Hommage à Sophia

Mit einer dreibändigen Werkauswahl ehrt der Elfenbein Verlag Portugals berühmteste Dichterin: Sophia de Mello Breyner Andresen

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Sophia de Mello Breyner Andresen 1964 ihre Poetologie skizzierte, scheute sie mitnichten das Pathos: „Das Kunstwerk ist Bestandteil des Realen und es ist Schicksal, Erfüllung und Leben“, erläuterte sie metaphysizierend im Rahmen einer Preisverleihung. Und vergaß in der Dankrede dennoch nicht, nach den Anwesenden schließlich auch die Abwesenden, also: die Opfer der Salazar-Diktatur zu grüßen. Nicht nur ihr damaliges Werk, auch die Bücher, die noch geschrieben werden wollten, charakterisierte sie treffend mit diesem Spagat zwischen Ästhetizismus und einer Zugewandtheit jenen gegenüber, denen es erst das Ohr und dann die Stimme zu leihen gilt. Obgleich gläubige Katholikin, verweigerte sich de Mello Breyner Andresen, 1919 als Nachfahrin eines dänischen Einwanderers in gut betuchte Kreise Portos hineingeboren, dem staatspolitischen Schulterschluss zwischen Kirche und Faschismus. Vielmehr opponierte sie seit jungen Jahren gegen den Estado Novo. Freilich ohne jemals lyrisch agitieren zu wollen. Sie hatte einige Semester klassische Philologie studiert und verblieb seit ihren ersten Gedichten aus den 40er Jahren im Bann der Mythen, der antiken ebenso wie jener oft besungenen Meeressehnsucht des Heimatlandes. Ihr poetisches Werk ist gekennzeichnet durch die Suche nach Idealen, derer höchstes für sie stets die Gerechtigkeit gewesen zu sein scheint. Für eine Dichterin rührt dieser Umstand an zentrale Fragen der Darstellung; und tatsächlich, selbst im genus sublime wohnt ihrer Poesie noch eine unverkennbare Erdverbundenheit inne. In besagter Tischrede zeigte ‚a Sophia‘ – wie sie in Portugal liebevoll apostrophiert wird – sich dieses Umstands selbstgewiss:

Wer ein gerechtes Verhältnis zum Stein, zum Baum, zum Fluss sucht, wird zwangsläufig durch die Wahrheitssuche, die ihn beseelt, dazu gebracht, ein gerechtes Verhältnis zum Menschen anzustreben. Derjenige, der den überwältigenden Glanz der Welt wahrnimmt, wird folglich dazu gebracht, das überwältigende Leid der Welt wahrzunehmen. Derjenige, der das Phänomen erkennt, möchte das vollständige Phänomen erkennen. Es ist nur eine Frage der Achtsamkeit, der Folgerichtigkeit und der Sorgfalt.

Und man darf sagen, dass sie diesem Credo bis zu ihren letzten Gedichten treu geblieben ist. 1999 erhielt sie als erste Frau den „Prémio Camões“, das lusophone Büchner-Preis-Pendant. 2004 verstarb die Dichterin, deren sterbliche Überreste zehn Jahre später ins nationale Pantheon überführt wurden. 

Nun hat der Berliner Elfenbein Verlag, seit über zwei Jahrzehnten wohlverdient um die Vermittlung portugiesischer Literatur, eine dreibändige Werkausgabe zusammengestellt. Als deren Kernstück darf Die Muschel von Kos und andere Gedichte gelten, der de Mello Breyner Andresens zweiten sowie ihren letzten Gedichtband, der zugleich den Titel für die Auswahl spendete, umfasst. Ein Anhang präsentiert unter der einschlägigen Überschrift Artes Poeticae zudem fünf kurze Prosatexte, allesamt Juwelen. Gleiches gilt für ihre letzten Gedichte, fein ausziselierte Versgebilde und manche Meisterwerke wie In meinem Land:

Die kleinen inständigen Städte
Wo die Zeit nicht zerrinnt sondern dauert
Und jeder Atemzug an den Wänden bei der Kreuzung widerhallt
Und das blonde Gesicht Lauras an dem schiefen Fenster erscheint
Und der Verliebte mit der unbeugsamen Stirn eines Stiers
Vergeblich nach ihr sucht dort wo sie nie ist
– Kommen wir vorbei schnürt es uns hier die Kehle zu
Derweil ein schlanker hochgewachsener Mann
Den breitkrempigen dunklen Hut gerade herunterzieht
Bis vor die Brust und vertikal sein Haupt entblößt
Als er die geheiligte Schwelle des Hauses übertritt

Sie stehen neben Portraitgedichten wie Der Infant, die so gerafft und gleichzeitig gelassen höchstens Konstantinos Kavafis geschrieben hat, und der Ode in Anlehnung an Horaz, in welcher de Mello Breyner Andresen, ihres Zeichens auch Shakespeare-Übersetzerin, am Lebensabend noch einmal die Kunst reflektiert. 

