Von Bäuchen, Bärten, Pfeifen und einer Bark

Volter Kilpis „Im Saal von Alastalo“ feiert ein Fest der Sprache

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die meisten der zwanzig Männer, die sich in Alastalos Saal eingefunden haben, um sich am Bau einer Bark zu beteiligen, können sich so kräftiger Bäuche wie Bärte rühmen. Auch Alastalo selbst, Spiritus Rector des Unternehmens, trägt ein beachtliches Gewächs im Gesicht, wie er auch durch seine imponierende Leibesfülle beeindruckt. Und wenn diese stattlichen Mannsbilder nicht reden, – und sie reden nicht allzu oft; haben sie aber das Wort ergriffen, kann sich daraus ein längerer Monolog entwickeln –, stoßen sie aus ihren bärtigen Mündern Unmengen an Pfeifenrauch aus; oder sie trinken, je nach Angebot, Kaffee und Grog.

Wir befinden uns zeitlich etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Finnland; Schauplatz ist eine Insel der Schärengemeinde Kustavi, der Volter Kilpi selbst entstammt. Im Original erschienen ist das Werk 1933. Der 1100 Seiten umfassende Roman galt lange Zeit als unübersetzbar, dank der kongenialen Übertragung von Stefan Moster können wir uns nun endlich an diesem sprachlichen Wunderwerk erfreuen.

Bei einer Bark handelt es sich um ein großes Segelschiff verglichen mit den Schiffen, welche die Schiffseigner und Kapitäne von Kustavi bislang ihr Eigen nennen. Ein größeres Schiff bedeutet mehr Ansehen, aber auch mehr Gewinn. Keiner aus der Gemeinde kann ein solches Projekt alleine bewältigen, nur zusammen lässt sich der Plan verwirklichen. In den etwa sechs Stunden, die der Roman schildert, entscheidet sich, ob genug Gemeindemitglieder bereit sind, sich an dem Vorhaben zu beteiligen und dies mit ihrer Unterschrift zu besiegeln.

Soweit der äußere Zeit- und Handlungsrahmen, der allerdings gesprengt wird durch die Beschreibungswut des Autors Volter Kilpi. Beispielhaft geschieht dies etwa im dritten Kapitel mit der Überschrift Härkäniemi sucht sich in Alastalos Pfeifenregal eine Pfeife aus und macht sich zum Zeitvertreib allerlei Gedanken. Auf 130 Buchseiten legt der Autor hier einen wichtigen Grundstein für sein mächtiges Erzählgebäude, denn Härkäniemis Gedanken gehen der Frage nach, welche der vielen Pfeifen im Regal am besten zu welchem der Gäste passen dürfte. Der eingefleischte Junggeselle erweist sich dabei als herausragender Beobachter und Menschenkenner.

Zwei Pfeifen haben es ihm besonders angetan: die Gouverneurspfeife und „die ehemalige Pfeife des verstorbenen Richters aus Ristimäki.“ Über sieben Seiten folgt der Erzähler Härkäniemis Gedanken über Erwerb und Charakter der Gouverneurspfeife. Über fünf Seiten erstreckt sich seine Einschätzung der Pfeife des verstorbenen Richters.

Nun könnte man meinen, hier käme einer vom Hölzchen aufs Stöckchen anstatt direkt zur Sache. Doch die Lektüre dieser minutiösen Schilderungen entwickelt einen starken Sog, der sich aus der enormen Erzähltiefe des Textes erklärt. Denn natürlich ‚denkt‘ Härkäniemi all das, was der Autor uns präsentiert, nicht im Sinne eines inneren Monologs wie Molly Bloom in Ulysses von James Joyce oder Leutnant Gustl in Arthur Schnitzlers gleichnamiger Novelle. Kilpi tut zweierlei, und das nicht nur bei dem hier verhandelten Beispiel, sondern im ganzen Roman: Er schildert einerseits die bewussten Gedanken seiner Figuren, um andererseits zu imaginieren, welche Gefühlsregungen unbewusster Natur sich in seinen Geschöpfen abspielen, wobei die Übergänge zwischen bewussten und unbewussten Empfindungen kaum zu benennen sind. Denn alles, was uns widerfährt, löst eine Fülle von Empfindungen in uns aus, und das jederzeit, in jedem Moment. Wir können uns selbst kaum Rechenschaft über dieses permanente emotionale Geschehen ablegen, nur die vermeintlich bedeutsamen Ereignisse artikulieren wir in unserem Inneren oder teilen sie anderen mit. Kilpi aber geht es darum, den kompletten und komplexen Erlebnisraum seiner Figuren zu veranschaulichen.

