklärt, „daß das Wort dazu jetzt die Kollegen Germanisten und Literaturwissenschaftler haben, welches Wort ich allerdings ohne erhebliche Spannung und Hoffnung erwarte“). Resultate seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik sind Folgerungen, die das nachhaltig gestörte Verhältnis zwischen Literatur und Literaturwissenschaft unter den Bedingungen des Staatssozialismus auf den Punkt bringen:
Dies ist eine: ich weigere mich ab jetzt, in irgendeiner Form mit dieser Gilde oder dem einzelnen Vertreter von der zusammenzuarbeiten, wenn nicht von Seiten der Germanisten eine Distanzierung und Klarstellung erfolgt […] 2. Konsequenz: Jede Literatur hat offensichtlich die Lit.geschichte, die sie verdient. Also muß man seinen Platz darin und sein bisher Geschriebenes überprüfen. Das tue ich jetzt.
Wenn im Folgenden anhand archivalisch hinterlassener Dokumente eines bedeutsamen Autors die Zusammenstöße zwischen DDR-Literatur und DDR-Germanistik im Krisenjahr 1976 nachgezeichnet werden, können die komplexen Relationen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft 1949–1989 verständlicherweise nicht vollständig und umfassend dargestellt werden. Der Nachlass des vielseitigen Schriftstellers Franz Fühmann, der im Archiv der Akademie der Künste Berlin verwahrt wird, und seine Arbeitsbibliothek, die 2003 für die Zentral- und Landesbibliothek Berlin gesichert werden konnte und seitdem ein Bestandteil der Historischen Sammlungen der ZLB ist, eröffnen jedoch gewinnbringende Einsichten in die Auseinandersetzungen zwischen Autorinnen und Autoren der DDR und ,ihren’ universitär bzw. akademisch angestellten Interpretinnen und Interpreten. Diese Konflikte entzündeten sich bekanntlich an der Aufsatzsammlung Verse, Dichter, Wirklichkeiten (1971) des Jenaer Germanisten Hans Richter, der heftigen Protest von Lyrikern geerntet hatte und Adolf Endlers öffentlich gemachte Diagnose vom „vollkommenen Abbruch der Beziehungen zwischen Germanisten und Poeten“ hervorrief. Sie schwelten weiter in den nun zu rekonstruierenden Protesten gegen den elften Band der offiziellen DDR-Literaturgeschichte im Sommer und Herbst 1976. Und sie führten zu einer nachhaltigen Entfremdung zwischen Autorinnen und Autoren und ihren wissenschaftlichen Interpretinnen und Interpreten, die bis zum weitgehenden Ausbleiben literarischer Reaktionen auf die sang- und klanglose Abwicklung der DDR-Germanistik nach 1990 reichte.
Die von Adolf Endler und Heinz Czechowski vorgetragenen Thesen vom „Abbruch“ der Beziehungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in der DDR hatte der aufmerksame Beobachter Fühmann sehr genau verfolgt. Die Materialien im Nachlass Franz Fühmann im Archiv der AdK und seine ca. 18.000 Einheiten umfassende Arbeitsbibliothek (mit Büchern, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten sowie Zettelkästen mit Zitaten, Stichwörtern, Schreibideen etc.) zeigen: Nicht nur für seine produktive Beschäftigung mit den Romantikern E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck, sondern auch für den großen Georg-Trakl-Essay und die von ihm initiierten Sigmund-Freud-Ausgaben sowie für seine publizistischen Wortmeldungen zur Poesie der Gegenwart hat Franz Fühmann zahlreiche literatur- und kulturwissenschaftliche Werke ,mit Buntstiften’ studiert und exzerpiert. Aus diesen Anstreichungen und Anmerkungen, Exzerpten und Texten lassen sich aufschlussreiche Einsichten in das ,öffentliche’ (publizierte) wie in das ,verdeckte’ (private) Verhältnis zur Literaturwissenschaft gewinnen. Sie beleuchten also die ,Vorder- und Hinterbühnen der Germanistik’, deren akademische Vertreter den Autor Fühmann beobachten und vom Beobachtungsobjekt ebenso genau wie kritisch beobachtet werden.
