Gerhart Hauptmanns zweite Wirklichkeit

Mit der Novelle „Der Ketzer von Soana“ liegt der dritte Band der bibliophilen Erkneraner Gerhart-Hauptmann-Ausgabe vor

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhart Hauptmann ist ein Protagonist des deutschen Naturalismus, er hat aber mit seinem Werk auch eine „zweite Wirklichkeit“ (Manfred Schunicht), eine mythisch-elementare Gegenwelt erschlossen, die eine subjektiv-utopische Vermittlung der Gegensätze ermöglichen sollte. Die Novelle Der Ketzer von Soana (1918), die jetzt als dritter Band der Erkneraner Hauptmann-Ausgabe erschienen ist, tritt die Flucht aus der Wirklichkeit in eine neue Religiosität und Sinnstiftung an, in eine symbolische Traumwelt. In der Landschaft des Tessin und des Monte Generoso, die Hauptmann selbst wiederholt kennengelernt hatte, erfährt der junge Priester Francesco mit dem rauschhaften Erlebnis der Natur auch in sich die Geburt einer leidenschaftlichen Liebe. Durch seine Liebe zu dem Naturkind Agata, der Tochter eines wegen seiner inzestuösen Ehe verfemten Berghirten, wird er zu einem neuen Menschen: „Francesco war nicht Francesco mehr; er war als erster Mensch soeben von göttlichem Odem geweckt, als alleiniger Adam, alleiniger Herr des Gartens Eden“.

Das Verlassen der engen klerikalen Welt, die Erfahrung der Zeitlosigkeit in Natur und Liebe bilden den Ausgangspunkt für Francescos Austreten aus der Zivilisationszeit in den Mythos. Seine Gefühle und Erlebnisse fließen in mythische Urbilder über – so hier des Sündenfalls im „Paradies“, durch den Adam und Eva zu Menschen geworden sind. Als neuer Adam und neue Eva vollziehen auch Francesco und Agata ihre Vereinigung.

Hauptmann hatte den Ketzer von Soana 1911 begonnen, dann liegen gelassen, erst 1917 vollendet und zudem mit einer Rahmenhandlung versehen. Während sich die Binnenerzählung aus dem Jahr 1911 zunächst als Kampf zwischen heidnischer und christlicher Religion, als „Wettstreit“ zwischen Phallus und Kreuz gestaltet, bringt jetzt in der Rahmenerzählung der Berghirte Ludovico, der in einer Almhütte auf dem Monte Generoso lebt und von den Einheimischen „Ketzer“ genannt wird, dem „Herausgeber“ der Erzählung die von ihm niedergeschriebene Geschichte des einstigen Priesters Francesco zu Gehör. Es besteht aber kein Zweifel an der Identität von Francesco und Ludovico. Der Herausgeber sinnt beim Heimweg noch über das ihm Erzählte nach – da begegnet ihm eine junge Frau, eine „Kanephore“ (in ihrer tragenden Funktion einer Katyatide vergleichbar) in antiker Erhabenheit: „Irgendeine Vermutung schoss dem Beschauer, bei diesem Anblick, wie eine Erleuchtung, durch die Seele“. Die nicht ausgesprochene Vermutung kann nur die Identität dieser Frauengestalt als Agata, somit die Identität Ludovicos als Francesco und damit auch den autobiographischen Charakter der Erzählung des Berghirten meinen. 

Der Ketzer von Soana wurde damals das erfolgreichste Erzählwerk Hauptmanns. Im fünften Kriegsjahr bot wohl die Natur-, Liebes- und Mythos-Thematik eine Alternative zum Grauen des Ersten Weltkrieges. Die Erfahrung der Zeitlosigkeit führte aus der Zivilisationszeit in den Mythos.

Der Priester Francesco gewinnt die Freiheit von seinen bisherigen Bindungen in der geschichtlichen Welt, aber wird er als Berghirte Ludovico, der sich in den Zustand der ursprünglichen Natur, des zeitlosen Schöpfungsanfangs zurückzuversetzen sucht, nicht in eine neue Abhängigkeit im naturhaften Bereich verstrickt? Francesco, der Liebende, der gegen die kirchlichen Gebote verstößt und sich nicht mehr ausschließlich als Geistwesen, sondern als Sinnesmensch begreift, kommt, wie es der Erzähler formuliert, zur „Menschwerdung“. Sein Erlebnis der schöpferischen Frühlingsnatur, ihrer schaffenden, zeugenden Kraft, korrespondiert mit dem erotischen Kunst-Erlebnis der nackten Gips-Grazien im Hause seines verstorbenen Bildhauer-Onkels. Das offenbart ihm die „Unzerstörbarkeit des Lebens“. Dionysos, der Gott des pulsierenden Lebens, erscheint in wirkender Leibhaftigkeit. In Francescos Phantasie werden die Motive eines in der Bergwelt verwitterten antiken Sarkophags lebendig: Die Mänaden, Begleiterinnen des Dionysos, tanzen rasend und auch die Natur demonstriert ihre zeugende Kraft. Und dann ist es Agata, die zur Personifizierung der schaffenden Natur wird, sie ist die „Paradiesesfrucht“ bzw. die „Frucht von dem Baume des Lebens“. Sie wird mit der ägyptischen Göttin „Isis“, die als Stifterin allen Lebens gilt, gleichgestellt. In der Schlussszene ist sie die „syrische Göttin“, eine Natur- und Fruchtbarkeitsgöttin.

