Erfundene Leben
Max Aubs apokryphe Schriften in einer aufwendigen Neuausgabe
Von Linda Maeding
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Wie kann es Wahrheit geben ohne Lüge?“ (¿“Cómo puede haber verdad sin mentira?“), dieses Motto stellt der große spanischsprachige Schriftsteller Max Aub (1903–1972) seinem Werk Jusep Torres Campalans voran, das 1958 erstmals erschienen und nun in einer aufwendigen Neuausgabe im Original wieder aufgelegt wurde.
Es ist ein vielsagendes Motto für ein Buch, das als Biographie eines Künstlers angelegt ist. Noch nie von diesem katalanischen Maler gehört, einem Initiator des Kubismus und Freund Picassos, dessen Bilder in verschiedenen Ländern ausgestellt wurden? Das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion ist verwirrend, das zeigt auch die Rezeptionsgeschichte, die für bare Münze genommenen Ausstellungen der Kunst Campalans‘ in Mexiko (1958) und New York (1962) – eindeutig ist dagegen Aubs Vorliebe für apokryphe Schriften, die ihn praktisch ein Leben lang begleitete. So ist die vorgebliche Biographie Campalans‘, die Aub veröffentlichte, in Wahrheit ein Roman. Aufgezogen ist dieses ungewöhnliche Werk wie ein Künstlerbuch, bestehend aus Prolog und Danksagung des Künstlers, Annalen, Biographie, Interviews mit Campalans und dem eigentlichen Werkkatalog, Zeichnungen und Gemälde. Die von Campalans/Aub gesetzten Fußnoten unterstreichen den Eindruck, wir hätten es mit einem authentischen Kunstbuch zu tun. Jedoch stammen die dem Maler zugeschriebenen Bilder in Wirklichkeit alle von Aub selbst.
Dank einer hervorragend edierten Neuauflage (2019) von Jusep Torres Campalans und anderer apokrypher Schriften des Autors, Teil der von Joan Oleza herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe im Verlag Iberoamericana / Vervuert, kommen spanischkundige Leser in den Vorzug, den Roman in einer aufwendig gestalteten Ausgabe (neu) lesen zu können. Die Bildbeigabe erfolgt in Farbe, und die Kommentierung der Herausgeberin dieses Teilbandes, Dolores Fernández Martínez, ermöglicht es Lesern, den Roman in den historischen und kulturellen Kontext seiner Zeit einzuordnen. Tatsächlich ist die Einführung und der kritische Apparat so umfassend, dass er sich als Grundlage für weitere Forschung anbietet; nicht-professionelle Leser werden hier eine Auswahl treffen und manches überspringen wollen.
Für das deutsche Lesepublikum benötigt Aub womöglich noch eine gesonderte Vorstellung, während er in Spanien mittlerweile zu den bekanntesten (und sicherlich zu einem der vielseitigsten) Repräsentanten des spanischen Exils zählt, auch wenn er erst recht spät als solcher Anerkennung erfuhr. Eine eigene Stiftung im valencianischen Segorbe widmet sich seinem Schaffen und der Erforschung seines umfangreichen Werkes. Aub selbst hat das Schicksal des in Franco-Spanien lange Zeit marginalen oder gar zensierten Exilschriftstellers schmerzlich empfunden und war bemüht, auch befreundete Autoren im Exil vor dem Vergessenwerden zu retten. Er ist also ein großer Vertreter, aber keineswegs repräsentativ für das spanische literarische Exil. Dafür sind Biographie und Werdegang zu ungewöhnlich: Die Sprache seiner Literatur, Spanisch, war nicht die Sprache der Eltern und des ersten Umfelds. Geboren in Paris, besaß der Autor jüdischer Herkunft drei Staatsbürgerschaften: die deutsche, die er von seinem Vater „erbte“, die französische aufgrund seines Geburtsorts und die spanische seit seiner Einbürgerung. Als 11-jähriger in Spanien angekommen, lernte er rasch Spanisch und gab später an, in keiner anderen Sprache schreiben zu können. Ungeachtet seiner intensiven Identifikation mit Spanien darf man ihn – ruhig emphatisch – als europäischen Exilanten bezeichnen. Im Bürgerkrieg, dem er sein wahrscheinlich bekanntestes Werk widmete, den Romanzyklus El laberinto mágico, ergriff er Partei für die Republikaner. 1939 folgte die Flucht nach Frankreich. Gemeinsam mit vielen anderen spanischen Franco- und deutschen Hitlerflüchtlingen interniert im Lager Le Vernet, kam er später ins algerische Lager Djelfa, bevor ihm die Flucht nach Mexiko gelang, wo er literarisch äußerst produktiv blieb und 1972 auch starb.
