Pathologisches bei Goethe

Zur Dialektik von Genie und Wahnsinn und über den Psychiater Möbius

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Was nützen uns Ausführungen Über das Pathologische bei Goethe wie die des Neurologen und Psychiaters Paul Julius Möbius in seinem 1898 erschienenen Buch? Immerhin, sie weisen die andere Hälfte der Welt des Genies (und unserer eigenen Person) auf, sie zeigen, dass die von der bürgerlichen Normalität abgespaltene Pathologie eine Conditio sine qua non für jede Art des künstlerischen Schaffens ist. Mit dieser mittlerweile banalen Feststellung wäre auch den progressiven Wortmaschinen entgegenzutreten, die den Schizo als den wahrhaft Gesunden feiern und die selbsterwählten Anti-Helden Hölderlin, Büchner oder Nietzsche wortreich zerfleischen, um einen so scheinbar Gesunden wie Goethe unverdaut auszuspeien. Nein, so einfach ist es nicht! Goethe im Museum und Hölderlin im Turm, das sind nur zwei Strategien, sich dessen zu entledigen, was sie uns zu sagen hätten. Mal den einen zum Komplizen der eigenen Dummheit zu machen, mal dem anderen auch noch seinen Wahnsinn zu nehmen, das führt zu nichts.

Das „Pathologische“ an Goethe wiederzuentdecken, das ist eine vergleichsweise notwendige Tat. Immerhin ist es ein Versuch, das Standbild Goethes aus dem Schlick des offiziösen Kulturbetriebs zu ziehen und es vom Kalk zu befreien, den es im Meer der geschwafelten Worte angesetzt hat. Dieses Unternehmen bedeutet aber auch, Goethe als die allseits entwickelte Persönlichkeit vorzustellen, die er war und zu der vor allem auch eine entwickelte Psychopathologie gehört. Nur die allseits reduzierte Persönlichkeit ist von all den Vermögen, Eigenschaften und Leidenschaften befreit, die das bürgerliche Denken ins Reich des Krankhaften abgeschoben hat.

Die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts entdeckte die Dialektik von Genie und Wahnsinn und eignete sich damit ein Wissen an, das die Künstler selbst niemals verloren hatten. Aber warum denken wir beim Thema Genie und Wahnsinn nicht an den Fortschritt der Naturwissenschaften, der uns in absehbarer Zeit die geniale Umgestaltung des Planeten Erde in eine gigantische Militärmaschine bescheren wird? In der assoziativen Verknüpfung von Genie und Wahnsinn mit Kunst kommt wohl die Gewissheit zum Ausdruck, dass jede mögliche naturwissenschaftlich-technische Entdeckung prinzipiell wiederholbar wäre. So genial Newton oder Einstein auch waren, man ist geneigt, anzunehmen, ihre Leistung könnte ein zweites Mal vollbracht werden. Nicht so in der Kunst: Die Odyssee, der Hamlet oder der Faust könnten, gingen sie verloren, kein zweites Mal erschaffen werden, ist doch die Subjektivität ihrer Schöpfer die unabdingbare Voraussetzung des Kunstwerks. Und wie die Subjektivität eines jeden beliebigen Menschen, so ist auch die eines Homer, eines Shakespeare oder eines Goethe nicht wiederholbar. Deshalb also ist der Geniebegriff so eng mit dem der Kunst verbunden, weil Genie in diesem Zusammenhang die höchste Steigerung der Subjektivität, das ganz persönliche Er-Leben der Realität, die Widerspiegelung der Objekte in den Leidenschaften eines Bestimmten bedeutet. Diese unauflösliche Verflochtenheit mit der eigenen lebenden und leidenden Person teilt das Kunstwerk mit der Liebe und dem Wahnsinn.

„Ein Narr, der sich einbildet, ein Fürst zu sein, ist von dem Fürsten, der es in der Tat ist, durch nichts unterschieden, als dass jener ein negativer Fürst und dieser ein negativer Narr ist. Ohne Zeichen betrachtet, sind sie gleich“ (Georg Christoph Lichtenberg). Heißt das nun, dass jeder Narr ein Genie ist, nachdem wir auf die Dialektik von Genie und Wahnsinn hingewiesen haben? Heißt das nun, dass jedes erlittene Unglück einen Empfindsamen zum begnadeten Dichter macht? Wenn man auf das ,Vorzeichen‘ verzichtet, das Fürst und Narr trennt, dann kann man solchem Trugschluss wohl aufsitzen. Wenn sich heutzutage jeder begabte Schizo oder nur Artaud-Stammler selbst zum Genie erklärt, dann sollte uns das Beispiel des Heinrich Stieglitz (1801-1849) als Warnung dienen. Diesen heute vergessenen Lyriker, den Goethe einmal beiläufig lobend in den Gesprächen mit Eckermann erwähnt, können wir als wahrhaft Werther’schen Charakter bezeichnen, der es doch zu keinem Werther, wohl aber zu ein paar romantisch überspannten Lyrismen brachte. Über ihn bemerkt seine Ehefrau Charlotte: Er hatte

Angst vor dem Sprechen mit Menschen, selbst mit den genauesten Freunden. Dieser passive, nur schlaffe Zustand […] mochte wohl vier Wochen dauern. Dann wechselte er mit großer Aufmerksamkeit ab. Beklommenheit, Verwirrung, tödliche Unruhe steigerten sich nun, vorzüglich in geschlossener Luft, bis zum Entsetzlichsten. […] Völliger Lebensüberdruß mitten durch das Anerkennen, wie glücklich er sein könnte […]. Für diesen Sommer war er voller Pläne; nun ist alles vernichtet und eine tiefe Melancholie bis zur Menschenscheu an die Stelle des sonst so freudig Schaffenden und klar ins Leben Blickenden getreten. […] Je länger Sie ihn kennen, desto mehr werden Sie diese merkwürdige Ebbe und Flut bei ihm gewahren; nach zeitweiser Dürre schwillt mit einem Male der Nil und befruchtend überschwemmt er den ganzen Stieglitz nach allen Seiten hin; dann dichtet er nicht allein, sondern dann schreibt er Briefe dutzendweise, […] lebt, liebt, liest, […] sieht sich und andere klar, und hat alle zerstreuten Kräfte beisammen.

