Vom Sichtbarmachen des Unsichtbaren

Ingo Schulzes Essay-Band „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte …“ versammelt kurze Texte aus dem letzten Jahrzehnt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

40 kleine Texte zwischen eineinhalb und knapp zwanzig Seiten, darunter vier bisher unveröffentlichte, finden sich in Ingo Schulzes neuem Essayband Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte … Das thematische Spektrum der Beiträge, die mit einer Ausnahme alle aus dem letzten Jahrzehnt stammen, reicht von essayistischen Einlassungen auf Fragen unserer Gegenwart über Auseinandersetzungen mit Literatur und Sprache bis hin zu öffentlich gehaltenen Reden anlässlich von Preisverleihungen, Jahrestagen und ähnlichen Anlässen.

Der 1962 in Dresden geborene und heute in Berlin lebende Autor, dessen in 30 Sprachen übersetztes Prosawerk – zuletzt erschien der vieldiskutierte Roman Die rechtschaffenen Mörder (2021) – national wie international große Anerkennung fand und mit zahlreichen Preisen und Stipendien geehrte wurde, hat sich in der Vergangenheit auch immer wieder als kluger Kommentator des Zeitgeschehens, aufmerksamer Leser und kritischer Beobachter gesellschaftlicher Prozesse erwiesen. Geordnet in vier Abteilungen – Über LiteraturVier RedenSprachglossen und Betrachtungen sowie Nicht nur Politisches – lädt er seine Leser im vorliegenden Band auf teils sehr unterhaltsame Weise dazu ein, ihn auf seine Exkursionen in Geschichte und Gegenwart zu begleiten, seine gedanklichen Anregungen weiterzuverfolgen oder ihnen auch mit Widerspruch zu begegnen, sich als Leser also in einen lebendigen Dialog mit dem Autor zu begeben.

„Wenn es stimmt, dass sich die Lösung eines Problems am Verschwinden der Frage zeigt, dann deutet das Auftauchen einer Frage auf ein Problem“, lässt Schulze die dem knapp 300 Seiten starken Band seinen Titel gebende Rede zur Eröffnung des „Darmstädter Gesprächs – Wer ist wir?“, gehalten im September 2017, beginnen. Und macht nach einem kurzen Rückblick auf seine Dresdener DDR-Vergangenheit schnell deutlich, was auch viele der anderen Beiträge unterstreichen: Demokratie wird niemandem ein für allemal geschenkt. Sie muss nicht nur immer wieder neu erkämpft und von einer von ihr überzeugten Mehrheit getragen und verteidigt, sondern auch all jenen gegönnt werden, die bisher von ihr ausgeschlossen waren. 

Georg Christoph Lichtenbergs (1742–1799) Aphorismus, wonach die Entdeckung des Kolumbus durch den ersten Amerikaner eine „böse Entdeckung“ gewesen sei, kehrt deshalb nicht nur die gewohnte eurozentristische Perspektive um, sondern hebt auch darauf ab, dass es bis in unsere Zeiten den einen nur gut gehen kann, weil es anderen schlecht geht. Mit einem simplen „Wir schaffen das!“ ließ sich, so Schulze, zwar guter Wille, was die Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen betraf, demonstrieren. Die Ungleichheit als Ursache aktueller Flüchtlingsbewegungen ist damit aber noch lange nicht aus der Welt. Dazu bedarf es mehr als gut gemeinter Worte. 

Die sich hier und an vielen anderen Stellen seiner Essaysammlung ihren Ausdruck suchende Welt- und Politikzugewandtheit des kämpferisch-kritischen Demokraten Schulze hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf sein Literaturverständnis. Und das spiegelt sich nicht nur in der Auswahl der von ihm benachworteten Werke und – wie im Falle des bosnischen Schriftstellers, Dramatikers und Literaturwissenschaftlers Dževad Karahasan – laudatierten Kollegen wider. Hinter Büchern wie Andrej Platonows Tschewengur, dem Blockadebuch von Ales Adamowitsch und Daniil Granin, Bobrowskis Roman Levins Mühle oder John Steinbecks etwas im Schatten von Früchte des Zorns und Jenseits von Eden stehendem späten Roman Der Winter unseres Missvergnügens entdeckt Schulze als Leser die feste Überzeugung ihrer Verfasser, dass Literatur eine Notwendigkeit darstellt und schlecht Sichtbares wie Verdrängtes „deutlich erkennbar und gegenwärtig“ machen muss, will sie eine Daseinsberechtigung haben. 

Es ist dies eine Erkenntnis, die Ingo Schulze auch für sich reklamiert und als Autor umzusetzen sucht. In unserer unmittelbaren Gegenwart geht es ihm deshalb, nachdem die bereits zwei Jahre andauernde Corona-Krise mit der periodischen Stilllegung des öffentlichen Lebens vor allem auch die Künste empfindlich getroffen hat, um deren Rehabilitierung als lebensnotwendigen Bereich des gesamtgesellschaftlichen Lebens: „Deshalb könnte ein Gradmesser für die Systemrelevanz der Künste sein, inwieweit es ihnen gelingt, die Unsichtbaren immer wieder sichtbar zu machen, also die alte Frage, wer das siebentorige Theben erbaute, immer wieder zu stellen.“

Natürlich zieht ein im Osten Deutschlands geborener und auf 28 Jahre als DDR-Bürger zurückblickender Autor, wenn er sich theoretisch äußert, auch eine Bilanz der letzten drei Jahrzehnte, also jener zweiten Hälfte seines bisherigen Lebens, in der er erst zum Bundesbürger und dann – bereits 33 Jahre alt – zum von Beginn an vielbeachteten Schriftsteller wurde. Dabei kommt er in diesem Zusammenhang nicht umhin zu bemerken, dass es „zwischen der unblutigen Abdankung des vormundschaftlich-diktatorischen Apparates und der Einführung der D-Mark“ eine kurze Zeitspanne gab, in der die Ahnung von einer anderen als der heute existierenden Welt bestanden habe. 

Allein weil die meisten der Neubürger die ganze BRD zunächst als „ein einziges ‚Kaufhaus des Westens‘“ ansahen, folgte der Utopie die Desillusionierung auf dem Fuß. Schulze bekennt in der bereits erwähnten Darmstädter Rede, dass er inzwischen seinen Frieden mit der neuen gesamtdeutschen Situation gemacht habe, weil die Mehrheit der Ostdeutschen sich nun einmal mittels ihrer ersten demokratischen Wahl für den beschrittenen Weg entschied. Er lässt aber auch durchblicken, dass ihm statt des „Beitritts“ eine „Vereinigung, die womöglich auch den Westen auf den Prüfstand gestellt hätte“, lieber gewesen wäre. Und schlussfolgert: „Der Verweis auf die angebliche Alternativlosigkeit der damaligen Entscheidungen, also der Alternativlosigkeit zum Kapitalismus, lähmt noch heute unser Denken, Fühlen und Handeln.“ Und das hat, so bliebe zu ergänzen, auch weiterhin Auswirkungen auf das gegenseitige Verstehen von Ost und West.

Titelbild

Ingo Schulze: Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte …. Essays.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
304 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970432

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