Die fünf Zacken des Pentagramms

Versuch einer Deutung von Michel Houllebecqs neuem Roman „Vernichten“

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zahlreichen Anhänger des enfant terrible der Weltliteratur müssen in Hinblick auf seinen neuesten Roman, der den eigentlich vielversprechenden Titel Vernichten trägt, erst einmal ganz stark sein: Keine Skandale, keine Diffamierungen, keine Provokationen. Wobei letzteres vielleicht doch: In der unaufdringliche Langsamkeit und dem auf den ersten Blick inkongruenten, nichtssagenden Plot mit seinen zahlreichen ins Leere laufenden Geschichten liegt möglichweise die ultimative Provokation. Zumal Michel Houllebecq in der Danksagung andeutet, es sei nun an der Zeit, mit dem Schreiben aufzuhören. Ist der französische Provokateur also tatsächlich, wie zahlreiche Rezensionen bereits nahelegen, altersmilde geworden? Vielleicht, aber gerade deswegen ist dieser auf den ersten Blick so unzusammenhängend und schlampig komponiert wirkende Roman vielleicht sogar sein größter geworden.

Tatsächlich muss man annehmen, wäre Houllebecq nicht der weltberühmte Autor, der er nun mal ist, dass jeder Lektor ihm das Manuskript um die Ohren gehauen und ihn in eine monatelange Klausur geschickt hätte. Da sind zunächst einmal technische Unzulänglichkeiten: Während der Fokus des über 660 Seiten langen Romans – dem umfangreichsten seiner Karriere – eigentlich konsequent auf der personalen Erzählstimme des Protagonisten Paul liegt, wechselt diese in der Hälfte des Buchs unmittelbar für kurze Abschnitte mitten in einer Szene hin und wieder zu einer anderen Figur. Auch dass der Plot auf den letzten ca. 120 Seiten plötzlich vom Universellen vollends ins Persönliche kippt und Houllebecq seine ganzen zuvor aufgebauten Themen und Motive scheinbar unaufgelöst vergessen hat, wirkt äußerst verstörend.

Zumal diese zeitweise richtig spannend anmuten: Vernichten beginnt mit einem Thriller-Plot um Cyber-Terroristen, die verschlüsselte Botschaften im Netz hinterlassen, vor allem technisch perfekt produzierte kryptische Videos, die zunächst nicht gedeutet werden können, dann aber als Vorboten tatsächlicher Terroranschläge erkannt werden, bevor weitere folgen, welche diese dann auch in aller Deutlichkeit zeigen. In einem der frühen Clips sieht man die fingierte Enthauptung des Wirtschaftsministers. Er ist Vorgesetzter vom Paul, einem spießigen Bürokrat im mittleren Alter und somit einer typischen Houllebecq-Figur, die jegliche Illusionen über das Leben zugunsten einer unüberwindbaren Mittelmäßigkeit aufgegeben hat.

Dieser Paul lebt zwar – kinderlos – mit seiner Ehefrau Prudence zusammen, doch seit zehn Jahren ist das Paar getrennt, teilt sich nur aus praktischen Gründen die gemeinsame Wohnung. Tatsächlich wird der Thriller-Plot bald zugunsten der Eheprobleme Pauls vernachlässigt; zwar greift der Autor ihn immer wieder am Rande auf, aber im Laufe des Romans versandet er zusehends. Dafür kommt ein zweites spannendes Element in die Handlung. Während Paul und Prudence wider Erwarten beginnen, sich langsam wieder anzunähern, bekommt Paul mit, dass seine Frau sich der Wicca-Bewegung angeschlossen hat, einer neopagane Mysterienreligion, deren Mitglieder sich im Allgemeinen als Hexen verstehen. Das okkulte Element hält nicht nur Einzug in den Roman, ein Cyber-Experte, der gleichzeitig Death-Metal-Fan ist, bringt es sogar mit den Terroranschlägen in Verbindung. Doch wer gehofft hätte, dass der Wicca-Kult eine entscheidende Rolle spielen würde, wird ebenso enttäuscht – auch er verschwindet kommentarlos aus dem Roman. Und auch einer rechtsextremen Befreiungsbewegung wird zeitweise viel Raum gegeben, bevor sie wieder sang- und  klanglos verschwindet, um erschöpfend die Familiengeschichte Pauls und seiner beiden Geschwister, der streng religiösen Cécile und des lebensfremden Künstlertypen Aurelién, zu erzählen.

Irgendwann beginnt man sich jedoch zu fragen, ob all das kompositorische Chaos, das Houllebecq hier verbreitet, nicht einem höheren Zwecke dient. Ohne zu viel verraten zu wollen, fällt auf, dass Vernichten zum einen eine geistige Verwandtschaft mit Christian Krachts 1979 vorweist, einem Roman also, der ebenfalls opulent beginnt, zahlreiche politische, historische, kulturhistorische und tatsächlich auch okkulte Motive darbietet, die alle im Zusammenhang der im Mittelpunkt stehenden De-Evolution des Protagonisten verschwinden. Einen ähnlichen Weg der erzwungenen Reduktion auf das Wesentliche des Menschseins macht auch Paul durch, bis am Ende nur noch das Gefühl von transzendentaler Liebe bleibt, und dann vielleicht nicht einmal das. Und doch stellt er sich letztlich die Frage, was es bedeutet, zu leben, Mensch zu sein, eine Existenz zu haben, die zwangsläufig – hier erklärt sich der Titel des Romans, der in all seinen Facetten durchgespielt wird – vernichtet werden muss.

Es ist gibt aber noch eine zweite, die obige ergänzende Lesart dieses Romans, die seine scheinbare Inkongruenz erklären könnte. Tatsächlich sind alle auftretenden Hauptpersonen Archetypen, denen im Stile der Commedia dell’arte jeweils eine Funktion zukommt. Gemeinsam zeichnen sie, im Zusammenhang des leitmotivischen Pentagramms, ein fünfzackiges Gesellschaftsmodell, in dessen Mittelpunkt wahlweise Frankreich oder möglicherweise gleich die westliche Welt steht, die kurz vor ihrer Implosion, ihrer – wieder der Titel – Vernichtung steht. Hierbei steht Paul selbst für diese westliche Welt und die fünf Figuren, die um ihn kreisen, für die Elemente Politik (der Minister Bruno), Religion (seine Schwester Cécile), Kunst (sein Bruder Aurelién), die Finanzwelt (sein Schwager Hervé) und die Presse (seine Schwägerin). Außerhalb dieser Koordinaten befindet sich schließlich die spirituelle Liebe seiner Frau Prudence, die, wie sich herausstellt, das einzige ist, das Bestand hat, letztlich aber auch nur das Versprechen einer Transzendenz ist, von der man nie sicher sein kann, ob es sich nicht nur um eine Illusion handelt.

Und so liest sich Vernichten plötzlich nicht mehr wie eine gelangweilte Ansammlung loser Fäden, sondern wie ein minutiös komponiertes Gesellschaftsdrama, das uns allen als Menschen einen Spiegel vorhält, dessen Reflexion nichts als blankes Grauen zeigt.

Titelbild

Michel Houellebecq: Vernichten.
Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2022.
624 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181932

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