Kein Zweifel, der Mann war vom „Furor Wertherinus“ (Lichtenberg) gezeichnet. Er hätte, wie der Selbstmörder Karl Wilhelm Jerusalem, als Vorbild für Goethes Werther dienen können. Auch in Goethe selbst steckten Werthers Charakter und Leiden, wie der Dichter an vielen Stellen seiner autobiographischen Mitteilungen und in Briefen an Freunde verlauten ließ. Doch das Erleben der ins Monströse gesteigerten Leidenschaften, das Erleiden womöglich sämtlicher Symptome eines psychiatrischen Lehrbuchs genügen nicht, aus der Qual ein Kunstwerk zu formen. Dazu bedarf es, entgegen aller leidenschaftlichen Unmittelbarkeit, auch der kältesten Distanz, wenigstens nachträglich, zum Erlittenen. In dieser Spaltung und virtuosen Handhabung solcher Spaltung, die man getrost eine Selbstausbeutung, eine Ausbeutung des eigenen Erlebens nämlich, nennen könnte, liegt eine zweite unentbehrliche Voraussetzung künstlerischen Schaffens. Schließlich hat sich nicht Goethe, sondern Werther erschossen. Indem er seinen Stellvertreter umbrachte, brachte sich Goethe auch um dessen Erleben, das in dieser Form jedenfalls kein zweites Mal in seiner Dichtung auftaucht. In dieser Spaltung, die den kreativen Prozess begleitet, liegt ein Stück manipulierter, das heißt gehandhabter Irrsinn, wie der Nervenarzt Möbius, Goethe charakterisierend, treffend feststellte: „Wenn jemand imstande ist, jederzeit sich selbst zu beobachten, so ist er einerseits sehr zum Seelenmaler geeignet, andererseits aber nicht normal. Der natürliche Mensch ist bei seinen Hauptangelegenheiten ,mit ganzer Seele‘, er gibt sich hin. Die andauernde Kritik entspricht einer Hypertrophie des Denkens und gehört zur Nervosität. Ich habe nervöse Leute gekannt, die sich in der Brautnacht scharf beobachtet hatten und geneigt waren, gerade im Momente größter Erregung Betrachtungen anzustellen, und andere, die beim Tode der nächsten Verwandten neugierig auf ihre Empfindungen waren. Dem Gesunden ist so etwas geradezu unheimlich […].“ Es ist also ein Stück Depersonalisation und Derealisation, das den Dichter wie den Analytiker zu seinen Seelengemälden befähigt, wobei sie die Farben für ihre Gemälde aus der latenten, (emotionalen) Realität nehmen, die dem Gesunden, das heißt hier: dem unmittelbar Lebenden, so nicht zugänglich ist.

Unter dieser Perspektive betrachtet ist das Streben nach Gesundheit geradezu identisch mit der versuchten Aufhebung der Spaltung, deren höchste Steigerungsform sich in der introspektiven Psychologie dokumentiert: „Wer in sich recht ernstlich hinabsteigt, wird sich immer nur als Hälfte finden; er fasse nachher ein Mädchen oder eine Welt, um sich zum Ganzen zu konstituieren, das ist einerlei“ (Maximen und Reflexionen). Vielleicht versucht der Künstler, sich als Ganzheit wiederherzustellen, indem er sich das Kunstwerk als die andere Hälfte seiner selbst gegenüberstellt. Er folgt damit nur einer Notwendigkeit, sich vor dem Zerbrechen, also vor dem Wahnsinn zu schützen. Dieser Zug, sich als Einheit zu erhalten oder wiederherzustellen, ist, wie Goethe in der Farbenlehre ausführt, in der Natur allgegenwärtig: „Jedes Wesen, das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt erhalten. Dies ist eine ewig notwendige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes Einzelne habe Charakter bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt, wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen selbst Charakter zuschreiben: denn er gibt auf, was andere Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu seiner Natur gehört: die Ehre, den Ruhm, nur damit er seine Persönlichkeit erhalte.“ Das Fatale ist nur: In der Liebe, in der liebenden Vereinigung, ist die Einheit des Individuums aufs äußerste gefährdet. Hier soll sich einer zur Hälfte machen, um sich zu zweit als Einheit zu erleben! Goethe selbst war hierzu, die Kette seiner unglücklichen Liebschaften beweist es, lange Zeit nicht fähig. Er hatte Angst, sich dem Objekt unmittelbar zu nähern. Distanzrituale, physische Flucht und kreative Schöpfungen dienten der Selbst-Erhaltung. Erst auf seiner Italienreise, als fast Vierzigjähriger, wird er gewahr, was ihm bislang unmöglich war. An Charlotte von Stein, zu der er über zehn Jahre hinweg ein besonders quälend-distanziertes Verhältnis unterhielt, dem er sich durch Flucht aus Weimar entzogen hatte, schreibt er aus Rom (am 8.6.1787): „Übrigens habe ich glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind weil sie ganz sind, auch der Geringste wenn er ganz ist kann glücklich und in seiner Art vollkommen seyn, das will und muß ich nun auch erlangen, und ich kanns, wenigstens weiß ich, wo es liegt und wie es steht, ich habe mich auf dieser Reise unsäglich kennen lernen.“

Wenn die Frau des Heinrich Stieglitz sich 1834 in Berlin am Schiffbauerdamm im Bette liegend ein Messer in die Brust stieß, um durch solches Leid, wie sie in ihrem Abschiedsbrief schrieb, ihren Mann doch noch zum genialen Kunstwerk zu inspirieren, so saß sie einem Trugschluss auf. Zwar verfasste Hans Kyser 1915 das Drama Charlotte Stieglitz, doch ihr Mann blieb, was er war: eine Art genialer Narr, vom Werther’schen Fieber hin und her geschüttelt, der es nur zu Unbedeutendem brachte. Seine Frau hatte Lichtenbergs Aphorismus wohl zu wörtlich verstanden. Mit der dichterischen Inspiration muß man doch ein wenig kunstvoller umgehen, da genügt es nicht, die Flasche der Leidenschaften zu schütteln, bis sie explodiert.

Oskar Panizza bezeichnet – im Anschluss an den französischen Psychiater Jacques-Joseph Moreau – das Genie als „eine Art stehengebliebener Geisteskrankheit“. Panizza, zunächst Arzt in einem psychiatrischen Spital, bevor er, in der Mitte seines Lebens, sich in ein solches als Geisteskranker einweisen ließ, beschreibt anschaulich, wie das Genie seinen Wahnsinn bändigen muß, um ihn produktiv zu machen:

Man hat trivial, aber sehr illustrativ, den menschlichen Geist mit einer Flasche Sodawasser verglichen. Die Klarheit der Flüssigkeit entspricht dem normalen Zustand. Bei normaler Geistesverfassung fühlen wir unsere Gedanken nicht als solche. […] Sobald der Stöpsel Luft bekommt, beginnt das Perlen und Sich-Trüben der Flüssigkeit. Der Stöpsel repräsentiert den controllierenden Druck unseres bewußten Aufmerkens, unseres Verstandes. Die aufsteigenden Perlen sind das Freiwerden der Imagination, die Bilder der Phantasie. In diesem Zustand befinden wir uns alle im Schlaf. Unsere Aufmerksamkeit erlischt, und die Phantasie, die stets parat ist, wie die Kohlensäure, sobald der Druck von ihr genommen, emporzusteigen, beginnt ihre Tätigkeit als Traum […]. Im Traum selbst sind wir kritiklos, naiv-zuschauend. Sobald wir erwachen, erblicken wir den Wirrwarr; wundern uns über unsern eigenen Zustand. Und mit dem Einstellen des bewußten Aufmerkens, mit dem Fester-Aufdrücken des Stöpsels, hört der ganze Spuk auf; die Perlen bleiben aus, die Flüssigkeit wird wieder klar […]. Das Ingenium ist dann eine schlecht schließende Flasche, bei der auch Tags über Perlen in größerer oder geringerer Menge durchschießen. Diese Perlen, diese Bilder, diese Motive […] erregen […] seine gespannteste Aufmerksamkeit, sogar Angst, Unruhe […]; und nun beginnt eine erregte, fieberhafte Tätigkeit; der Verstand ist gezwungen, sich mit den fremden Faktoren abzufinden, sie zu verarbeiten; und das Resultat ist, wenn es gut geht, ein geniales Werk, ein unerhörter Fund, eine barocke Idee, aber immer ein Unicum. Der beginnende Geisteskranke, der beginnende Hallucinant ist dann ebenfalls eine Flasche mit gelockertem Stöpsel, bei der die Perlen immer stürmischer auftreten. […] Auch der beginnende Hallucinant stutzt genau anfangs wie das Genie über den fremden Eindringling, ist in Zweifel, geräth in Unruhe […]; aber meist häufen sich dann die Sinnesbilder so stürmisch, dass der Verstand Controlle und Kritik verliert, und das wilde Meer der Imagination den ganzen Menschen wie ein steuerloses Schiff hin- und herwirft.
(Panizza, Genie und Wahnsinn, 1891)