I
Der elfte Band der Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart mit Darstellung der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik war im Frühjahr 1976 erschienen; pünktlich zum IX. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei. Am 20. Juni 1976 wendet sich Franz Fühmann an den Leiter des Herausgeber-Kollektivs Horst Haase:
Sehr geehrter Herr Professor Haase, nach einem ersten Blick in die von Ihnen herausgegebene „Geschichte der Literatur der DDR“ möchte ich zunächst nichts anderes tun als um Auskunft bitten, wer mit dem, sich auf den VII. Schriftstellerkongreß beziehenden Halbsatz S. 784 gemeint ist: „doch wurden auch Stimmen laut, welche die ideologische Funktion der Literaturwissenschaft und -Kritik sowie den Ideologiecharakter der Literatur unterschätzten“. Ich erbitte Ihre Antwort nach 1605 Märkisch Buchholz 85 und bin bis dahin mit vorzüglicher Hochachtung F.
Hinter der knappen Bitte um Auskunft verbirgt sich eine emotionale Eruption, deren Hintergründe durch archivalische Überlieferungen einsichtig werden. Im undatierten Entwurf des Briefes an Horst Haase hatte der Schriftsteller nach Bitte um Auskunft zu den ominösen „Stimmen“ erklärt:
Die Frage ist eigentlich überflüssig, denn da ich als einziger zu dem Thema gesprochen habe, muß – und soll offenbar auch – jeder Leser diese durch ihre Anonymität an Perfidie schwer zu überbietende Passage auf mich und mein Referat beziehen. Abgesehen davon, daß diese Formulierung auch sachlich falsch ist – ich habe niemals über den Ideologiecharakter der Literaturwissenschaft oder -kritik, sondern ausschließlich von dem der Literatur gesprochen und kenne auch niemand, der das getan hätte – evoziert sie durch die pointierte Kontrastierung zur positiven Arbeit des Kongresses sowie durch die getroffene Wortwahl („wurden Stimmen laut“) eine Tätigkeit, die man wohl nicht anders als die von irgendwelchen dunklen Elementen hinter den Kulissen, wenn nicht gar von Agenten ansehen kann. (Daß – zum Unterschied von zahlreichen meiner Kollegen – jeder, auch der bescheidenste Hinweis auf meine Arbeiten der siebziger Jahre unterblieben ist, muß ich wohl auch in diesen Zusammenhang bringen.) Selbstverständlich werde ich mich mit dieser Wertung nicht abfinden. Ich erwarte dringend Ihre Antwort und bin bis dahin mit vorzüglicher Hochachtung.
Die ausweichende Antwort des Literaturwissenschaftlers Horst Haase kann als Musterstück unverbindlichen Taktierens gelten: Die angesprochene „Erscheinung“ habe sich „auf verschiedene Weise“ gezeigt, „sowohl in öffentlichen Gesprächen als auch in der Publizistik“, vor allem in den Zeitschriften Sinn und Form und Weimarer Beiträge. Zum Vorwurf der nebulösen Inkriminierung schwieg Haase ebenso wie zur Feststellung der literaturhistoriographischen Ignoranz gegenüber Fühmanns Werk der 1970er Jahre. – Eben dieses mehrfache Schweigen muss den Schriftsteller besonders aufgebracht haben. Denn im Jahr 1973 war (nach längerer und krisenhafter Schreib-Pause) das Werk erschienen, mit dem er selbst seinen eigentlichen Eintritt in die Literatur verband: der diaristische Prosatext Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, der seine Erlebnisse und Reflexionen während eines Ungarn-Aufenthalts im Herbst 1971 gestaltete und zeitgleich im Hirnstorff-Verlag Rostock sowie im Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. veröffentlicht worden war. Von Fühmann selbst zunächst nur als Teil eines „Bändchens“ Reisebilder geplant und noch im veröffentlichten Werk als „Büchlein Reisenotizen“ und „bißchen erweitertes Tagebuch“ bestimmt, sollte dieses Diarium mit einer Fülle genauer Wahrnehmungen und bohrender Selbstbefragungen eine so eigenständige ästhetische Qualität gewinnen, dass Fühmann später selbst resümierte, erst damit den „Eintritt in die Literatur“ vollzogen zu haben.
Entsprechend bitter reagierte der Autor auf die ausweichenden Rechtfertigungen des Literaturwissenschaftlers: Der Brief von Horst Haase sei „in hervorragendem Maße geeignet, sämtliche Fragen, die mir zu dieser Literaturgeschichte noch blieben, zu klären und zu beantworten“. – Zugleich kündigte der Schriftsteller an, als „selbstverständliche kollegiale Pflicht“ dem Autor Adolf Endler und der Redaktion der Zeitschrift Sinn und Form eine Abschrift dieses Briefwechsels zukommen zu lassen.