Aus seinem Werk, das neben den Romanen auch Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke und Essays umfasste, ist manches ins Deutsche übersetzt (so Das magische Labyrinth, 1999 bis 2003 erschienen, und einige Bände mit Erzählungen); auch liegt eine umfassende deutschsprachige Monographie (2012) des Romanisten Albrecht Buschmann vor. Selbst Jusep Torres Campalans ist 1997 beim Eichborn Verlag erschienen, heute aber vergriffen.
Umso mehr lohnt es sich, noch einmal auf den beim deutsch-spanischen Verlag Iberoamericana/Vervuert erschienenen Band IX der Gesammelten Werke hinzuweisen, der den apokryphen Schriften gewidmet ist. Er umfasst zwei Teile: Band A enthält Jusep Torres Campalans und, wie angemerkt, einen umfangreichen Anhang, mit Bildertafeln und einer ganzen Reihe von Dokumenten, die den Roman zeitgeschichtlich zu situieren helfen und erste Aufschlüsse über seine Rezeption geben: Varianten der publizierten Bilder, Fotographien sowie ein Inventar Campalans zugeschriebener Bilder. Der eigenwillige Roman kann als Kritik einer hyperventilierenden Kunstwelt gelesen werden; die Einleitung in den Roman zeigt aber auch auf, welche Anteile die Avantgarde und die visuelle Dimension an dem Text haben.
Band B enthält den Roman Vida y obra de Luis Álvarez Petreña (zwischen 1934 und 1971 wiederholt erweitert), ediert von Joan Oleza, – ein „Text von Texten“ und ebenfalls ein Künstlerroman in verschiedenen Versionen – ; sowie das spielerisch-avantgardistische Text-Kartenspiel Juego de Cartas (1964) in der kritischen Edition von Maria Rosell. Zu letzterem gehört eine Schachtel, die das titelgebende großformatige Kartenspiel enthält. Der „Roman“ ist nicht auf fortlaufenden Seiten geschrieben, sondern auf Karten verteilt, die gemischt und einzeln an die Spielteilnehmer verteilt werden. Auf der einen Seite befindet sich eine den spanischen naipes angelehnte Zeichnung, auf der anderen Seite jeweils ein Brief. In der Anleitung heißt es, jeder Spieler erhält eine Karte, die er in Gänze vorliest; dieses Vorgehen wiederholt sich der Reihe nach. Wenn alle verteilten Karten gelesen sind, werden Karten vom Stapel gezogen und vorgelesen, bis der Stapel aufgebraucht ist. Es gewinnt, so die Anleitung, derjenige, der errät, wer der immer wieder in den Briefen auftauchende Máximo Ballesteros war. Ein weiteres Augenzwinkern erlaubt sich Aub noch, da die Zeichnungen auf den Karten von niemand anderem als Jusep Torres Campalans stammen sollen. Das Kartenspiel stellt eine ganz besondere Symbiose aus Künstler- und Briefroman dar, aus Kunst und Literatur, ein „objeto-libro“, das lange Zeit schwer zu beziehen war. Es ist ein offenes Werk; die Reihenfolge der Lektüre ist nicht vorgegeben, sondern dem Zufall geschuldet.
Weitere Texte Aubs zählen zum Feld apokryphen Schreibens, sind aber hier nicht enthalten, wie etwa die späte Anthologie Imposible Sinaí (1967), die dem Prolog zufolge Übersetzungen von arabischen und hebräischen Gedichten aus dem Umfeld von Aubs Israel-Reise umfasst, die in Wirklichkeit aber vom Autor selbst stammen. Das Interesse, gar die Faszination für Apokryphe begleitet Aub also bis fast ans Lebensende. In der exzellenten Einführung zu dem nun vorliegenden Band situiert Joan Oleza den Schriftsteller in der europäischen Tradition apokrypher Schriften seit Ossian, mit besonderem Augenmerk auf der iberischen Ausprägung, bei Fernando Pessoa und vor allem Antonio Machado. Obwohl Aub diese mit den Kategorien Original und Kopie, Authentizität und Fiktion spielende Literatur immer wieder durch Phasen historisch-realistischen Erzählens durchbricht, ist diese Tendenz doch, wie Oleza überzeugend formuliert, unverkennbar mit der „phantasmagorischen Erfahrung“ des Exils verbunden.
Der Band bietet in diesem Sinne die Gelegenheit, sich sowohl mit einer besonderen Spielart von im Exil produzierter Literatur, als auch mit der europäischen Avantgarde, ihren Traditionen und Nachwirkungen neu auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt lädt er zu weiteren Übersetzungen aus dem Werk des Schriftstellers Aub ein.
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