Man sollte glauben, Freud habe diesen Text bei Abfassung der Traumdeutung gekannt. Traum, Wahnsinn und Genialität – schon seit alters her, spätestens seit Platon, miteinander in Verwandtschaft gesehen – sind voneinander nur getrennt durch das Ausmaß der Kontrolle, die der Verstand ausübt. Bei Freud ist es der ,Zensor‘, der den ,Schlaf‘ überwacht und der das Wechselspiel zwischen Primärprozess (ungebundener Energie = Panizzas perlende Kohlensäure) und Sekundärprozess (gebundener Energie = Panizzas klare Flüssigkeit) reguliert. Ohne perlenden ,Wahnsinn‘ keine Genialität, sondern Sterilität. Bloßer Wahnsinn aber ist assoziative Beliebigkeit, Subjektivität, die durch keinen anderen Menschen nachvollzogen werden kann, nackte, nicht gestaltete Natur.

Genie und Wahnsinn am Beispiel Goethes zusammenzudenken, wie Möbius dies versucht, das war am Ende des 19. Jahrhunderts – und ist es wohl auch heute noch – ein kleines Wagnis. Zwar war die neueste Stimmung im Süden, etwa die in Wien oder die auf dem Berge der Wahrheit in Ascona (der Anarchist Fritz Brupbacher notiert 1907 über Ascona: „Hauptstadt der psychopathischen Internationale“), dem Genie- und Wahnsinnsgerede durchaus hold – kaum noch überschaubare Massen von Abweichlern, Außenseitern, Decadents, Kulturfreaks, Nacktbadern, Anarchisten, Kräuter- und Haschischessern machten sich damals auf den Weg, dem ausgehenden und dem kommenden Jahrhundert zu beweisen, wie einzigartig einer sein kann, der sich, mit ein wenig Wahnsinn verziert, dem Bürger als Schreck präsentiert –, doch an Goethe als Schizo dachte damals kaum einer. Der „Lizentiat der Rechte“, der „Geheime Legationsrat“, der „Geheime Rat“, der „Wirklich Geheime Rat“, der „Staatsminister“, den man mit einem Adelsdiplom versehen hatte, der mit dem französischen Kaiser über den Werther parlierte, als Franzosenhass unter deutschen Freigesinnten gerade en vogue war, der Bergwerke, Bibliotheken, Münzsammlungen und das Weimarer Hoftheater gleichermaßen oberbeaufsichtigte – wie sollte man bei dem an Außenseitertum und Wahnsinn denken?

Möbius’ Schrift Über das Pathologische bei Goethe tritt dem Dichter denn auch nicht zu nahe. Zwei Seelen müssen wohl in der Brust des Leipziger Bildungsbürgers und Gelehrten miteinander gekämpft haben, bevor er sich, eingedenk des gelassenen Goethe’schen Wortes „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“, ein Herz nahm, um die seit Cesare Lombroso vertretene psychiatrische Lehre von der „Entartung“ des Genies am Beispiel Goethes zu exemplifizieren. Möbius’ Psychiatrisierung Goethes fällt dann aber doch eher vorsichtig aus. Die Hauptlast des Pathologischen entdeckt Möbius an den Figuren des Dichters: am depressiv-manischen Werther, am paranoiden Tasso, an der hysterisch-anorektischen Ottilie usw. Ein übriges Maß an Entartung bekommen Goethes Frau Christiane und der Sohn August zugeteilt, die des Dichters schleichenden Alkoholismus ein wenig dreister praktizierten. Dazu die „Tanzwut“ der Christiane und der von Möbius angedeutete Selbstmord des August in Italien, das ergibt immerhin noch genügend Beweis für die Entartungslehre, zu deren Vertretern zuletzt noch Gottfried Benn zählte, der weiß, dass „die Stunde des Genies“ schlägt, wenn nach „Generationen der Tüchtigkeit der Abstieg beginnt, der wirtschaftliche Konkurs, der Selbstmord, die Kriminalität“. Eine solche Stunde des Genies hatte freilich nicht geschlagen, als Möbius sich aufmachte, Goethes Pathologie zu enthüllen. Aber doch immerhin eine Stunde der psychiatrischen Tüchtigkeit und des Fleißes, Lorbeeren, die der Fachmann Möbius dem Dichter Goethe nicht gerade zu bescheinigen hat. Nach Begutachtung Goethe’scher Helden kommt Möbius zu dem traurigen Schluss, dass deren Konzeption mit psychiatrischen Lehrbuchmeinungen nicht durchweg übereinstimmt. Goethe hätte „im psychiatrischen Examen nur mäßig gut bestehen, eine weniger gute Note als Shakespeare davontragen“ können, weiß unser Gewährsmann ein Fazit zu ziehen.