Nachdem bereits einige der Männer den Vertrag zum gemeinsamen Bau der Bark unterschrieben haben, ist Mikkel Krookla an der Reihe. Er ist guter Dinge, doch für einen Moment, ja man muss eigentlich sagen für einen Nu „sammelte sich ein kleiner Verdruss und etwas Empörungsspucke am Zahnfleisch von Krooklas Gemüt, als die Hand beim Verrücken des Stuhls das Mahagoni befühlte und das Holz an seiner Haut merkwürdig herrschaftlich und glanzglatt schmeckte.“ Natürlich hat Krookla den Stuhl bereits gesehen, bevor er ihn berührt; schließlich haben sich schon andere Männer auf ihn gesetzt, um den Barkvertrag zu unterzeichnen. Doch erst die sinnliche Berührung erweckt den kleinen protestantischen Verdruss über diesen unnötigen Luxus: 

„Da wird teures Geld für alle Art von schimmernder Kirsche vergeudet, als würde zum Massieren der Hinterteilstoffe kein anderes splitterloses Holzbrett taugen als eine spiegelblank polierte und auch noch verbogene Lehne!“, verurteilte und missbilligte er Alastalo, bevor er sich setzte.

Hat Krookla in dem hier geschilderten kurzen Moment wortwörtlich gedacht, was der Autor uns mitteilt – oder fasst dieser nicht eher ein kaum definierbares Gefühl in Worte, das Krookla beim Berühren des Holzes überfällt? Für das Leseerlebnis entscheidend ist Kilpis Anspruch, die Gefühlswelt seines Romanpersonals möglichst umfassend zur Erscheinung zu bringen.

Geprägt wird diese Welt von der protestantischen Religion und damit verbunden den biblischen Texten, der Seefahrt sowie der Fischerei und Landwirtschaft. Alles, was den Menschen zustößt, und mehr noch, was sie dabei denken und fühlen, versuchen sie mit dieser ihrer unmittelbaren Lebenswelt zu erklären und in Einklang zu bringen. Und alles, was geschildert wird, entspringt dem zeitgenössischen Erfahrungshorizont der auftretenden Personen an eben diesem Ort in Finnland, nämlich der Schärengemeinde Kustavi um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Kilpi gelingt es, die historische Distanz zwischen der damaligen Lebenswelt und unserer Gegenwart vergessen zu machen. Wir erhalten lesend Einblick in eine uns fremde Welt, die dennoch vertraut erscheint, weil sich die Protagonisten des Romans, – und wir als Leser mit ihnen –, darin so selbstverständlich bewegen wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser. Es entsteht der Eindruck, alles unmittelbar aus der Perspektive der geschilderten Figuren mitzuerleben.

Vorangestellt ist diesem Kosmos ein Prolog im Sinne eines Memento mori. Der Erzähler betritt an einem Sommerabend einen ländlichen Friedhof: „Unsagbarer Friede in der Luft und ringsumher.“ Doch ist dieser Friede getränkt von dem „Mitleid mit denen, die gelebt haben, das Mitleid mit den Lebenden, das Mitleid mit den Künftigen, das Mitleid mit dem eigenen, verfliegenden Dasein.“ Der Erzähler wie die von ihm erschaffenen Figuren wissen mitten im Leben um ihrer aller Vergänglichkeit, ohne daran zu verzweifeln. Sehr dezent greift Kilpi dieses Motiv des Vergehens der Zeit und damit auch des Lebens gegen Ende seines Erzählwerkes wieder auf, wenn von dem leeren Saal, der dem Roman seinen Titel gegeben hat und in dem der Autor sein erzählerisches Universum ausbreitet, die Rede ist: 

Nach sechsstündigem ziemlich festem Sitzen und ebenso fester, wenn auch gemächlich vonstattengegangener Anstrengung und mit Manneskraft ausgeführter Tat der Vernunft kann auch ein weitläufiger Raum, welcher gerade noch über die gesamte Länge seiner Wände Schulter an Schulter dicht bevölkert war, erstaunlich still und verlassen wirken, wenn er sich geleert hat.

