Sich erinnern an das, was man nie wiedersieht

In Gert Loschütz‘ Roman „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ bestimmt ein traumatisches Kindheitserlebnis das ganze weitere Leben eines Mannes

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karsten Leiser ist Ende der fünfziger Jahre aus dem märkischen Plothow mit seiner Mutter – der Vater hatte sich bereits vorher abgesetzt – in den Westen geflohen. Dem damals Elfjährigen hat sich der Tag der Flucht auf immer ins Gedächtnis gebrannt. Kam sie für das Kind doch völlig unerwartet und wurde deshalb als Verrat der Erwachsenen an ihm empfunden. Denn aus all den Vorbereitungen, die die Mutter in den Wochen davor traf, hatte der Junge keine Schlüsse auf die eigene Zukunft gezogen.

Nun, in den Morgenstunden eines Tages, den es nie vergessen wird, von den Großeltern zum Bahnhof begleitet, realisiert das Kind erst, dass eine Lebensetappe zu Ende geht, die Orte, an denen sich sein bisheriges Leben abspielte, und die mit ihnen verbundenen Erlebnisse sowie seine Freunde, Schulkameraden und Verwandten wie in einem Nebel verschwinden. Alles ist noch da, aber erreichbar nur für die Erinnerung des Jungen. Und es ist ein Satz der Mutter, ausgesprochen während jenes schmerzhaft-stummen Abschiednehmens, der Karsten Leiser durch sein weiteres Leben begleiten wird: „Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst.“

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist ist ein wiederaufgelegter Roman des 1946 in Genthin geborenen und – wie seine Romanfigur – elfjährig zusammen mit der Familie ins hessische Dillenburg übergesiedelten Gert Loschütz. Als das Buch zum ersten Mal erschien, 1990, trug es noch den Titel Flucht, den der Autor 30 Jahre später als nicht mehr zutreffend empfand. Ging es doch, wie er in einer Nachbemerkung zur Neuauflage betont, in dem Roman allein um die Flucht einer Familie aus der DDR in den Westen und ihre traumatischen Folgen für ein Kind, während das Flüchtlingsthema in den 2010er Jahren ganz andere Dimensionen angenommen habe. Deshalb wählte Loschütz nun bewusst jenen Titel, den 1988 bereits das mit dem Ernst-Reuter-Preis ausgezeichnete Hörspiel trug, in dem er diesen Stoff zunächst bearbeitete, ehe daraus ein Erzählwerk wurde. 

Die Geschichte, die das Buch erzählt, ist weitgehend autobiographisch. Auch Loschütz‘ Geburtsstadt Genthin taucht in seinen Werken immer wieder auf. So ist sie u.a. der Schauplatz des Romans Besichtigung eines Unglücks (2021), für den der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet wurde, und im drei Jahre davor, 2018, erschienenen Buch Ein schönes Paar ist es nicht nur der fiktive Ortsname Plothow, der beiden Romanen gemeinsam ist.

„Vielleicht verkläre ich Genthin auch ein wenig, weil ich mich nach unserem Umzug nach Hessen als Kind nicht wohlgefühlt habe“, hat Loschütz anlässlich seines 70. Geburtstages dem Autor eines Beitrages in der „Märkischen Volksstimme“ anvertraut. Und tatsächlich hat es den Anschein, dass, je älter der Autor wird, Genthin, sein Abschied als Kind von dieser Stadt und den Plätzen seiner Kindheit sowie die mit ihnen verbundene Geschichte seiner Familie immer wichtiger für ihn werden. Insofern ist die Wiederauflage seines 1990er Romans gerade jetzt nur konsequent.