Es muss wohl auch an einer inneren Hemmung des Bildungsbürgers Möbius gelegen haben, dem Bildungsheros Goethe eine profunde Geisteskrankheit zu bescheinigen. Leichter tat er sich da in einem anderen Werk: Nietzsche (1902). Hier konnte er in die Vollen greifen, wusste doch alle Welt, dass der arme Nietzsche Jahre in geistiger Nacht vor sich hingedämmert hatte. Nietzsche gab Möbius gewissermaßen die Gelegenheit, Über Entartung (1900) zu referieren, die ihm Goethe in diesem Ausmaß nicht bot. Möbius konstatiert im Falle Nietzsches eine ursprünglich krankhafte Anlage, die „man etwa einem Fermente vergleichen [könne], das bei der Entstehung des Nietzsche-Gehirns eigenthümliche Kombinationen hervorrief [und] verhinderte, dass Nietzsche wie seine Vorfahren ein ehrsamer Pfarrherr wurde […]“. Nietzsche, der sich seine Anhänger nach eigener Aussage immer nur als Nullen hinter einer 1 vorstellen konnte, hat wohl zu wenig an seine Widersacher gedacht. Als solcher entpuppt sich Möbius nämlich, wenn er Nietzsche-Adepten warnt, so als handle es sich bei diesen um die Kundschaft eines Falschmünzers: „Wenn ihr Perlen findet, so denkt nicht, dass das Ganze eine Perlenschnur wäre. Seid mißtrauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker“, bramarbasiert Möbius über Nietzsches Werk. Vollends um die Nietzsche-Forschung hat sich unser Gewährsmann allerdings verdient gemacht durch die Einführung der hier erstmals so genannten „Dr. Möbius’schen Honigprobe“, ein Verfahren, das sich als quasi naturwissenschaftlich-experimentelle Technik überhaupt zur Einführung in die literarische Textanalyse empfiehlt. Im Zarathustra entdeckte Dr. Möbius neben vielen anderen „Geschmacklosigkeiten“ auch die folgende Zungenqual: „gelber weißer guter eisfrischer Waben-Goldhonig“. Diesen Nietzsche’schen Leckerbissen lässt sich Dr. Möbius nicht entgehen. Er schreibt: „Eis-Honig kommt [in diesem Text – B. N.] wiederholt vor. Abgesehen davon, dass in Zarathustras Höhle und auf den Bergen kein Eis ist, kühlt kein Verständiger den Honig auf Eis. Ich habe es experimenti causa gethan; es geschah, was zu erwarten war: der Honig verlor sein Aroma und schmeckte wie Syrup.“ Diese Entdeckung, vor allem aber auch deren sprachliche Darbietung, qualifiziert, wie ich meine, den lieben Möbius zur Teilnahme an einer ,Nationalmannschaft‘ deutschsprachiger Zungenvirtuosen, zumal, wie Möbius unter strengem Verweis auf Nietzsche gesteht, ihm „geschwollene Reden äußerst unsympathisch“ seien.

Möbius, der sich auch Über Schopenhauer (1899), und, dessen vermeintlichem Weiberhass folgend, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1901) äußerte, verstand, sich pointiert auszudrücken. Nun sollte uns das Lächeln über ihn allerdings vergehen, wenn wir daran denken, dass die psychoanalytische Lehre von der moralischen Minderwertigkeit des Weibes – dessen neidischer Charakter getreu der Freud‘schen Geschlechtsphobie an einem Stück Penis festzumachen ist – immerhin Generationen von Psychoanalytikerinnen bis auf den heutigen Tag (nach ein paar hundert Stunden Lehranalyse) sehr wohl eingeleuchtet hat. Ich meine, was Freud recht ist, sollte Möbius billig sein: Anerkennung. Freud jedenfalls zollte sie dem Kollegen Möbius bereitwillig, den er in einem Brief an Fließ „den besten Kopf unter den Neurologen“ nennt. Und selbst noch in Amerika, wohin er reiste, um an der Clark University Vorlesungen zu halten, lobt Freud den Dr. Möbius über den grünen Klee. In einem Interview mit der Tageszeitung Boston Evening Transcript (11.9.1909) nennt Freud Möbius – neben Liébeault und Bernheim – einen der Pioniere der modernen Psychotherapie. Das waren noch Zeiten, als die Psycho-Gurus von Europa nach Amerika reisten, nicht wie heute, wo sie die umgekehrte Richtung einschlagen! Freud hatte mit seinem Urteil keineswegs unrecht. Tatsächlich war Möbius – wie etwa auch Eugen Bleuler – einer der führenden Köpfe, die für eine Reformierung der Psychiatrie eintraten. Vor allem wollte er den monistischen Standpunkt der ,Somatiker‘ überwinden, die behaupteten, jede psychische Krankheit sei ausschließlich organisch bedingt. Möbius versuchte, an der Tradition der ,Psychiker‘ wiederanzuknüpfen, die meinten, dass psychologische Faktoren bei der Verursachung psychiatrischer Leiden unbedingt mit zu berücksichtigen seien. Möbius’ Hysterie-Lehre beispielsweise kann als durchaus fortschrittlich angesehen werden, behauptete er doch, die Hysterie sei keine reine Gehirnkrankheit, vielmehr durch Vorstellungen – also Imaginationen – mitbedingt.

Solchen „psychophysischen Parallelismus“, zu seiner Zeit keineswegs selbstverständlich, versucht Möbius auch in seinem Goethe-Buch zu vertreten, wenngleich er dabei auf halbem Wege stecken bleibt. Immerhin lehnt er den „plumpen Materialismus“ der seinerzeit herrschenden Psychiatrie konsequent ab. Er geht sogar so weit, von jedem Arzt psychologisches Wissen zu verlangen, denn auch bei der Behandlung bloßer Organkrankheiten spielten psychologische Faktoren eine Rolle. Doch am Ende bekommt Möbius Angst vor seiner eigenen Courage. Wenn er auch betont, dass „zwischen Gesundheit und Geisteskrankheit keine scharfe Abgrenzung anzunehmen sei“, so zieht er aus dieser mutigen Erkenntnis in seinem Goethe-Buch doch nicht die notwendigen Konsequenzen. Aber, wie gesagt, für seine Zeitgenossen waren solche Äußerungen noch einigermaßen unerhört. So lobt denn auch die damalige Fachkritik Möbius’ Werk: „Ein hochangesehener, vielerfahrener Nervenarzt geht hier den Spuren des Pathologischen in Werken und Wesen unseres größten Dichters nach. Da in der großen Goetheliteratur ein ähnlicher Versuch noch nicht vorhanden war, verdient die Schrift erhöhte Aufmerksamkeit“ (Deutsche Litteraturzeitung). Und das Buch wird „als die inhaltsreichste Frucht der Goetheforschung der jüngsten Jahre“ gefeiert (Litterarisches Centralblatt).

Wenn Möbius die Konsequenzen seiner aufrührerischen Einsichten auch nicht selbst vertritt, so lässt er sie durch vorurteilsloses Zitieren doch von dem Dichter aussprechen. Dessen Ansichten über die Zerrüttung der geistigen Gesundheit korrekt herausarbeitend, schreibt Möbius über Goethe: „Der Wahnsinn ist ihm die Wirkung oder eigentlich der höchste Grad der Leidenschaft. Im Sinne des Dichters ist Einer umso mehr wahrer Mensch, je stärker er empfindet. Der leidenschaftliche Mensch ist der eigentlich Gesunde, gerade ihm aber droht die Gefahr des Wahnsinns. Eben deshalb hat der Dichter Interesse am Wahnsinne und sozusagen Respect vor ihm […]. Macht nicht die unglückliche Liebe oder Kummer, Sehnsucht wahnsinnig, so ist der Wahnsinn dichterisch überhaupt nicht brauchbar.“ Wie gut hat Möbius seinen Goethe verstanden! Besser als die meisten, die Goethe als einen mittelmäßigen, angepassten Allzu-Gesunden abstempeln. Aber dann nimmt Möbius wieder den Standpunkt im psychiatrischen Ordinationszimmer ein und kanzelt den Dichter ab: „In Wirklichkeit liegen die Dinge freilich anders.“

