Das Gegenteil von Tod

In seinem Roman „Unsichtbare Tinte“ beschwört Patrick Modiano die poetische Kraft der erfolglosen Spurensuche

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Das literarische Quartett einen Roman von François Weyergans (1941–2019) besprach, zählte ihn Marcel Reich-Ranicki zu den in Deutschland damals wenig geläufigen Beispielen einer „heiteren, intelligenten Unterhaltungsliteratur“. Es war daher bestimmt keine schlechte Nachricht, dass der belgische Schriftsteller 2005 den Prix Goncourt erhielt. Was dann aber passierte, verdeutlicht die unerwünschten Nebeneffekte so manch einer literarischen Auszeichnung. Nachdem sich Drei Tage bei meiner Mutter hunderttausendfach verkauft hatte, wendeten sich die Leser überraschend vom Autor ab. Jahrzehntelang hatten sie ihm die Treue gehalten, doch nun schien er mit einem Schlag sein gesamtes Kapital an Zuneigung aufgebraucht zu haben. Einen solchen Absturz musste der südafrikanische Kollege J.M. Coetzee zum Glück nicht verkraften. Es fällt indessen auf, dass die Qualität seiner Romane nach dem Nobelpreis 2003 erst einmal deutlich nachließ. Dass dem 1945 geborenen Patrick Modiano hingegen weder Prix Goncourt (1978) noch Nobelpreis (2014) etwas anhaben konnten, liegt vermutlich auch an der zum Gemeinplatz gewordenen Sogwirkung, die seine unbeirrbar wiederholten Szenen einer dunklen, atmosphärisch dichten französischen Vergangenheit sowohl bei ihm selbst wie bei großen Teilen des Lesepublikums erzeugen. In einem Interview ließ er kürzlich verlauten, bei Weglassen der Titel könnten alle seine Romane zu einer Einheit verschmelzen.  

Tatsächlich klingt die Ausgangslage der nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Unsichtbaren Tinte (frz. 2019) wohl jedem vertraut, der das Modiano-Universum auch nur mit einem Fuß betreten hat. In „einer himmelblauen Mappe, ausgebleicht mit der Zeit“ hortet ein Pariser Schriftsteller einige Unterlagen, die ihn an eine Begebenheit aus seiner lange zurückliegenden Jugend erinnern. Um sich im Paris der sechziger Jahre finanziell über Wasser zu halten, arbeitete der etwa zwanzigjährige Jean Eyben für die Privatdetektei, die wir bereits aus dem mit dem Prix Goncourt gekrönten Roman In der Gasse der dunklen Läden kennen.

Schwierig gestaltete sich die Suche nach der spurlos verschwundenen Noëlle Lefebvre nicht nur, weil sie auf spärlichen und zum Teil falschen Informationen beruhte. Seine Unsicherheit hing auch damit zusammen, dass er hier seinen allerersten Fall übernahm. Der Chef hatte ihm zwar Manipulationstechniken mit auf den Weg gegeben (zum Beispiel seine Fragen in ganz beiläufigem Ton zu formulieren, als ob die Antwort keine Rolle spielen würde), aber er war durch seine Schüchternheit in seinen Aktionen beeinträchtigt und empfand überdies ein Gefühl der unfreiwilligen Komik oder manchmal auch der Bedrohung. Ob er nun eine Concierge, eine Verkäuferin oder den Stammgast eines Pariser Bistros ansprach – in der Regel wurde er abweisend und misstrauisch behandelt, nur selten zeigte sich der Gesprächspartner erleichtert, einen Augenblick lang die eigene Einsamkeit vergessen zu dürfen.

Ohnehin konnte er das größte Rätsel nur mit sich selbst klären, und es wurde nach und nach immer unergründlicher: Warum hatte ihn ausgerechnet diese ziemlich mühselige und banale Ermittlungsarbeit („jeden Tag gibt es Hunderte von Personen, die verschwinden oder den Wohnsitz wechseln oder einfach aus einer plötzlichen Anwandlung heraus mit ihrem Alltagsleben brechen“) derart in ihren Bann gezogen, dass er nach Verlassen der Detektei die Unterlagen mitgehen ließ und jahrzehntelang noch Indizien sammelte? Zuerst hatte er sich einfach als Bekannter der Noëlle Lefebvre ausgegeben, um seinen detektivischen Auftrag besser zu verschleiern. Mittlerweile fühlte er sich der ungefähr gleichaltrigen Frau mit unbekanntem Verbleib aber tatsächlich eng verbunden und fing an, den Lügen über biographische Gemeinsamkeiten selbst Glauben zu schenken. Dass der zum Schriftsteller avancierte Ich-Erzähler in unseren Tagen schreibt, diese Geschichte sei ein „fehlendes Kettenglied in seinem Leben“, oder eine Auflösung werde ihm vielleicht erlauben „sich selbst besser kennen zu lernen“, ist also durchaus einleuchtend. Solche Bemerkungen kommen aber auch etwas schulmeisterlich daher. Gerade Momente der „Unschärfe“ und der „Ungewissheit“ werden so eindeutig benannt, dass sie einen Teil ihrer poetischen Kraft einbüßen. 

