Eindringliche Gedichte in dürftiger Zeit
Oder: Warum der Lyriker Thomas Gsella es in einer Zeit, in der der Zustand der politischen Welt die Satire längst übertroffen hat, in „Ich zahl’s euch reim“ immer noch mit prägnanten Pointengedichten versucht
Von Stephan Wolting
Trotz seiner durchaus vorhandenen medialen Präsenz – er stellt seine Texte im Rundfunk für den WDR, SWR, RBB, NDR vor, schreibt für die FAZ, DIE ZEIT, Titanic, Junge Welt, Spiegel Online, taz, Neues Deutschland, SZ-Magazin und das Schweizer „Magazin“ – und 29 Büchern – gehört Thomas Gsella zu den am meisten unterschätzten Lyrikern in deutscher Sprache. Wie zur Bestätigung dessen fand auch der hier zu besprechende Band gerade mal Beachtung in einer der anspruchsvollen größeren deutschsprachigen Gazetten, in der FAZ vom 25.11.2021, in einer sehr knappen Besprechung.
Dabei machte sein Gedicht Die Corona-Lehre ihn schlagartig einem größeren Publikum bekannt, das Elke Heidenreich in der Sendung Maischberger am 20.12.2020 in der ARD vorstellte. Für Gsellas Verhältnisse handelt es sich um ein sehr ernstes Gedicht, was er zum Anlass nahm, darüber ebenfalls einen Zweiteiler zu dichten, indem er sich vorstellt, was auf seinem Grabstein geschrieben werden könnte: „Er hat viel Lustiges geschrieben, / Doch nur ein Ernstes ist geblieben.“
Der Text ist in den hier zugrunde liegenden Band aufgenommen worden. Insgesamt hat Gsella über vierzig Gedichte zu Corona geschrieben, die in dem Unterkapitel Tiere und Viren auftauchen. Überhaupt scheint die Lyrik in der Beschreibung der Corona-Situation eine besondere Rolle zu spielen, wie etwa auch die deutsch-chinesische Anthologie ausweist: Corona-Rhythmen – zwei mal zwanzig Zeit-Gedichte. Eine deutsch-chinesische Anthologie. Hg. Uwe Beyer, Liu Huiru, Reihe Phönixfelder, Ostasien Verlag, Gossenberg 2021.
Thomas Gsella steht mit seinem Band in der Tradition der großen Satiriker der „Neuen Frankfurter Schule“, von Robert Gernhardt (Pardon) oder F. W. Bernstein (zusammen mit Gernhardt bei Pardon und später bei Titanic), aber auch in jener der großen deutschen Humoristen wie Wilhelm Busch, Kurt Tucholsky oder anderer. Wird den Deutschen doch immer gern eine gewisse Humorlosigkeit unterstellt, so gibt es doch jene Traditionslinie innerhalb der deutschsprachigen Literatur, die spätestens mit Heinrich Heine beginnt. Doch es handelt sich hier um eine sehr spezifische Art von Humor, die immer auch das Ernsthafte, Aufklärerische, das Tragische bzw. das Tragikomische miteinbezieht. Gsella kombiniert diese Haltung mit einem Lachen über sich selbst, verfügt also über jenen innerhalb der deutschen Literatur tatsächlich eher selten zu findenden Selbsthumor, wo er etwa in seiner „Biografie“ betont, dass er u. a. als „Vater arbeitete“.
Erwähnt sei, dass sich Gsella neben seiner früheren Tätigkeit als Titanic Satiriker (von 1992 an Redakteur, von 2005–2008 Chefredakteur der Frankfurter Satirezeitschrift, seit einigen Jahren geht es auch mit der titanic boy group zusammen mit zwei weiteren Satirikern, Oliver Maria Schmitt und Martin Sonneborn, aber auch mit Soloprogrammen, auf Tournee) auch vehement für eine Initiative zum Tempolimit auf deutschen Autobahnen einsetzte. So schrieb er aus eigener Betroffenheit einen Beitrag für die FAZ.net am 26.09.2015 oder für Die Zeit, weil seine Schwester Lucia und seine Nichte Sofia 2015 bei einem Raser-Unfall auf dem Weg Richtung Usedom ums Leben kamen, worin er beklagt, dass Deutschland im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern kein gesetzliches Geschwindigkeitslimit auf Autobahnen habe.