Wie denn? Na, eben so: „Die ,Leidenschaftlichkeit‘ ist nicht eine Eigenschaft des gesunden Menschen. Bei diesem sind leidenschaftliche Erregungen selten […]. Ein wirklich gesunder Mensch wird nie durch Leidenschaften oder Gemüthserschütterungen geisteskrank werden, denn die gesunde Natur wehrt sich gegen das Übermaaß, stößt das Traurige, Feindliche hinaus, wie der Körper einen eingedrungenen Splitter.“ Das könnte man schon als die Beschreibung gesunder Normalität verstehen, die auch dann noch hält, wenn alles ringsumher in Scherben fällt. Und die vor allem, auch darin ist Möbius recht zu geben, das „Traurige“ und „Feindliche“ vernichtet, und sei es nur, indem sie es beim anderen und Andersartigen grausam verfolgt. Nach „tausend“ Jahren weiß man, dass diese bürgerliche Selbstverteidigungs- und Vernichtungsstrategie einigermaßen funktioniert. […]

Die Zerstörung der Sinnlichkeit, Emotionalität und Leidenschaft, die Konsequenz des Wahnsinns als Ausdruck einer verlorenen Liebe, das Zugrundegehen an psychischen Verletzungen, die unter dem Deckmantel verlogener bürgerlicher Moral und Sittlichkeit verabreicht werden, das sind Themen Goethe’scher Dichtung. Das ist, zum guten Teil auch Goethes eigenes Schicksal. Hier taucht allerdings ein Goethe auf, der anders ist, anders als der, den uns die bürgerliche Feuilleton- und Literaturgeschichte zurechtgeschrieben hat.

Folgen wir K. R. Eissler (Goethe. A Psychoanalytic Study, Vol. I-II, Detroit 1963), dann erkennen wir einen Goethe, der mit dem unglücklichen Lenz die Hypersensibilität, die kaum kontrollierbare Emotionalität, die affektive Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit teilt; der, im Unterschied zu Lenz, gerade noch der schizophrenen Psychose entgeht; der trotzdem zeitlebens unter paranoiden Ängsten, vor allem auch unter (unausgelebten?) homosexuellen Wünschen zu leiden hat. So gesehen, kann man den Faust auch als das Drama eines homosexuellen Verführungsversuchs lesen, der am Ende glückt. Denn immerhin hält Mephisto am Schluss des Dramas den Körper des Faust in seinen Armen, während lediglich dessen pietistisch-herrnhuterische Seele von dannen und in den Himmel schwebt, aus dem die tröstlichen, doch in diesem Falle gänzlich unglaubwürdigen Worte ertönen: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“. Wie wenig dieser fromme Spruch auf den Faust zutrifft!

Der Kollege Schiller teilt Aufschlussreiches über sein homophiles Begehren, das sich auf Goethe richtet, mit; der seinerseits versteht es, sich zu zieren, abzuwehren, was wiederum Schiller frustriert: „Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen […]. Er besitzt das Talent, die Menschen zu fesseln, und durch kleine sowohl als große Attentionen sich verbindlich zu machen; aber sich selbst weiß er immer frei zu behalten. Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben – dies scheint mir eine konsequente und planmäßige Handlungsart, die ganz auf den Genuß der höchsten Eigenliebe kalkuliert ist […]. Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen.“

Nein, Goethe ist nicht der Frauenheld, den uns die erotische Phantasie unserer Deutschlehrer, den uns vor allem aber auch Goethes eigene kunstvoll zwischen Dichtung und Wahrheit arrangierte Liebschaften suggerieren wollten. Goethe überwindet, folgen wir Eisslers tiefschürfender psychoanalytischer Interpretation, seine Angst vor Frauen erstmals auf einer Reise in den Süden. Hier, in Italien, in Rom, glückt, laut Eissler, Goethe erstmals, jetzt fast schon vierzig Jahre alt, ein befriedigender heterosexueller Koitus. Mit einer mehr oder weniger wohlfeilen Schankwirtin, die in den Römischen Elegien als Faustina gefeiert wird, findet Goethe sein Glück. Vorher litt er, laut Eissler, an Impotenz und Kastrationsangst, an Ejaculatio praecox, die sich – vordergründig – auf seine Hypersensibilität und -emotionalität zurückführen lassen. […]

Vom Sittlich-Moralischen wurde Goethe spätestens nach seinen Leipziger Studentenjahren angefallen. Nicht zuletzt mag dazu die unglückliche Liebe zu Käthchen Schönkopf geführt haben, die in ihres Vaters Leipziger Kneipe als Bedienung wirkte. Goethe verliebte sich, geriet in einen desolaten Zustand – „Verflucht sey die Liebe“, schreibt er an den Jugendfreund Behrisch (Nov. 1767) – und kehrte aufgelöst ins Frankfurter Elternhaus zurück. Eissler spricht in diesem Zusammenhang von einer psychotischen Episode mit schweren Depersonalisationserscheinungen. Man weiß, dass solche Zustände körperlicher und geistiger Schwäche eine ideale Voraussetzung für religiöse Erweckungserlebnisse abgeben. Und da die von Pietismus und Herrnhuter’scher Reinheit erfüllte Susanna Katharina von Klettenberg Goethe in Frankfurt wieder gesundpflegte, dürfen wir ihr wohl ganz wesentlich die Förderung des nachhaltig-idealischen Zuges in Goethes späterem Werk zuschreiben.

Der „Frankfurter Zustand“ führte Goethe, nach eigenen Worten, in „jene mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen“, „in dunkle Regionen“, die wir in der „erotischen Chemie“ der Wahlverwandtschaften ebenso wiederfinden wie im Faust’schen Bemühen, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Vorerst machten die in Frankfurt erlittenen pietistischen Attacken Goethe unfähig, halbwegs erdnahe Beziehungen zu einer Frau aufzunehmen. Schon wenig später, in Straßburg, verließ er daher Friederike Brion fluchtartig, als die sittliche Gefährdung irgend zu hautnah zu werden drohte: „Hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue […] höchst peinlich, ja unerträglich“, dichtete Goethe später über die schnöde Wahrheit, die er anders nicht verstehen wollte. War diese Wahrheit doch, dass selbst eines Pfarrers Tochter eher aus Fleisch und Blut und Begierden denn aus sittlichen Idealen besteht. Hinfort verlegte sich der junge Rechtsgelehrte vorsichtshalber auf das Entfernt-Lieben von Frauen, die bereits vergeben waren. Für Freud wäre diese Wahl, die als Liebesbedingung einen Dritten (Rivalen) einschließt, der beste Beweis für inzestuös-ödipale Wünsche gewesen. Für Goethe jedoch bedeutete das Vorhandensein eines Dritten (Verlobten, Ehemanns) die sichere Gewissheit, nicht in eine zu gefährliche und zu ängstigende Nähe zur angeschwärmten Geliebten zu geraten. Den damit verbundenen Werther’schen Liebeskummer und Weltschmerz konnte Goethe noch eher ertragen als jene möglichen Gefahren, die eine leidenschaftliche Vereinigung mit der Geliebten für ihn zu dieser Zeit mit sich gebracht hätte. […]