Etwas origineller wirkt dieser Topos der verwischten Spuren, weil Modiano daraus ein radikales Lebensprinzip ableitet. Wie viele andere Autoren bemüht er den abgenutzten Vergleich der Spurensuche mit einer Puzzlearbeit. Die Unmöglichkeit, die Einzelteile zu einem „deutlichen und endgültigen Bild“ zusammenzufügen, wird aber als „das Gegenteil von Tod“ gefeiert. Solange er unauffindbar ist, bleibt dem Verschollenen seine Identität erhalten, und auch für den Suchenden ist es von Vorteil, wenn ihm ein zu einfacher Zugriff auf eine fremde Existenz verweigert wird. Im Zeitalter des Internets läuft man jedoch Gefahr, dass einem die eigenen Bemühungen wegen eines zu schnellen Erfolgs plötzlich vollkommen sinnlos erscheinen. Als literarische Variante der in Frankreich breit rezipierten „Philosophie der Unverfügbarkeit“ des deutschen Soziologen Hartmut Rosa kann die Erleichterung des Ich-Erzählers über das Ausbleiben von brauchbaren Suchergebnissen betrachtet werden: „Umso besser, denn sonst bestünde kein Grund mehr, ein Buch zu schreiben. Es genügte, Sätze abzumalen, die auf einem Bildschirm erscheinen, ohne die kleinste Anstrengung der Phantasie.“ Der Unmittelbarkeit des Digitalfotos setzt er den langsamen Entwicklungsprozess eines Bildes in der Dunkelkammer entgegen, oder auch die geheimnisvollen Vorgänge, die mit der titelgebenden „unsichtbaren Tinte“ verbunden sind. Bekanntlich wird letztere erst „durch Einwirkung einer bestimmten Substanz“ sichtbar. Im Laufe der Nachforschungen findet der Ich-Erzähler Indizien, die eigentlich immer schon vor seinen Augen lagen oder in seinem Gedächtnis abgespeichert waren. Plötzlich fällt ihm eine Eintragung in dem schon tausendmal durchgeblätterten Notizheft auf, oder er besinnt sich darauf, wie ein bestimmter Vorname während eines Sommers in Annecy ausgesprochen wurde.

Welche chemische Reaktion schließlich zu einer Lösung des Falles führt, dazu erspart uns Modiano, wohl beraten, ausführliche Erläuterungen. In einer finalen Beschleunigung der Handlung, die wir schon aus anderen Romanen des Autors kennen, werden uns zumindest einige Antworten und sicherlich auch Glücksmomente gewährt. Erstaunlich logisch und aufwühlend ist die Entdeckung der Hauptfigur, wie durchlässig die Trennwand zwischen ihren Erinnerungen und ihren Erfindungen eigentlich war. Auch der Orts- und Perspektivenwechsel sorgt dafür, dass dieses Alterswerk sich nicht allzu berechenbar ausnimmt, und bei aller Treue zu den eigenen Geschichten ist Modiano erfreulicherweise einem allgemeinen Trend der französischen Literatur gefolgt. Ungeachtet ihrer Lücken sind seine Handlungsstränge viel stimmiger und sorgfältiger ausgearbeitet als in früheren Zeiten.

Ob all diese Stärken dem Roman eine besondere Bedeutung verleihen, bleibt jedoch eher fraglich. So ganz vorbehaltlos kann man der oben genannten Einladung Modianos, sein Werk als geschlossene Einheit zu betrachten, nun doch nicht folgen. Sein Erstlingsroman Place de l’Etoile (1968, dt. 2010 nach der Fassung von 2004) hebt sich zum Beispiel drastisch von den Folgewerken ab. In seiner Radikalität ist er dem Autor derart fremd geworden, dass er im Laufe der Jahrzehnte mehrmals umgeschrieben und abgemildert wurde. Bei der Unsichtbaren Tinte merkt man vor allem das Gefälle zu einer Geschichte des Verschwindens aus den neunziger Jahren, die mittlerweile den Status eines modernen Klassikers besitzt. Als Patrick Modiano in seinem eigenen Namen und abseits der Fiktion den Spuren des jüdischen Mädchens Dora Bruder (1926–1942) nachforschte, erreichte er eine dramatische Intensität an die er mit diesem Roman keineswegs herankommt.

Sieht man von den seltenen Höhepunkten seines Werkes ab, erscheinen die alle zwei oder drei Jahre wiederkehrenden Begegnungen mit Patrick Modiano wie Ausflüge in ein vom Lärm der Großstadt weitgehend verschontes Pariser Viertel. Hier wohnt ein alter Onkel der französischen Literatur. Bei gemeinsamen Spaziergängen hört man ihm gerne zu und freut sich, dass er sich so gut gehalten hat. Auch über die Welt, in der man selbst lebt, hat er einiges zu berichten. Nicht alle Neuigkeiten gehen unbemerkt an ihm vorbei. Im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern hat er einem überdies niemals Schmerzen zugefügt oder Enttäuschungen bereitet. Sehr innig ist das Verhältnis zu ihm trotzdem nicht.

Titelbild

Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
144 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269187

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