Ähnlich wie die aktuelle Weltlage ließ ihm dieses Ereignis das Lachen zum Teil vergehen, weshalb Gsella in jüngerer Zeit auch durchaus ernste Gedichte schreibt, weil ihm die „offenbaren Lügner, Menschenfeinde und Massenmörder wie Trump, Bolsonaro oder Erdogan keine Pointe“ erlauben würden. Und er stellt nicht ganz zu Unrecht die rhetorische Frage: „Welche Komik soll sich auch finden in diesen grauenhaften Menschenlagern nicht nur auf Lesbos?“ Vorwiegend allerdings schreibt Gsella politisch satirische und humorvolle Gedichte, die er selbst wie folgt beschreibt:
Sie sind gut, aber leicht. Es ist keine komplizierte Angeberlyrik, Sie müssen nichts interpretieren, nur lesen oder zuhören, und wenn Sie nicht vollkommen blöd sind, verstehen Sie alles sofort und können befreit loslachen oder weinen, je nach Intention des Autors.
Aber es stellt sich ihm auch ein formalästhetisches Problem politischer Satire und Lyrik, die in der Regel von Überzeichnungen und Übertreibungen lebt. Gsella weist daraufhin, dass diese Art von Lyrik einen Gegenstand benötigt, der einen wenn auch „minimalen Sinngehalt benötigt“. Wenn dieser Sinngehalt nun wegfällt, wie etwa im Fall der Verschwörungstheorien, wie eines seiner Gedichte heißt, dann fällt eine wichtige Grundvoraussetzung der Satire weg, was das Satireschreiben dann schwieriger macht: „Dass dies so bleibe, mischen sie / Die Wahrheit mit Idiotie.“
Im besten Sinne des Worts lässt sich in Hinblick auf Gsellas Kunst von politischer Gebrauchslyrik sprechen. Viele der Gedichte erschienen bereits in Zeitungen und wurden jetzt in diesem Band erstmals gemeinsam in Buchform abgedruckt. Auf die Frage, ob man mit Gedichten gegen die Ungerechtigkeit der Welt anschreiben kann, antwortet Gsella mit der anderen Konnotation des Modalverbs „kann“: „Ja, aber man kann´s genauso gut lassen.“ Er sieht durchaus die Problematik, zum „Komplizen des Verbrechens“ zu werden, was er beklagt, zum einen, weil er dafür finanzielle Entschädigung erhalte, zum anderen, weil er für Augenblicke und kurzzeitigen Trost nur „jene erreiche, die die Thematik genauso sehen.“
Die Gedichte sind in drei ungleich lange Kapitel geordnet: Menschen und Dinge, Tiere und Viren sowie Orte und Zeiten. Ein kurzes Nachwort in Interviewform gibt einiges über die Programmatik Gsellas preis. Das Interview mit Anne Burmer wurde zunächst im Mai 2021 im Kölner Stadtanzeiger abgedruckt. Was die einzelnen Gedichte besonders interessant, unterhaltsam und geistreich macht, ist die Spannung zwischen aktuellen politischen kurzlebigen Themen und der eher „langen und langsamen Form gereimter Lyrik“, wie sie sonst nach Höllerer nur im Langgedicht zu beobachten war. Aber Gsellas sind Kurzgedichte, viele von ihnen laufen auf eine Pointe zu. Nicht immer passt der Reim, wie er selbst in einem Gedicht bemerkt und thematisiert metapoetisch und immer inhaltlich hintergründig die Gedichte selbst, wo es etwa heißt: „Die CS/CD-Union / Reimt sich nicht auf Korruption.“
Seine Haltung lässt sich in der Spannung von (selbst-) kritisch, ironisch, sarkastisch, spöttisch, wütend, abgrundtief traurig bis verzweifelt beschreiben. Er deckt die Widersprüchlichkeit des Menschen auf. Nichts ist mehr „feierlich oder heilig“, nicht mal die eigene Perspektive. Es ließe sich in diesem Zusammenhang an den schön bösartigen Aphorismus Johann Nestroys denken: „Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab‘ mich noch selten getäuscht.“
Einige der Gedichte lassen Leserin und Leser geradezu sprachlos zurück, etwa das Gedicht Töte mich, Mama mit dem Untertitel Für die Afghanin Fahima, deren vier Kinder die europäische Küstenwache ertrinken ließ, wo es zum Schluss heißt: „Fahima, Mutter aus Tränen und Not, / Höllisch die Tage. Nachts legt sie sich nieder. / Und in ihren Träumen leben sie wieder. / Und wenn sie erwacht, sind sie tot.“