Die zehn Weimarer Jahre mit Charlotte von Stein, die Goethe rückblickend, aus der Perspektive römischer Ausgelassenheit wahrnehmend, als „schmerzlich“ und „lästig“ bezeichnete, brachten ihm, gerade weil die verheiratete Hofdame jeder körperlichen Vereinigung abhold war, zunächst einmal (frustrierende) Sicherheit. Er konnte schwärmen und darben, wie es sich für einen idealischen Dichter gehört. Eissler meint, Goethes Beziehung zur Frau von Stein sei als eine Art „Übertragungsbeziehung“ anzusehen. Also wie eine quasi-therapeutische Beziehung zu werten, in deren Verlauf alte Kindheitslieben – zur Mutter, zur Schwester – reaktiviert werden, jedoch keine leidenschaftliche Befriedigung im Hier und Jetzt finden können. Für diese These spricht einiges. Goethe selbst scheint seine wahn-sinnige Beziehung zur Frau von Stein halbwegs begriffen zu haben. In einem Gedicht, das er ihr widmete (1776), schreibt er: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten / meine Schwester oder meine Frau.“ Und bei anderer Gelegenheit bemerkt er: „Ich kann mir die Bedeutsamkeit – die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung. – Ja, wir waren einst Mann und Weib!“ Einst – nur nicht hier und heute. Der mystische Spuk sitzt tief und fährt Goethe wohl in alle Glieder. „Sie hat meine Mutter, Schwester und Geliebten nach und nach geerbt […]“, gesteht er, Frau von Stein betreffend, weiter. Das heißt wohl, dass die zielgehemmte Liebe ein therapeutischer Hebel war, mit dessen Hilfe Goethe sich von früheren konflikthaften Fixierungen zu befreien suchte. Letztlich allerdings machte sich Goethe durch die Flucht nach Italien von der magischen Macht frei, die ihn an die Frau von Stein fesselte. Diese Frau aber verdankte ihre ‚magische‘ Macht einzig und allein ihrem Herzen aus Stein, das es ihr gestattete, den Dichter immer gerade so weit zu erhitzen, dass er an sie gebunden blieb, ohne ihm irgendetwas zu gewähren, das ihn befreit, erlöst hätte. Die zielgehemmte Liebe ist noch immer die beständigste, auch das lehrt Freud, während der sinnliche Genuss in seiner Befriedigung seine Erschöpfung findet.

Am Vorabend der Französischen Revolution, die die Vernunft als Göttin (abendländischer Zweckrationalität) endlich inthronisierte, erschien der Werther. In diesem Buch wird ein Feuerwerk der Leidenschaften abgebrannt. Enthusiasmus und Depressionen wechseln einander ab, bevor sich der Held nicht ohne ausgeklügelte Aggression gegen Charlotte und Albert (die Pistolen stammen von Albert, Charlotte überreicht sie Werthers Diener) per Kopfschuss verabschiedet. Was ist gegen dieses Monstrum an Narzissmus ein „Märchenprinz“ aus unserer Zeit? Wieso konnte dieses „Drama eines begabten Kindes“ schon damals geschrieben werden? Wieso wirkt dieser über zweihundert Jahre alte Held so wenig angestaubt, so taufrisch, dass er auf den ersten Blick wie ein „neuer Sozialisationstyp“ erscheint? Lassen wir diese süffisanten Fragen!

Werther ist, jenseits aller psychologischen Deutung, zunächst einmal der Anwalt einer leidenschaftlichen, unsinnigen, vernunftwidrigen und daher auch unnützen Liebe. Seit Werther – spätestens – ist jede wahre Liebe eine unglückliche Liebe. Also lieben, das heißt leiden. Und die menschliche Leidensfähigkeit hat ihre Grenzen, wie Werther dem vernünftigen Albert gegenüber versichert: „Die menschliche Natur […] hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.“

Das Fieber unserer Leidenschaften kann uns ebenso hinraffen wie das der Malaria, das ist hier Goethes Botschaft. Und die Bekämpfung beider Arten des Fiebers ist Kulturarbeit. Freud stellte das fest, als er die Überwältigung des Es (der Leidenschaften) mit der Trockenlegung der Zuydersee verglich; und Frantz Fanon stellte das fest, als er Die Verdammten dieser Erde beschrieb und meinte, die Trockenlegung afrikanischer Sümpfe, die Vernichtung der Malariafliege und die Bekämpfung magisch-zauberischer Riten des Eingeborenen seien Ausdruck ein und derselben Strategie: der kolonialistischen. Und zu deren Weisheit gehört auch die Möbius’sche Feststellung, Leidenschaften seien bei einem gesunden Menschen über das normale Maß hinaus nicht anzutreffen. Bei Geisteskranken dagegen – und Werther ist ein solcher – findet man die Krankheit der Leidenschaft, die in der Heilung noch allemal vernichtet werden soll.

Im Werther werden drei Unglückliche vorgeführt, mit dreierlei möglichem Schicksal. Da ist zunächst einmal Werther selbst, der seine narzisstische Wut gegen sich lenkt, wenngleich er weiß, dass der Ausdruck der Aggressionen nach außen weniger schaden würde. So notiert Werther anlässlich einer durch einen Höfling erlittenen Demütigung: „Ich wollte, daß sich einer unterstünde, mir’s vorzuwerfen, daß ich ihm (dem Höfling) den Degen durch den Leib stoßen könnte; wenn ich Blut sähe, würde mir’s besser gehen. Ach, ich habe hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen. So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit verschaffte.“

Wie häufig hat sich einer eine Ader geöffnet, der – wäre er mutiger, weniger gehemmt gewesen – lieber einem anderen eine Kugel in den Wanst geschossen hätte! Aber Werther gehört nicht zu dieser Sorte Natur-Mensch. Dafür ist er von des Gedankens Blässe, von zivilisatorischer Vernunft und Selbstbeherrschung der Leidenschaften doch schon zu sehr angekränkelt. Alles, was Werther noch zustande bringt, ist die Schwärmerei für einen Bauernburschen, der als literarisches Pendant im Roman auftaucht. Dieser Bauernbursche ist in leidenschaftlicher Liebe zu seiner Dienstherrin entbrannt, die ihm geschickt „kleine Vertraulichkeiten erlaubt“, sein Feuer schürt, ohne es zu löschen. Er reagiert naturgemäß und bringt seinen Nebenbuhler um. Werther-Goethe preist diese Tat des Naturburschen: „Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die wir ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten – zu Nichts Verbildeten!“

Und der dritte unglücklich Liebende im Roman, der im Hause Charlottes gedient, sich in diese verliebt hat, zeigt, jenseits von Selbstmord und Mord, den dritten Weg ins Unglück auf: den Wahnsinn. Weil er unerhört liebt, landet er schließlich „an Ketten im Tollhause“. Er wird „rasend“, verfällt in ein hitziges Fieber, bevor er sich schließlich in seinem Wahn akkommodiert, sich in jener anderen Welt mit der unglücklich Geliebten und „mit Königen und Kaisern zu schaffen macht“.