Für Karsten Leiser jedenfalls ist der Weggang aus dem ihm Vertrauten eine Katastrophe. Weder ist er in der Lage, die gesammelten Kindheitseindrücke aus seinem Gedächtnis zu verbannen, noch fühlt er sich an den Orten, zu denen die Flucht ihn führt, wohl.Alsbald kommt er sich vor wie „ein Heimwehkranker, ein Klassenletzter, ein Heftezerfetzer, einmal ein Frauenhasser, leblang ein Orteverlasser“. Weil niemand verstehen will, dass für ihn

Wälder später immer Kiefernwälder waren, Wege durch Wälder immer Sandwege mit Fahrradspuren, Straßen immer Chausseen, daß Holzzäune immer nach Teer rochen, Pappeln immer Pappeln am Kanal waren, […], Wind im Sommer immer den Geruch von Kamille trug[,]

ist er zu wirklichen Bindungen nicht mehr fähig. Auch Vera, die Freundin, an die sich der Erzähler mit seiner Lebensbeichte richtet, kann sich nicht an „dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen“ Leisers gewöhnen, nicht daran, dass sie von seiner Vergangenheit auf immer ausgeschlossen zu sein scheint, und hat ihn deshalb verlassen. 

Da ist aus dem Kind, das hauptsächlich aus Erinnerungen lebte, inzwischen ein erfolgreicher Reisejournalist geworden, der Spuren von Genthin entdeckt, wohin immer es ihn verschlägt. Ob in Rom, auf Sardinien oder in Irland – überall entdeckt er Orte, die ihn an die verlorene Heimat erinnern und zu denen es ihn magisch hinzieht, weil sich die Landschaft seiner Kindertage in ihm „festgefressen hatte wie eine Krankheit“. Und er hat gelernt, den gewählten, durch Unrast und das Fehlen eines festen Lebensmittelpunktes gekennzeichneten Beruf als die natürliche Folge seines ersten Vertriebenseins anzunehmen. Das Hotel, in dem Mutter und Kind nach ihrer Ankunft im Westen für eine Nacht unterkamen, steht in dieser tragischen Lesart der eigenen Biographie für „alle anderen [Hotels], die unzähligen, die ihm später gefolgt sind“ und „nur dem einen Zweck gedient haben, dieses erste ungeschehen zu machen“.

Gert Loschütz ist ein Meister der genauen Beschreibung. Mit seinen Sätzen erweckt er Landschaften zum Leben, in denen sich gegenwärtige und vergangene Zeiten durchdringen. Wie Geister der Vergangenheit erscheinen urplötzlich Gestalten von damals in heutigen Szenerien. Und wenn Karsten Leiser sich an einen Wintertag erinnert, dann kann ihm der Leser mit allen Sinnen folgen:

Wenn es dann einen Tag und eine Nacht lang geschneit hatte und der Schnee liegengeblieben war, wurde der Schlitten aus dem Keller geholt, auf den Schnee gesetzt und die Leine, die, grau zerfasert, um den Eisenstab zwischen den Holmen geschlungen war, abgewickelt; wenn ich daran zog, bewegte sich der Schlitten ruckend vorwärts, […], und im Schnee sah ich den Rost, den die Kufen übers Jahr angesetzt hatten; von der schmalen Oberkante des Hoftors stäubte der Schnee, die Wollhandschuhe waren noch trocken und die Füße in den hohen Schuhen warm.

Genauso wenig, wie der reisende Autor in einer der zahlreichen Unterwegsgeschichten, die nicht immer wahr sein müssen, wie betont wird, seinen Koffer loszuwerden vermag – ganze viermal wird er ihm zurückgebracht, selbst das Meer will ihn nicht behalten und spült ihn wieder an Land –, gelingt es ihm letztlich nicht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Und je öfter sich der Tag des Weggangs in Leisers Vita wiederholt, mit umso mehr Unglück lädt er sich auf, eigenem wie fremdem. Dass man den Satz „Seitdem Unbehagen, wenn sich dieser Tag nähert“ bereits 1977 in Gert Loschütz‘ Notizen zum Lebenslauf findet, ist nur ein weiterer Hinweis darauf, wie eng bei diesem Autor Biographie und Werk miteinander verflochten sind. Die Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist darf in diesem Zusammenhang als eine Art Urszene verstanden werden, eine Urszene, aus der heraus sich Leben und Schreiben dieses Autors speisen.

Titelbild

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
208 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895611582

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