Im Sprachsanatorium für kranke Wörter
In Emine Sevgi Özdamars neuestem Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ teilen sich die Lebenden mit den Toten eine so wundervolle wie grausame Welt
Von Nora Eckert
Für mich ist es einer dieser Romane, in denen man sich leicht verlieren kann, denn er öffnet unendlich viele Türen mit noch mehr Geschichten dahinter und alles ist sinnlich greifbar, voller Wirklichkeit und zugleich angefüllt mit Tag- und Nachtträumen. Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen, heißt ein im Volksmund beliebtes Zitat. Özdamars Reise dauert schon ein langes und bewegtes Leben an. Einem früheren Roman, in dem es um Kindheit und Jugend ging, gab sie dieses Bild als Titel: Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Jetzt also sind es die Schattenräume, die in der literarischen Lebensbilanz eine Rolle spielen. Doch ohne Licht gibt es keinen Schatten – deshalb ist von dem Licht mindestens genauso oft die Rede. Es geht immer von Menschen aus wie Lichtblicke und Erleuchtungen.
Dazu gehört ein erzählerisches Talent, das nie zu versiegen scheint. Alles zusammen, die Fülle des Lebens und die Lust des Erzählens, steht für das literarische Gelingen. Geboren wurde sie 1946 in der ostanatolischen Stadt Malatya und wuchs in Istanbul und Bursa auf. Sie entdeckt früh ihre Leidenschaft für das Theater, wird Schauspielerin. Der Militärputsch von 1971, mit dem eine Verfolgung der politisch Linken in der Türkei beginnt, macht einen Strich durch ihre Lebensplanung. Ihre Liebe zu Heinrich Heine und Bertolt Brecht lässt sie nach Deutschland fliehen, genauer gesagt in das geteilte Berlin. Im Osten arbeitete damals Benno Besson an der Volksbühne, ihm wird sie sich anschließen und nach dem Ostberliner Intermezzo nach Paris folgen, wo sie an der Inszenierung von Brechts Kaukasischem Kreidekreis mitarbeitet.
Dem Theater bleibt sie all die Jahrzehnte treu, und seit 1986 lebt sie auch wieder in Berlin, in einer Stadt, die sie „Draculas Grabmal“ nennt und die ihr bei der ersten Begegnung wie ein zahnloser Mund vorkam mit lauter Gedächtnislücken.Hinzugekommen ist das Schreiben – zunächst für das Theater, aber ihr Werkverzeichnis enthält mittlerweile umfangreiche Prosa, wobei in ihren Romanen das eigene Leben im Zentrum steht.
Das ist auch im neuesten Roman der Fall, in dem all das autobiographische Material eng verwoben ist mit Theatergeschichte. Ständig drängt sich die Politik hinein mit all ihren Verhängnissen und Verwerfungen, die Menschenleben zu Fehlkalkulationen werden lassen. Schon als nüchterner Bericht wäre das eine fürwahr dramatische Tour d’horizon durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit einer Horizontverschmelzung von Leben, Theater, Literatur und Politik. Bei Özdamar kommt das in einer am Surrealismus geschulten bilderreichen und poetischen Sprache mit Sinn für alles Absurde daher, die in ihrer Dichte fesselt und mit ihrer Fülle fasziniert und nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt – ganz zu schweigen von ihrer buchstäblichen Geistesgegenwart, die sie als politisch stets hellwach ausweist. Das hat ihr viele Preise eingebracht, darunter den Bachmann- und den Kleist-Preis, um nur zwei der bedeutenden herauszugreifen.
Hier zwei Zitate zur Illustrierung – einmal für die Bildhaftigkeit:
Das Morgenlicht draußen, das mit einem Bein noch in der Nacht stand, hatte sich durch Fenster über den Tisch und die Stühle schon hingesetzt und mit einem traurigen Schatten die Küche aus dieser Welt getrennt, um diesen Ort wieder den Toten zu geben, die einmal hier wohnten.
Und dieses für ihren politischen Blick (auf blutige Militärputsche und auf das Verbrechen gegen die Armenier, das sie offen ausspricht, um zugleich die Staatshörigkeit in der Türkei zu beklagen, wo ein Patriarch die Menschen schlagen und missbrauchen darf):
Töten ist in diesem Land erlaubt, weil das große Töten ab 1915 nie zur Rede gestellt wurde. Und dass sie so frei töten konnten, hat dieses Land, die Menschen, verfaulen lassen. Während die Getöteten unter der Erde verfaulten, verfaulten über der Erde die Tötenden und Schweigenden.