Gewiss, der Werther ist ein Stück von des Dichters eigen Fleisch und Blut. Über den Werther bemerkt Goethe zu Eckermann: „Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe […]. Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es [das Buch] hervorging.“ Und an Zelter schreibt er, als dessen Stiefsohn sich umgebracht hatte: „Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt Werther wohl niemanden zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem späteren Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte […]. Ich getraute mir, einen neuen ‚Werther‘, zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehn sollten als über den ersten.“

Dieser andre Werther ist der Tasso. Ihn könne man, meint Goethe, durchaus als „einen gesteigerten Werther“, bezeichnen. Auch Tasso erleidet Schiffbruch – in den Armen des Antonio. Zunächst ist der Tasso ein Werther im nicht erschossenen Zustand, also vielleicht der Mensch, der Werther geworden wäre, hätte ihn der Dichter weiterleben lassen. Tasso laboriert noch immer an den Werther‘schen Konflikten, versucht nur, anders damit zurechtzukommen. Tassos Hauptübel ist die Illusion, er könne sich die Liebe einer Frau per Kunstwerk verschaffen. Im Stück lechzt der Tasso nach dem Herzen der Herzogin. Antonio, der Höfling, Diplomat und Weltmann, erkennt Tassos Verwundbarkeit nur zu genau. Just in dem Augenblick, in dem die Herzogin ihren Hofdichter und heimlichen Verehrer mit einem Lorbeerkranz für gelungene Dichtung schmückt, erscheint der Antonio und zerstört den Tasso mittels ausgesucht heimtückischer Niedertracht, die sich, in Worte gekleidet, wie eine Kette von Komplimenten anhört. Der paranoid-schizoide Tasso, der introvertiert in seinem eigenen Ich hockt und Erlösung durch die Herzogin erhofft, reagiert, wie es sich in einem solchen Falle gehört: er dekompensiert. Im Theaterstück sagt er über Antonio und über die von diesem erlittene Demütigung: „Sein Wesen, seine Worte haben mich / So wunderbar getroffen, daß ich mehr / Als je mich doppelt fühle, mit mir selbst / Auf’s neu’ in streitender Verwirrung bin.“ Und das sollte ja auch bewirkt werden, wie überhaupt die Strategien psychischer Verletzung immer darauf abzielen, das Opfer in den Konflikt zu treiben, bis es sich darin verwirrt, zerklüftet und zerspaltet.

Hinter dem Drama der unglücklichen Liebe zur Herzogin steht aber noch ein Drama im Drama, nämlich die homosexuell-masochistische Unterwerfung des Tasso vor dem Antonio. Der psychologische Blick der Prinzessin hat das schnell erkannt: „Zwei Männer sind’s, ich hab es lang gefühlt, / Die darum Feinde sind, weil die Natur / Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte.“ Die homosexuelle Flucht zum Manne ist oft eine Flucht vor dem Weibe, wird Freud später sagen, ist oft eine Reaktion auf die enttäuschte Liebe zum Weibe. Tatsächlich wirft sich der Tasso dem Antonio auch erst dann in die Arme, als er von der Herzogin eine gründliche Abfuhr erteilt bekommen hat. In einem Anfall von Leidenschaft hatte sich der Tasso der Herzogin um den Hals gehängt, diese jedoch, eine „Schülerin des Plato“ (!), weist ihn schnöde ab. Tasso verfällt daraufhin einem von Goethe psychologisch ganz richtig motivierten und dargestellten narzisstischen Wutanfall, rast und „kommt von Sinnen“. Das ist die Stunde des Antonio, der seinen allerliebsten Feind nun so weit hat, wie er ihn haben wollte. Tasso bleibt nicht mehr viel anderes übrig, als sich dem Schicksal und dem Antonio zu übergeben: „[…] berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf! / Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ Der Schiffbruch (der heterosexuellen Liebe) ist perfekt!

Man ist im Nachhinein geneigt, dem Werther zu seinem Selbstmord Glück zu wünschen, ist ihm doch dadurch ein weit demütigenderes Schicksal erspart geblieben, das sich schon andeutete, als der Werther sich Alberts Pistolen kommen ließ. […] Wo der Werther endet, beginnt Goethes Faust: Kostet den Werther ein Selbstmord das Leben, so ist es ein Selbstmordversuch, der den Faust zum Leben erweckt. Das Thema des Todes ist bei Goethe aber durchweg auch aufs innigste mit dem Thema der Liebe, mit dem Koitus im engeren Sinne, verbunden. So wird beispielsweise im Prometheus der Tod direkt mit der orgiastischen Vereinigung identifiziert: „Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde / Du ganz erschüttert alles fühlst, / Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen, / Im Sturm dein Herz erschwillt, / In Tränen sich erleichtern will und seine Glut vermehrt, / Und alles klingt an dir und bebt und zittert, / Und all die Sinne dir vergehn, / Und du dir zu vergehen scheinst / Und sinkst, und alles um dich her / Versinkt in Nacht, und du, in inner eigenem Gefühle / Umfassest eine Welt: / Dann stirbt der Mensch.“ So belehrt der Prometheus die Pandora, die auf einer Waldwiese die geschlechtliche Vereinigung zweier Liebender beobachtete, sich dabei heftig erregte und nun von Prometheus wissen will, was das denn für Gefühle seien, die sie da erlebt. Und auch im Amyntas wird der Koitus von Goethe als eine Art schöner Tod geschildert, wobei der Mann einem Baume, die Frau dem Efeu gleichgesetzt wird, das sich um den Baum rankt, um ihn endlich umschlingend zu ersticken.

Ich meine, daß die archaischen Phantasien vom Koitus als einer wechselseitigen – tödlichen – Verletzung, die als Männerphantasien akzentuiert das Bild der verschlingenden oder auch kastrierenden Vagina dentata entworfen haben, für Goethes persönliches Erleben unmittelbar Wirklichkeit besaßen. Als er sich als junger Mann und Student nach Leipzig verabschiedet, widmet er seiner Mutter folgendes, an den christlichen Opfertod erinnerndes Gedicht: „Das ist mein Leib, nehmt hin und esset. / Das ist mein Blut, nehmt hin und trinkt. / Auf daß ihr meiner nicht vergesset / […] / Bei diesem Wein, bei diesem Brot / Erinnert Euch an meinen Tod.“ Diese archaischen Phantasien von der präödipalen Mutter, die ihren Sohn verschlingt, das heißt: ihn wieder in sich aufnimmt, das Leben zurückfordert, das sie ihm geschenkt hat, machen den eigentlichen Kern inzestuöser Ängste aus. Und diese nichtüberwundenen Ängste erfordern beim erwachsenen Mann, wenn er sich denn einer Frau und deren Körper nähert, Distanz- und Sicherungsrituale, weil jeder Körper einer Frau die regressive Wiederbelebung der mütterlichen Symbiose und damit die Psychose virtuell einleiten könnte. Diese männliche Ur-Angst vor der Frau drückt sich auch in Schillers Ballade vom Taucher aus: „Und schwarz aus weißem Schaum / Klafft hinunter ein gähnender Spalt, / Grundlos, als ging’s in den Höllenraum / […] / Denn unter mir lag’s noch bergestief / In purpurner Finsternis da, / Und ob’s hier dem Ohre gleich ewig schlief, / Das Auge mit Schaudern hinuntersah, / Wie’s von Salamandern, Molchen und Drachen / Sich regt in dem furchtbaren Höllenrachen.“ […]

