Das singende Lächeltier

Mit „Faultiere. Ein Portrait“ folgen Tobias Keiling und Heidi Liedke dem Einfluss des trägen Regenwaldbewohners auf die europäischen Natur- und Kulturwissenschaften

Von Pauline WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

20 Stunden am Tag schlafen, nur aufwachen, um etwas zu fressen, und sich dann zufrieden gleich wieder aufs Ohr hauen: Für diesen entschleunigten Lebensstil steht das Faultier. Es schmückt mit lustigen Sprüchen wie „Ich wurde positiv auf Müdigkeit getestet“ oder „Ich atme. Produktiver wird es heute nicht mehr“ Kaffeetassen und Postkarten, manche Zoos bieten Meet and Greets mit den gemütlichen, freundlich lächelnden Tieren an – kurz gesagt: Das Faultier ist beliebt. Es wird bewundert und beneidet, hetzen wir doch so oft nur von einem Termin zum nächsten und sehnen uns nach etwas Ruhe und Entspannung. So träge das Faultier auch sein mag, so hat es in der Vergangenheit doch viele lebhafte Diskussionen hervorgebracht.

In Faultiere. Ein Portrait aus der Reihe NATURKUNDEN von Matthes & Seitz gehen Tobias Keiling und Heidi Liedke dem Einfluss des Faultiers auf die europäische Moralphilosophie, Natur- und Kulturgeschichte nach. Mit zahlreichen farbigen Illustrationen, einem gut verständlichen Schreibstil und einer Prise Humor verfolgen die Autor*innen die Geschichte der Erforschung des faszinierenden Tiers. Das Buch ist in zehn Kapitel mit Titeln gegliedert, die neugierig machen, zum Beispiel „Tiere, die vom Wind leben“ oder „Exkremente und Kometen“. Es endet mit Portraits von neun verschiedenen Faultierarten, die über die Eigenschaften, die Verbreitung und das Aussehen informieren.

Am Anfang war der Gesang – die tonleiterartigen Paarungsrufe der Faultiere. Zumindest könnte es so gewesen sein, wie Keiling und Liedke schreiben, denn über die erste Begegnung der Europäer mit den Faultieren ist nichts überliefert.

[E]s ist gut möglich, dass die Spanier, als sie den südamerikanischen Kontinent erkundeten und eroberten, sie zunächst nicht gesehen, sondern gehört haben. Man kann sich die Szene vielleicht so vorstellen: Ein Trupp Soldaten, der von der Küste ins Hinterland vordringt, schlägt im Regenwald sein Quartier für die Nacht auf. Die Dunkelheit des Waldes, die fremde Flora und Fauna wirken bedrohlich. Plötzlich erklingt aus dem Nichts, von hoch oben aus den Baumwipfeln, nicht zu sehen im Licht der Fackeln, ein durchdringender, spitzer Schrei: aiiiii. Der Laut geht über in eine einfache Melodie, in der jeder Ton etwas niedriger ist als der vorhergehende: aiiii, aiii, aii … So klingen die Rufe der Faultierweibchen auf Partnersuche, aber wer das nicht weiß, könnte sie auch für Kampfgeschrei oder den Angriffslaut eines Raubtiers halten.

Für die ersten Europäer, die Faultieren begegneten, ging die größte Faszination von diesen Rufen aus. Es rankten sich zahlreiche Theorien darum: Gonzalo Fernández de Oviedo stellte beispielsweise in seiner 1526 veröffentlichten Naturgeschichte die These auf, dass die Menschen dank der Faultiere die Tonleiter, und damit die Musik, erfunden hätten.

Mit der christlichen Mission änderte sich der Blick auf das Faultier. Allein, dass sich in den meisten europäischen Sprachen ein von der Todsünde der Faulheit abgeleiteter Name durchgesetzt hat und nicht etwa „Hängetier, Zotteltier, Singtier oder gar Lächeltier“, spricht für den Einfluss der europäischen Eroberer – die Ureinwohner*innen Südamerikas hatten keinerlei wertende Namen. Regelrecht beleidigende Schriften über die Natur des Faultiers wurden ausschließlich von den Europäern verfasst: Es wurde aufgrund seiner Langsamkeit und des kuriosen Aussehens mit negativ bewerteten Eigenschaften wie Faulheit, Hässlichkeit und Sünde in Verbindung gebracht. Wer den ganzen Tag nur – im wahrsten Sinne des Wortes – herumhängt und dabei noch komisch aussieht, kann kein wertvolles Lebewesen sein. Was für die Tiere galt, wurde allgemeingültig auch auf die einheimischen Menschen übertragen. Die Eroberer betonten so ihre selbst attestierte moralische Überlegenheit und die Faultiere mussten sogar teils als Rechtfertigung für die Missionierung Südamerikas herhalten. Die Autor*innen zeigen hier sehr anschaulich, wie der menschliche Blick auf das Faultier sehr viel mehr über die Menschen selbst aussagt als über das Tier.

In Faultiere. Ein Portrait dominiert die europäische Sicht auf die Tiere, die kritisch hinterfragt wird. Es wäre spannend gewesen, noch mehr über die indigene Wahrnehmung der Faultiere zu erfahren. Jedoch liegt die Schwerpunktsetzung vermutlich darin begründet, dass es zur europäischen Forschung deutlich mehr überlieferte Quellen gibt. Glücklicherweise finden sich im Buch aber einige knapp wiedergegebene Mythen der südamerikanischen Ureinwohner*innen über die Faultiere. Bei den Baniwa, einem indigenen Stamm in Venezuela, dominiert beispielsweise die Überzeugung, das Faultier sei die Inkarnation der zentralen Figur ihrer Religion. Je nach Blickwinkel weckt dieses Tier also ganz unterschiedliche Assoziationen.

Keiling und Liedke finden mit ihrem Portrait einen guten Mittelweg zwischen reiner Naturwissenschaft und einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Sie vermitteln Wissenswertes weit über das allseits bekannte Bild des freundlichen, verschlafenen Wesens hinaus, wovon den meisten Lesenden vieles neu sein dürfte. Mit Hinweisen darauf, dass beispielsweise das Zwergfaultier, dessen Bild den meisten Menschen in den Kopf kommt, wenn sie an Faultiere denken, vom Aussterben bedroht ist, sensibilisieren sie jedoch auch für unseren Umgang mit der Natur und die möglichen Folgen. Das Buch sei allen ans Herz gelegt, die den eigenen Horizont erweitern möchten. Am Ende der Lektüre ist man überzeugt: Das Faultier ist viel mehr als nur ein faules Tier.

Titelbild

Tobias Keiling / Heidi Liedke: Faultiere. Ein Portrait.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
143 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783751802109

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