Gegenüber diesem poetischen Vermächtnis muss es den frühen Gedichten aus Meerestage schwerfallen, mitzuhalten. Zwar gestattet die formale und auch thematische Unterschiedlichkeit der beiden Sammlungen, zwischen deren jeweiliger Veröffentlichung immerhin ein halbes Jahrhundert liegt, bedeutende Einblicke in die dichterische Entwicklung. Doch der Band ist 150 Seiten lang und kann die Konzentriertheit, die einzelne Gedichte wiewohl auszeichnet, auf die Dauer nicht aufrechterhalten. An den Übertragungen ins Deutsche liegt das jedoch nicht. Diese zeigen Sarita Brandt als famose Lyrikübersetzerin, die auch bei strengen Strophenformen und Reimabfolgen plausible Lösungen findet. Als Probe aufs Exempel mag der Anfang von Die Grotte des Camões dienen: 

Dentro de mim sobe imagem dessa gruta
Cujo silêncio ainda escuta
Os teus gestos e os teus passos.

Vor meinem Auge entsteht das Bild jener Grotte,
In deren Stille noch immer hallen
Deine Gebärden und Schritte.

Brandt tauscht nicht nur das Reimschema, sie schleift den Gleichklang auch dezent. Diese Freiheiten sind bei der Übersetzung von Poesie nicht nur legitim, sondern unabdingbar. In einer Auswahledition de Mello Breyner Andresens, die vor einigen Jahren das Duo Maria de Fátima Mesquita-Sternal und Michael Sternal für die edition textura besorgte, wurde der Fokus stattdessen auf den Transport der Bedeutung gelegt, wodurch manche Gedichte im Deutschen mitunter ungelenk wirkten.

Auch für das instruktive Nachwort verdient Sarita Brandt unbedingt Lob. Gleiches gilt für ihr Vorwort zu einem weiteren Band der Werkausgabe: Der Zigeunerchristus. Ein kompositorisch avancierter Gedichtzyklus aus dem Jahre 1962, der zeitlich gesehen zwischen den beiden bereits erwähnten Sammlungen steht und mit seinem Umfang von gerade einmal 40 Seiten auch zwischen diesen im selben Buch hätte stehen können. Der Sonderdruck erschließt sich höchstens in Hinblick auf die finanzielle Zuschusspolitik des portugiesischen Kulturinstituts.

Ebenfalls auf das Jahr 1962 datiert ist die Erstausgabe der Exemplarischen Erzählungen, die sich, wie ein vorangestelltes Motto unterstreicht, an Cervantes‘ Novelas ejemplares orientierte. Wobei der Autor des Don Quixote derer zwölf, de Mello Breyner Andresen acht solche Erzählungen verfasste. Mit der Gattungszuschreibung sollte man es derweil nicht zu ernst nehmen, mindestens drei der Texte sind eher Charakterstudien, kurze Psychogramme wie Ein Portrait von Moníca, bei dessen Lektüre sich gleichsam die Frage stellt, ob es sich wirklich um viel mehr als eine schriftstellerische Fingerübung handelt. Andere sind auto- oder wenigstens semibiographische (Kindheits-)Erinnerungen wie Homer oder das im besten Sinne der eigenen Poetologie empathische Der Mann. Was man dort oder auch in der verhältnismäßig umfangreichen Auftaktgeschichte Das Abendessen für den Bischoff, in der Personen und Dinge aus dem Nichts auftauchen und wieder in selbiges verschwinden, für magischen Realismus halten könnte, hat sein Fundament eher im katholischen Wunderglauben. Den weiß de Mello Breyner Andresen durchaus zu inszenieren, ohne ihm zu verfallen. Am Strand dagegen wirkt wie eine lupenreine Kurzgeschichte, die die nahe Ferne des Zweiten Weltkriegs vom Strandclub des neutralen Portugals aus betrachtet, atmosphärisch dicht von Michael Kegler ins Deutsche übertragen. Leider lässt sich diese Sorgfalt dem Korrektorat nur mit Abstrichen attestieren, schließlich trüben manch fehlende Satzzeichen und Buchstabendreher das Erscheinungsbild.

Als zentrales Werk wird oftmals der Band Livro Sexto gehandelt. Man darf bescheiden hoffen, dass sich dem Elfenbein Verlag einst die günstige Gelegenheit bieten mag, ihn der bestehenden Werkauswahl hinzuzufügen. Denn mit Sophia de Mello Breyner Andresen ist eine große Dichterin des 20. Jahrhunderts zu entdecken, was vor allem jene Gedichte aus Die Muschel von Kos eindrucksvoll belegen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sophia de Mello Breyner Andresen: Die Muschel von Kos und andere Gedichte. Portugiesisch – Deutsch.
Aus dem Portugiesischen von Sarita Brandt.
Elfenbein Verlag, Berlin 2021.
250 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600526

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Titelbild

Sophia de Mello Breyner Andresen: Der Zigeunerchristus. Gedichte.
Sarita Brandt.
Elfenbein Verlag, Berlin 2020.
40 Seiten, 6 EUR.
ISBN-13: 9783961600519

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Titelbild

Sophia de Mello Breyner Andresen: Exemplarische Erzählungen.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Elfenbein Verlag, Berlin 2021.
200 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600533

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