Francescos Schicksal zeigt, dass seine Flucht in den Rausch, die Suche nach Erlösung nicht in dem Glauben an Christus, sondern in „Eros“, in der Erfüllung der sinnlichen Liebe – und die damit einhergehende Emanzipierung – keineswegs zur Erlangung der Freiheit führt. Dass er nicht mehr der Fremdbestimmung durch Dogmen unterliegt, bedeutet noch nicht, dass er über die Möglichkeit der Selbstbestimmung verfügt. Es heißt ausdrücklich: Er ist nicht mehr „Herr seines Lebens“.

Stefan Rohlfs, Direktor der Gerhart-Hauptmann-Museums Erkner, hat sein Nachwort knapp und bündig abgefasst. Er erläutert die Handlung und Erzähltechnik der Novelle, geht auf die Leitmotive ein, die jene Zeitlosigkeit bewirken, erklärt den Erfolg der Novelle aus der Empfänglichkeit des Publikums für solch einen Stoff in den letzten Kriegsjahren 1917/18 und beschäftigt sich mit den öffentlichen Reaktionen wie denen von Hauptmann selbst. Wenn er allerdings von „originellen und überzeugenden Metaphern“ in diesem Erzähltext spricht, muss doch ins Bedenken geführt werden, dass viele dieser Metaphern heute verschlissen und unzeitgemäß geworden sind. Dass Hans Meid ihnen in seinen Illustrationen nicht folgt, sich vor Hauptmanns mystischen Projektionen hütet und lediglich eine geheimnisvolle Gegen-Wirklichkeit zulässt, ist recht weitsichtig.

Hans Meid, ein Vertreter des lyrischen Impressionismus, hat mit einer ausgeprägten Phantasie Bilder packender Lichtwirkung nur aus den kargen Mitteln von Schwarz und Weiß komponiert, dabei Licht und Schatten dramatisch gegeneinandersetzend. Die graphischen Impressionen sind Ergebnis einer hochentwickelten Radierkunst, die Meid selbst musikalisch beschrieb: „Man kann vielleicht die Kaltnadel-Radierung mit dem Violinspiel und die Ätztechnik dem Klavierspiel vergleichen“. Seine 14 Radierungen, die er 1926 zum Ketzer von Soana schuf, – so Meid 1944 – „gehören aber zu meinen schwächsten Arbeiten, sodass ich nicht daran denke oder erinnert werden mag“. Dem kann man nun keineswegs zustimmen. Mit einer hohen Variabilität des Strichs führte Meid die Nadel durch die Platte und erzielte im Druck reiche Tonabstufungen von feinen Grauwerten zu gesättigten samtigen Tiefen. Die Nervosität seines Striches erzeugt flimmernde Licht- und Schatteneffekte, sie werden durch die für Meid charakteristischen dichten, parallelen Schraffuren unterstützt. Das Atmosphärische wird herausgearbeitet, das Stimmungsvolle.

Meid ging es mehr um einen emotionalen Eindruck als um eine inhaltliche Deutung. Dagegen gleicht der Vor- wie Nachsatz fast einer Zeichnung, zeigt anfangs den Berghirten Ludovico – umgeben von seinen Gemsen – mit seinem Erzähltext, am Schluss Agata mit geschürztem Rock, ein Tongefäß auf dem Kopf, ihr Töchterchen an der Hand. Alle charismatische Ausstrahlung, die Hauptmann ihr zu geben bemüht war, fehlt. Die Radierungen – Meid hat seitdem für seine Illustrationen nur noch Federzeichnungen geschaffen – holen den Text wieder in die Realität zurück.

Es ist wohl dem Gerhart-Hauptmann-Kenner Peter Sprengel zuzustimmen, dass die „Doppelsicht auf Mythos und Realität“, jenes „charakteristische Nebeneinander mythologischer und naturalistischer Formen“, den besonderen Reiz wie dichterischen Rang dieser Novelle ausmachen.

Titelbild

Gerhart Hauptmann: Der Ketzer von Soana.
Mit Radierungen von Hans Meid, mit einem Nachwort von Stefan Rohlfs.
Quintus-Verlag, Berlin 2021.
144 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783969820124

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