Neben der Corona Problematik spielt die Flüchtlingsproblematik eine besondere Rolle, so hat er etwa ein affirmatives Gedicht über die „Namenswitze, unerlöste“ Kapitänin Carola Rakete verfasst. Die Kombination der beiden Thematiken kündigt sich in dem schon oben erwähnten Corona-Gedicht an. Auf der einen Seite hat die Welt deutlich gemacht, worauf und wie schnell sie in Corona-Zeiten reagieren kann („Quarantänehäuser sprießen / (…) Gelder fließen“). Sie ist aber nicht bereit, die gleiche Entschlossenheit in Bezug auf die Flüchtenden auf dem Mittelmeer und woanders zu zeigen: „Also will sie nicht beenden / Das Krepieren in den Kriegen, / Das Verrecken vor den Stränden / Und dass Kinder schreiend liegen. / In den Zelten, zitternd, nass. / Also will sie. Alles das.“
Eines der stärksten Gedichte in diesem Zusammenhang ist das Gedicht Warum sie wirklich zu uns kommen, wo es sarkastisch heißt: „Weil sie gern in kleinen Booten / über große Meere fahren / Wissend unter sich die Toten / Die in kleinen Booten waren / Weil sie sich in nassen Fetzen / Gern von letzten Träumen trennen / (…) darum, sag ich lauten Munds, / darum kommen sie zu uns!“
Er beschäftigt sich insgesamt aber nicht nur mit solch todernsten Dingen, sondern immer wieder auch mit kleinen alltäglichen Dingen, etwa in dem Gedicht Spülmaschine, das als Parabel auf das Leben gelesen werden kann: „Man packt sie voll und stellt sie an / Und räumt sie aus, ach ungefähr / drei Stunden ist sie voll und dann / Stellt man sie an und räumt sie leer, / Dann ist sie wieder voll, man stellt / Sie an und räumt die Sachen raus, / Und weil die Leere nicht lang hält, / Stellt man sie an und räumt sie aus, / Dann sind die Sachen aus dem Schrank / Zurück in der Maschine drin. / So geht das Leben, vielen Dank / so geht das Leben hin.“
Aber schwerpunktmäßig bestimmt ein politischer Impetus die Gedichte, darunter befinden sich auch „Elogen“ auf Politiker wie Christian Lindner oder den ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer (oder die ganze „Clique“ in dem Gedicht Corona Föderalis), über den es heißt. „Nie getäuscht und nie gelogen / Nie die Wahrheit krumm gebogen / Nie den Anstand die Ehre / Weggehängt für die Karriere / Nie den Bundestag beschummelt / (…) / Vorhang auf, Applaus, hier ist er / Scheuer der Verkehrsminister! / Unser Mann am falschen Platz / / Müsst zwar längst zurückgetreten / worden und mit Dampfraketen / Auf den Mond geschossen sein. / Doch die Hexe Autolobby / Hält sich Andy halt als Hobby / Knecht und Gollum so ist’s fein.“
Gsella nimmt in vielen Gedichten Stellung zu aktuellen politischen Debatten etwa um die Diskussion darüber, dass die Hohenzollern ihre Schlösser wieder einfordern, obwohl sie in der Nazizeit mit Hitler und Nazi-Deutschland sehr stark kooperiert haben. Ein Gedicht heißt Letztes Angebot: „Die Hohenzollern möchten gern / In unseren Schlössern wohnen. / (…) Zwar sind sie immer viel zu laut / Und sollten immer schweigen / Sie haben Hitler aufgebaut. / Doch soll man Nachsicht zeigen / Ein jeder Mensch braucht einen Ort / Und Seelen brauchen Frieden. / Frei wäre dieses Hüttchen dort. / Der Hund ist jüngst verschieden.“
Es ließe sich noch einiges im Einzelnen über den Band sagen, aber hier soll es bei dem Plädoyer bleiben, das Werk zu lesen. Denn abschließend lässt sich festhalten: Thomas Gsella hat ein großes kleines Buch geschrieben, das die Quintessenz seines Schaffens der letzten Jahre wiedergibt. Er wird in Zukunft gemäß dem Gesagten ein immer bekannterer Lyriker werden, dessen Kunst sich allerdings noch weiter herumsprechen sollte, frei nach dem Bonmot von Karl Kraus: „Ich bin berühmt, aber es hat sich noch nicht herumgesprochen.“ Einige der Gedichte verraten allerdings auch eine sehr düstere Weltsicht, die einem dazu sehr realistisch vorkommt, „falls es doch weitergeht“. Aber auch von einem Weltenzorn sind einige der Gedichte angetrieben, wo er „Seehofer oder Merkel“ als Anschrift und Namen des Verbrechens nennt, weil sie nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen. Zuweilen ist man geneigt anzunehmen, es kann nur noch schlechter werden und wir zeitgenössischen Menschen werden die Wende zum Guten nicht mehr mitbekommen: „Denn ich freu mich auch auf Zeiten, / die ich nicht erleben werde, / Da die Menschen ihre Erde / Tränken statt zuschandenreiten. / Ach, das wird was, wenn ich war.“
Mit einem nicht ganz geglückten, etwas kalauerhaft anmutenden Reim im Sinne Gsellas wäre zu schließen: Gsella macht die Leserschaft / politisch heller im Sinne der Aufklärung.
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