Die zirkulierende Korrespondenz mit dem Angehörigen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED führte zu Reaktionen, die ihrerseits ein bezeichnendes Licht auf die Verwerfungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft werfen. Sinn und Form-Herausgeber Wilhelm Girnus antwortete dem „lieben Freund Fühmann“ nach Einordnung der „Geschichte mit Haase“ als „nur komisch“ und erklärte zur Literaturgeschichte der DDR:
Hätten Sie nicht Lust, einige „Gedanken beim Lesen“ niederzuschreiben? Wir brauchen wieder einmal einen kleinen Kitzel, damit sich die Gemüter bewegen oder erregen, wie sie wollen. Augenblicklich haben wir wieder einmal totale Windstille im Literarischen. Mit der Germanistik bin ich schon lange fertig. Wenn wir nicht die Anglisten und Romanisten hätten!
Auf dieses Angebot ging Fühmann nicht ein. Er hatte Besseres zu tun. Denn in diesen Wochen beendete er seine Spiegelgeschichte, in der ein Parteisekretär in sich die Partei mit vermeintlich gottgleicher Allmacht und Unfehlbarkeit verkörpert sieht und aus der Rolle fällt, als er nicht einen Schritt aus dieser Rolle treten kann. Noch ahnte der Autor nicht, dass ein Literaturwissenschaftler der Universität Rostock ein (ablehnendes) Verlagsgutachten verfassen und die Publikation dieses Textes doch nicht verhindern würde. Als er sich bei Wilhelm Girnus bedankt, begründet er am 22. August 1976 die Strategie des Kommunikationsabbruchs:
Ich weigere mich ab jetzt, in irgendeiner Form mit dieser Gilde oder dem einzelnen Vertreter von der zusammenzuarbeiten, wenn nicht von Seiten der Germanisten eine Distanzierung und Klarstellung erfolgt (natürlich nicht bloß und gar nicht in 1. Linie wegen des im Brief berührten passus; der wäre das wenigste, der Brief ist schon wesentlich mehr; das Ganze ist unsäglich, es gibt kein andres Wort).
Wenn „das Ganze unsäglich“ ist, steht mehr auf dem Spiel als nur eine subjektive Verstimmung. Den eigentlichen Grund für seine empörten Reaktionen auf die Literaturgeschichte der DDR benennt Fühmann im Brief an die Universitätsgermanistin Anneliese Löffler:
Ich bin gegen jede Zensur, ich kann niemand hindern und ich will niemand hindern, mein Werk, das ein öffentliches ist, zu analysieren, zu besprechen usw. (ich will auch nicht den Herrn Prof. Dr. Haase dran hindern, was mich nur aufregt, ist, daß er ein Monopol hat, und daß dieses Monopol ein Germanist von der Berufsauffassung und Literaturauffassung eben des Herren Prof. Dr. Haase hat).
Um es thesenhaft verknappt zu reformulieren: Ein genau beobachtender Autor erkennt und benennt nicht nur asymmetrische Kommunikationsbeziehungen zwischen den Produzenten von Literatur und ihren staatlich alimentierten Historiographinnen und Historiographen. Mit der Diagnose einer Monopolisierung der Deutungshoheit durch ideologisch gebundene Interpretinnen und Interpreten stößt er zugleich in das Herz der staatssozialistischen Wissenschaftsauffassung vor und demontiert die offiziell propagierte ‚Einheit von Objektivität und Parteilichkeit‘.