Doch auch die Trennung, die Flucht aus der Symbiose, hat pathogenes Potential. „In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.“ So Goethe in den Maximen und Reflexionen. Das gilt einmal von all jenen Trennungen, die notwendig sind, soll der Mensch sich entwickeln, also von den Trennungen von primären Objekten und den mit diesen verbundenen archaischen Bewusstseinszuständen. Das gilt von späteren Trennungen von geliebten Menschen, mit denen ein Stück unserer eigenen Persönlichkeit verschwindet, nämlich gerade jenes Stück unseres Selbst, das in der lebendigen Wechselbeziehung mit diesem einzigartigen und nicht wiederholbaren Menschen gelebt, erlebt hat, das wir nach der Trennung wohl noch in unseren Imaginationen, nicht mehr jedoch in der Realität wiederfinden können. Das gilt zuletzt von den großen historischen Trennungen, die die Menschheit im Laufe ihrer Gesamtentwicklung vollzogen hat, als deren wichtigste die Trennung der instrumentellen Vernunft von der Leidenschaftlichkeit angesehen werden muss, die sich mit Beginn der Neuzeit vollzieht. […]

Wenn man Faust-Mephisto als eine Doppelgestalt, als die zwei Seelen in einer Brust betrachtet, dann kann man den Faust auch als den gigantischen – und vorerst letzten – Versuch interpretieren, der wieder zu vereinigen strebt, was bürgerliche Vernunft und Sittlichkeit in zwei Hälften (der Welt oder des Menschen) gespalten haben. Faust, der es in der vernünftig-wissenschaftlichen Erkenntnis zu allem gebracht hat, was irgend möglich ist, erkennt, daß er nichts wissen kann, solange er, dem wissenschaftlichen Credo folgend, die Welt (der Erkenntnis) in zwei Hälften teilt. Deshalb paktiert er mit dem Teufel, mit der anderen, mit der sinnlich-animalischen Hälfte seiner selbst, um auf diesem Wege wieder ein ganzer Mensch zu werden. […]

Goethe hat es seinen Verehrern und Bewunderern – sieht man einmal von den durchschnittlichen Geistern ab – nicht leichtgemacht. Sie alle, besonders wenn sie Schriftsteller waren, witterten die Brüche in seiner Entwicklung. So etwa notierte Franz Kafka in seinem Tagebuch (31.1.1912): „Plan eines Aufsatzes ‚Goethes entsetzliches Wesen‘“, um nur wenige Wochen später (17.3.1912) hinzuzufügen: „Goethe, Trost im Schmerz.“ Und selbst Thomas Mann, der ein Stück Selbststilisierung mit Goethe betrieb, entwirft ein unkonventionelles Goethe-Bild, zeigt den Heros mit und trotz seiner Schwächen: „Es sind in Goethe, blickt man genauer hin, sobald die Unschuld der Jugendzeit vorüber ist, Züge eines tiefen Grames und Mißmuts, einer stockenden Unfreude […]. Es gibt da eine eigentümliche Kälte, Bosheit […]. Und viele Zeitgenossen, die ihm begegnen, bezeugen das Elementare, Dunkle, Boshafte und Verwirrende, ja Teuflische, das aus seinem Wesen gesprochen habe“ (Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, 1932). Schon die Überschrift des Artikels, in dem die Mann’schen Verdikte erscheinen, deutet an, was ich im Verlaufe meiner Argumentation herauszuarbeiten versuchte: daß nämlich die Leidenschaften eines empfindsamen Naturburschen bei einem Repräsentanten bürgerlicher Kultur, ist er erst einmal eingeschnürt ins Korsett der Staatsräson, notwendig zur Grausamkeit und Bosheit mutieren müssen. Heidentum ist in der allerchristlichsten Welt nun einmal Bosheit, und wenn es das nicht ist, dann wird es dazu gemacht. Aus diesem Dilemma entkommt man, wenigstens zeitweise, wenn man in die psychische Krankheit flüchtet oder aber Mittel und Wege kennt, das Eingeschnürte im kreativen Akt zu entfesseln. Über das Genie spricht Goethe aus eigener innerster Erfahrung: „Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimmen der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine solche Organisation im Konflikt mit der Welt und ihren Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht mit größter Sensibilität eine außerordentliche Zähigkeit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen“ (Gespräche mit Eckermann). […]

Ein verhinderter Selbstmörder der Literaturgeschichte, Harry Haller alias Hermann Hesse alias Der Steppenwolf, hat ähnliche Widersprüche und Konflikte gespürt. Im Hause eines scheintoten Professors und Goethefreundes, das der Steppenwolf besucht, fällt sein Blick auf ein „gerahmtes“ Goethe-Bild. Es ist dies das Goethe-Bild, das unsere Kultur – unsere? – erstellt hat und nun vor sich herträgt, als hätte man des Dichters Kopf abgeschlagen, um aller Welt zu beweisen, daß selbst dieser Titan zu Boden stürzen muß, wenn man versteht, ihn zum Denkmal zu erniedrigen:

„Hoffen wir, sagte ich [der ‚Steppenwolf‘ – B. N.], ‚daß Goethe nicht wirklich so ausgesehen hat! Diese Eitelkeit und edle Pose, diese mit den verehrten Anwesenden liebäugelnde Würde […]. Man kann ja viel gegen ihn haben, auch ich habe oft viel gegen den alten Wichtigtuer, aber ihn so darzustellen, nein, das geht doch zu weit.“ Die Hausfrau schenkte den Kaffee vollends ein, mit einem tief leidenden Gesicht, dann eilte sie aus dem Zimmer, und ihr Mann eröffnete mir, dies Goethebild (Herv. – B. N.) gehöre seiner Frau und werde von ihr ganz besonders geliebt. „Und selbst, wenn Sie objektiv recht hätten, […] durften Sie sich doch nicht so kraß ausdrücken.“ – „Da haben Sie recht“, gab ich zu. „Es ist leider eine Gewohnheit, ein Laster von mir, mich immer für den möglichst krassen Ausdruck zu entscheiden, was übrigens Goethe in seinen guten Stunden auch getan hat. Dieser süße spießige Salongoethe freilich hätte nie einen krassen, einen echten, unmittelbaren Ausdruck gebraucht. Ich bitte Sie und Ihre Frau sehr um Entschuldigung – sagen Sie ihr, daß ich Schizophrener bin. Und zugleich bitte ich um Erlaubnis, mich empfehlen zu dürfen.“
(Hesse, Der Steppenwolf)

Hinweis

Der Beitrag übernimmt mit kleineren Änderungen Teile meines Vorworts mit dem Titel Goethe ist tot, es lebe die Kultur zur Neuausgabe des Buches von Paul Julius Moebius, Über das Pathologische bei Goethe (München, Matthes & Seitz, 1982, S. 9-75), die im Goethe-Jahr 1982 (Goethes 150. Todestag) erschienen ist. Eine zweite vollständige Fassung des ursprünglichen Textes ist enthalten in: Bernd Nitzschke, Die Liebe als Duell …und andere Versuche, Kopf und Herz zu riskieren (Reinbek, Rowohlt, 1991, S. 177-223).