Fast bedrohlich klingt es einige Zeilen später, wenn davon die Rede ist, dass „innerhalb seiner fünfklaftrigen Wände anstelle des Summens von tagsüber und vorhin die unerwartete Stille, ja beinahe Ödnis eines verlassenen leeren Raumes herrschte.“ Allerdings ist diese Stille „nicht absolut, denn sie wurde von dem fröhlichen Lärm durch die offene Tür des Vorderzimmers nebenan gestört“. In dieser so zarten wie deutlichen Spannung zwischen dem nunmehr öden leeren Raum und dem fröhlichen Lärm des Gastmahls leuchtet auf, worum es Kilpi in seinem Werk im Letzten geht und worauf der Übersetzer Stefan Moster in seinem instruktiven Nachwort, Kilpi zitierend, hinweist: „Das Geheimnisvolle, Außerordentliche des Lebens kann man auch in eine scheinbar bescheidene Folge von Ereignissen einweben“.

Überhaupt kann dem Übersetzer Stefan Moster kaum genug gedankt werden, sowohl für die hervorragende Übertragung des Romans wie auch für das kenntnisreiche Nachwort. Dort erfahren wir von der enormen Lesewut schon des Schülers Volter Kilpi: „Im Jahr der Nichtversetzung las er ‚Die Leiden des Jungen Werthers‘ in Ermangelung einer Übersetzung im Original. Da er zu diesem Zeitpunkt erst seit einem Jahr Deutsch im Unterricht hatte, dürfte er nicht jedes Detail verstanden haben, aber der Briefroman beeindruckte ihn immerhin so sehr, dass er sich Goethes Gesammelte Werke anschaffte.“ Offensichtlich hat Kilpi seinen Goethe auch gelesen, denn im elften Romankapitel findet sich eine deutliche Anspielung auf Goethes Epos Hermann und Dorothea. Dort treffen sich die füreinander Bestimmten am Brunnen, schauen hinein „Und sie sahen gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels / Schwankend und nickten sich zu und grüßten sich freundlich im Spiegel.“ Bereits im ersten Romankapitel erfahren wir, dass „Siviä und Janne etwas miteinander“ haben, wie Alastalo beobachtet hat. Im siebten Kapitel nun, gut 500 Buchseiten später, treffen sich die Blicke von Alastalos Tochter Siviä und von Janne in einem Spiegel, der im Saal von Alastolo hängt und in dem die anmutige Siviä ihre Haare zu richten sucht. Die Szene erstreckt sich über mehrere Seiten und zeigt Kilpis Sprachkunst in Hochform, denn neben dem Spiegelmotiv aus Goethes Text erweist er dem verehrten Dichter auch im Sprachduktus seine Referenz. Nirgendwo im Roman klingt und singt die Sprache so wie in dieser Episode, ein kurzes Zitat, in dem das Brunnen- und Spiegelmotiv auftaucht, muss zur Erläuterung genügen. Die Rede ist vom Blick Siviäs, 

der an der eigenen Wangenhaut vorbei und entlang des Ohres in die Innentiefen des Spiegels hinein ausgeführt werden musste, damit er geradewegs und Hals über Kopf wie in einen Brunnen stürzte: und zwar in Jannes schauende Augen, die wie Hungermäuler auf diesen Fehltritt gewartet hatten, gelauert wie auf sichere Beute unmittelbar neben dem Ohr, obgleich auf der gegenüberliegenden Seite des Saals!

Titelbild

Volter Kilpi: Im Saal von Alastalo. Eine Schilderung aus den Schären.
Aus dem Finnischen übersetzt und herausgegeben von Stefan Moster.
Mare Verlag, Hamburg 2021.
1136 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482722

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