Der Roman verrät am Ende auch, was es mit dem Schreiben bei ihr auf sich hat, um sich zugleich über jene Kritiker lustig zu machen, die sich in der Vergangenheit gern mit der Frage beschäftigten, was an ihrem Schreiben denn nun türkisch sei. Das ist so lächerlich wie neulich der Vorwurf einer geschmäcklerischen Kritik, es gäbe Längen in dem neuen Roman. Nun gut, er hat einen Umfang von 765 Seiten – ist also lang, aber Längen konnte ich nicht entdecken. Doch was bedeutet ihr das Schreiben? Als Özdamar in den Siebzigern nach Deutschland kam, brachte sie ihre ‚kranken‘ türkischen Wörter in der Hoffnung mit, sie heilen zu können. Denn bei Brecht lernte sie die richtigen Sätze, was sie als Rettung begriff und so auch die beginnende Zusammenarbeit mit den Regisseuren Benno Besson und Matthias Langhoff.
Das wunderbare deutsche Theater heilte auch meine krank gewordenen türkischen Wörter und versprach mir eine Utopie. Und jetzt, nach dreißig Jahren, waren meine deutschen Wörter krank. Wohin, wohin mit diesen krank gewordenen deutschen Wörtern? Ich sprach mit Karl auf Türkisch, ich sprach auf Französisch mit mir. Das half etwas, aber die deutschen Wörter wurden nicht gesund.
Das Schreiben zieht sie nach wie vor in seinen Bann, denn das leere Papier sei wie eine Theaterbühne:
Ja, das Schreiben war wie das Theater eine Inszenierung. Man ist gleichzeitig in zwei Personen und in zwei Orten. Man versucht, mit Romanmitteln die Grenzen des Roman-Ichs zu verschieben, aber gleichzeitig verschiebt man seine eigenen Grenzen am Schreibtisch. Du bist das erste Ich. Und auf dem Papier ist das zweite Ich.
Beide würden Geheimnisse miteinander austauschen. Im Übrigen erinnert das an einen Gedanken von Botho Strauß aus Paare, Passanten, der davon sprach, wie man sich mit dem Schreiben nach und nach eine geistige Heimat schaffe, „wo man eine natürliche nicht mehr besitzt“. Auf Özdamars Leben scheint das in besonderer Weise zuzutreffen.
Diese geistige Heimat gibt es immerhin, mitunter auch nur in der Erinnerung, wenn sie beispielsweise aus einer Zeit in Istanbul berichtet, wo nationale Identitäten so gut wie keine Rolle spielten, wo keiner über das Griechisch-, Armenisch- oder Türkischsein sprach. Dafür kursierten Namen wie Pasolini, Fellini, Antonioni, Gramsci, Godard, Sartre, Camus, Bunuel, Nazim Hikmet – die Helden ihrer Jugend. „Es ging immer ums Glücklichwerden. […] Jeder liebte seine Freunde, wollte, dass die anderen lachten, diese Nächte liebten, Geschichten erzählten, damit das Lachen nie aufhörte.“ Und wenn ihre Großmütter seltsame Sätze sprachen, wie „Sie kommen, sie kommen uns abholen“, dann klang das nur komisch. Aber schon bald wurde daraus blutige Realität. Wer aus dieser linken Community aus Angst vor dem Militär und den nationalistischen Grauen Wölfen nach Europa verschwand, verwandelte sich unversehens und wurde, was bis dahin keine Rolle spielte, mit einmal jüdisch oder armenisch oder was auch immer.
Özdamar entschied sich für Deutschland und das Erste, was sie dann auf Deutsch las, war Kafka. Sie begreift recht schnell, dass der beste Türke der als Türke verkleidete Deutsche sei. Und auf einer deutschen Bühne sei eine türkische Frau nichts weiter als eine türkische Frau und die sei nun mal eine Putzfrau. Tatsächlich spielte sie diese Rolle und machte darin Karriere, als sie den Putzlappen gegen eine Bohnermaschine tauschte. Die Sache wurde schließlich zum Witz, und behielt dennoch ein Stück Ressentiment als Wahrheit. Andererseits findet sie auf einer Hauswand in Kreuzberg das Graffiti „Türken, bleibt hier. Lasst uns nicht mit diesen Deutschen allein!“
Am Anfang und am Ende gibt es eine Insel. Von dort bricht Özdamar nach Europa auf, das mit der griechischen Insel Lesbos in Sichtweite liegt. In Europa, so belehrt sie ein Bewohner der türkischen Insel, fällt der Strom nie aus, weshalb man nachts immer die Lichter von Lesbos sehen kann. Diese Insel wird zum Scharnier für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft:
1923 wurden die türkischen Griechen von hier nach Lesbos und Kreta transportiert und die griechischen Türken, die jahrhundertelang in Griechenland auf Lesbos und Kreta gelebt hatten, hierher auf die Insel geholt. Das nannten sie Austausch der Völker. Aber die Toten in den Gräbern konnte man nicht austauschen, die Friedhöfe blieben, und die Sprache konnte man auch nicht austauschen.
Der Roman ist auch ein Stück europäische Geschichte, gespiegelt in einem Leben, das sich seinen Reichtum mit der Literatur und dem Theater teilt. Und es ist vor allem eine Geschichte, die immer von Menschen ausgeht, die man liebt, verliert, verehrt und betrauert.
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