Und er zieht die Konsequenzen. Was er im letzten Absatz des Briefentwurfs vom 7. Oktober noch vorsichtig formuliert hatte, gewinnt im endgültigen Brief vom 9. Oktober 1976 – dessen Durchschlag er an den befreundeten Hinstorff-Verlagsleiter Konrad Reich weitersendet – Entschiedenheit und Klarheit: „Liebe Frau Professor Löffler, ich rate Ihnen dringend ab, jetzt das Vorhaben der Fühmann-Biographie weiter zu verfolgen, und ich tue das, wiewohl es mich natürlich sympathisch berühren muß, daß die Wissenschaft sich meinen Bemühungen widmet.“ Die Gründe benennt er ebenso deutlich. Es ist die – auch von Anneliese Löffler repräsentierte – Germanistik der DDR, die im mehrfach kritisierten elften Band der Literaturgeschichte ihre nachhaltig abstoßende Vergegenständlichung gefunden hatte und deren Übergriff auf sein Leben und Werk den Schriftsteller ängstigt:
Diese Literaturgeschichte ist nun die Literaturgeschichte geworden, sie setzt die Maßstäbe, mit ihr wird gearbeitet, sie informiert, sie bestimmt das Bild von der DDR-Literatur für lange Zeit. Sehen Sie, und ich fürchte mich vor der Fühmann-Biographie. Ich würde eine Arbeit über mich nur dann durch Informationen, Beratung, Material usw. unterstützen können, wenn ich die Gewähr hätte, daß eine vollständige, allseitige, ungeteilte und rücksichtslose Darlegung dessen, „was ist“, was mit mir ist, was mir geschah, geschieht, möglich ist, und ich sehe das zur Zeit nicht gegeben.
Franz Fühmann hat die angekündigte „Überprüfung“ seines Platzes in der Literaturgeschichtsschreibung damit realisiert: Der Autor weigert sich, den literaturwissenschaftlichen Beobachtern seiner Gegenwart als epistemisches Objekt zur Verfügung zu stehen. Da er seine Korrespondenz aufbewahrte, stehen diese Sprech- bzw. Schreibakte der nachfolgenden Forschung zur Verfügung. Was bleibt, stiften die Archive.
II
Das bislang skizzierte Bild der Beziehungen zwischen einem namhaften Literaten und der Literaturwissenschaft im Krisenjahr 1976 ist noch unvollständig. Denn neben dem unheilbar zerrütteten Verhältnis zur universitären bzw. akademischen Literaturforschung der DDR entwickelt der Autor Franz Fühmann in dieser Zeit auch alternative Bindungen. Zum einen entsteht seit März 1976 die produktive Freundschaft mit der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Damm, die im Juni-Heft der Zeitschrift Neue deutsche Literatur eine ausführliche Besprechung von Fühmanns Essay-Band Erfahrungen und Widersprüche unter dem Titel „… nicht in der Schuld der Gesellschaft bleiben“ veröffentlicht. Für diese Reflexionen dankt der Autor nachdrücklich und bekennt,
daß mir Ihre Arbeit von fast allen anderen vergleichbaren, und zu manchen im strikten Gegensatz, deshalb so willkommen ist, weil Sie nicht versuchen, Schwierigkeiten abzuschwächen oder abzustumpfen oder abzubiegen oder gar zu vertuschen, sondern weil sie eben darauf, auf das Unbequeme und wenig Genehme, ausdrücklich hinweisen, natürlich mit dem vollen Recht zur Kritik, die ich mir allerdings öfter zugespitzter und präziser gewünscht hätte.
Zum anderen legt der Autor Fühmann in den großen Vorträgen zu E.T.A. Hoffmanns 200. Geburtstag nicht nur sein Bekenntnis zu jenem Romantiker ab, als dessen „treuer Knappe“ er sich seit mehreren Jahren sah. Im Auftritt vor der Akademie der Künste der DDR am 21. Januar 1976 benennt er zugleich eine Trias von intellektuellen Autoritäten, die als Antipoden der abgelehnten Universitätsgermanistik gelten können. Der erste dieser Gewährsleute ist der explizit als „mein Lehrer“ deklarierte Georg Lukács, von dem Fühmann vor den versammelten Mitgliedern der Akademie der Künste erklärt, dass er ihn nach wie vor „als Autorität und trotz krasser Fehlurteile als einen der bedeutendsten Philosophen des Jahrhunderts“ verehre und gerade in dieser Hinsicht bis in die Arbeit hinein ernst genommen“ habe. Bemerkenswert ist diese Berufung auch deshalb, weil Fühmann zu den Autoren, über die eine Debatte nicht geführt werden könne, weil ihre Texte nicht zugänglich seien, „sogar Lukács“ rechnete. Ohne diese explizite Auszeichnung, doch mit Zitation erscheint als zweite Berufungsinstanz Ricarda Huch, deren zweiteilige Gesamtdarstellung der romantischen Bewegung (in der fünften Auflage von 1917) Fühmann nutzte und aus deren Ausbreitung und Verfall der Romantik der Satz über die spezifische Tiefen-Wahrnehmung Hoffmanns entnommen und vorgetragen wird. Die dritte aufgerufene Geistesgröße birgt mehr Zündstoff: „Mit Hans Mayer, dessen Hoffmann-Essay ich mich dankbar respektvoll verpflichtet fühle, glaube ich nicht an einen künftigen Wahnsinn Kreislers. Kreisler ist wahnsinnig, Murr ist Philister.“ Denn auch wenn der hier aufgerufene Text Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmanns noch als Vorwort zur Werk-Ausgabe des Berliner Aufbau-Verlages erschienen war, galt der prominente Literaturwissenschaftler, der 1963 nach einer Vortragsreise in der Bundesrepublik geblieben war, in der DDR als persona non grata. Eine Nennung dieses ,Republikflüchtlings’ konnte als Signal verstanden werden, zumal Fühmann der „literaturwissenschaftlichen Praxis“ seiner Umgebung im gleichen Vortrag expressis verbis attestierte, „bis zum heutigen Tage“ nicht über eine „Begriffs- und Bildersprache nach wesensgemäßen Kriterien“ zu verfügen. – Um noch einmal zusammenzufassen: Die Trias der Bezugsgrößen Ricarda Huch – Georg Lukács – Hans Mayer bildet einen literatur- und kulturgeschichtlichen Referenzrahmen, dessen Brisanz vor der skizzierten Konfrontation mit der ,offiziellen’ DDR-Germanistik verständlich wird. Gegen die „Selbstherrlichkeit der Herren Professores, die gar nicht zu ahnen scheinen, daß es ringsum so was wie eine tiefe Krise der Lit.wissenschaft gibt“, entwirft der Schriftsteller eine Alternative, die auf den Lektüren eines genauen Lesers beruht und in den Büchern seiner Bibliothek sowie auf den Karteikarten seines Zettelkastens festgehalten ist:
Aufschlussreich bleibt die anschließende Diskussion von Fühmanns großem Akademie-Vortrag, von der selbst das SED-Zentralorgan Neues Deutschland berichtete:
Mit einer Veranstaltung ihrer Sektion Literatur und Sprachpflege würdigte die Akademie der Künste der DDR am Mittwoch E.T.A. Hoffmann aus Anlaß seines 200. Geburtstages. In einem Vortrag unternahm Franz Fühmann den Versuch, Eigenart und heutige Bedeutung des Dichters zu umreißen. […] In einem anschließenden Gespräch nahmen Günther Rücker als Gesprächsleiter, Wieland Herzfelde, Wolfgang Heise und Claus Träger das Wort. Es verdeutlichte aktuelle Probleme für die Beurteilung des Platzes der äußerst differenzierten deutschen Romantik in der Literaturgeschichte und ihres Wertes für das gegenwärtige geistige Leben.
Für solche Umgangsformen hatte der Interpret Fühmann kein Verständnis: In seinem Taschenkalender vermerkt er am 21. Januar 1976 die Präsenz der „Herren Wissenschaftler“, die mit „uns“ (also den Autoren) „Hase und Swinigel“ spielen und vorgeben würden, immer schon „da“ zu sein.
Hinweis der Redaktion
Der Essay ist eine gekürzte und ohne seine 36 Fußnoten veröffentlichte Fassung des in der Zeitschrift Scientia Poetica erschienenen Aufsatzes von
Ralf Klausnitzer: Literatur und Germanistik im Krisenjahr 1976: Franz Fühmanns Interventionen gegen die DDR-Literaturwissenschaft und ihre Folgen. In: Scientia Poetica, Band 25, Heft 1, Dezember 2021, Berlin: De Gruyter, S. 407-424.
(Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften / Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences. ISSN: 1868-9418. Hg. von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Gerhard Regn, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Friedrich Vollhardt. Wissenschaftlicher Beirat: Barbara Mahlmann, Moritz Epple, Monika Fick, Anthony Grafton, Herbert Jaumann, Diethelm Klippel, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Hugh Barr Nisbet, Wolfgang Proß, Jörg Schönert, Peter Strohschneider. Berlin: De Gruyter)
Wie danken dem Autor, den Herausgebern und dem Verlag für die Genehmigung zur gekürzten Veröffentlichung in literaturkritik.de. Informationen zum ganzen Band der Zeitschrift stehen auf der Verlagsseite https://www.degruyter.com/journal/key/scipo/25/1/html .