Ehe-Exit und Brexit, Affekte und ihre Abstraktionen

Wovon Jean-Philippe Toussaint in „Die Gefühle“ erzählt

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brillierte Jean-Philippe Toussaint in den 1980er und 1990er Jahren mit stilistisch innovativen Solitär-Romanen, so etwa Das Badezimmer (1985), Monsieur (1986), Der Photoapparat (1988) oder Fernsehen (1997), so kreiert er nun vorwiegend Zyklen, in denen er nicht nur die einmal begonnene Geschichte fortschreibt, sondern Handlungsstränge miteinander verflicht, sie verschachtelt und vor allem intensiv mit Rückwendungen arbeitet. Nach der Tetralogie um Marie Madeleine Marguerite de Montalte (MMMM, bestehend aus Sich lieben, 2002; Fliehen, 2005; Die Wahrheit über Marie, 2009; Nackt, 2013) ist nun der zweite Band um Jean Detrez erschienen. Er ist ein Zukunftsforscher, Angestellter der Europäischen Kommission, der in Der USB-Stick (2020) mit Lobbyisten und Kryptowährung zurechtkommen musste und in Die Gefühle vor dem Aus seiner zweiten Ehe steht. 

Der erste Teil des Romans beginnt am 23. Juni 2016, als das Brexit-Referendum ansteht. Just an diesem Tag ist es Jean, Ich-Erzähler wie in Der USB-Stick, und seiner Frau Diane klar, dass ihre Ehe „in Kälte und Feindseligkeit“ auseinanderbricht. Elf Tage später begibt sich der Protagonist nach London, um dort im noblen Hotel Hartwell House an einer Klausurtagung über die neuesten Entwicklungen in der Zukunftsforschung teilzunehmen. Dort trifft er seine ihm bislang unbekannte estnische Kollegin Enid Eelmäe, mit der er an Arbeitsgruppen teilnimmt. Am letzten Abend in Hartwell House jedoch versackt er mit einer namenlos bleibenden jungen Frau an der Hotelbar. Ein Nacktfoto von ihr landet auf seinem Handy.

Im zweiten und zentralen Teil setzt die Narration dort an, wo sie in Der USB-Stick aufgehört hat. Die Orientierungslinie, auf die immer wieder Bezug genommen wird, bilden der Tod des Vaters, die Vorbereitung der Trauerfeierlichkeiten und die Zeremonie selbst. Immer wieder gibt es so etwas wie Zwischenstopps, kleine Plattformen, von denen aus der Erzähler in die Vergangenheit hinabtaucht, seine zerbrochene Ehe beleuchtet und insbesondere über seinen Vater reflektiert. Zentral sind in diesem Kontext zwei Besuche auf der Baustelle des Berlaymont-Gebäudes, dem Sitz der Europäischen Kommission. Jeans Bruder Pierre, ein Architekt, ist an der Sanierung des Komplexes maßgeblich beteiligt.

Teil III schließlich kreist um den Ausbruch des Eyjafjallajökull im Jahre 2010, die damit einhergehende Einschränkung des Luftverkehrs und die dilemmatische Situation, mit der die Angestellten der Europäischen Kommission konfrontiert sind, nämlich entweder den Luftraum geschlossen zu halten und dem Druck der Fluggesellschaften die Stirn zu bieten oder ihn zu öffnen und Unfälle in Kauf zu nehmen. Jean entzieht sich den unhaltbaren Positionen, indem er mit einer Frau, Pilar Alcantara, die er zufälligerweise trifft, durch einen unterirdischen Gang des Berlaymont flüchtet, spontan mit ihr ein Hotelzimmer mietet und konstatiert:

Seitdem ich ihr begegnet war, hatte ich in der gleichen Bewegung, in einem Atemzug, angesaugt von einem ununterbrochenen Strudel von Taumel und Emotionen, gleichzeitig Verlangen und Furcht, Begehren und Angst, Liebe und Besessenheit erfahren. 

Mit diesem Schlussakkord liefert Toussaint gleichsam eine Art strukturelle Lektüreanweisung: am Ende konjugieren sich die Affekt-Antipoden in einem Fluchtpunkt des Gegensätzlichen im Zusammensein mit der Frau, die nicht umsonst Pilar, der Pfeiler, heißt. Mit ihr flieht er durch einen engen Geheimgang, vielleicht gar ein gewohntes Toussaintsches „safe space“, dem Badezimmer oder der Telefonzelle vergleichbar, in dem er sich entziehen und sich ausbalancieren, existenzielle Gegensätze austarieren und es sich in einer positiv akzentuierten Inkludenz gut gehen lassen kann. Dieses Tableau aus seinem Leben leuchtet nicht von ungefähr als Szenario der Vergangenheit auf.

Die finale Verdichtung von Gegensätzlichem als Paradoxie manifestiert sich zuvor als Nebeneinander, als instabiles Potpourri der Oppositionen, deren Motor im Untergrund als Pascalsche „inquiétude“ oder „inconstance“, „Unruhe“ oder „Unstetigkeit“, definiert werden kann. Es ist ein Erbe des Vaters, woraus der Protagonist seine Energie bezieht, diese „fordernde Unruhe, diese fundamentale, brennende, pedantische Unruhe, diese perfektionistische Unruhe“, kulminierend in einem Getriebensein, einer Velozität, die sich auch als formales Charakteristikum erweist. 

Zwei ephemere Frauengestalten, die die Unruhe des Verlangens, das Begehren als solches symbolisieren, rahmen den Roman. Enid Eelmäe aus Teil I trägt einen walisisch-estnischen Namen, auf Deutsch die „Seele“ und der „hohe Berg“. Sie figuriert die unerreichbare „donna guida“, deren Körperlichkeit auf die namenlos bleibende Nackte im Hotelzimmer ausgelagert wird. Pilar Alcantara personifiziert demgegenüber das verflossene Ziel des Verlangens. Die weitestgehend linear erzählten Teile I und III, mit dem Blick in die Entwicklungen der Zukunft und respektive in die Vergangenheit, konzentrieren sich auf eine Privatheit, in der sich das Öffentliche spiegelt und vice versa. Teil II, Tummelplatz der Konflikte, Basis der Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Ursprungsfamilie und seinen beiden zerrütteten Kernfamilien, schreitet assoziativ voran, bietet weniger ein narratives Kontinuum als eine parzellierte Reflexion über signifikante Lebensstationen.

Die quasi als Auftakt des Romans angesprochene Dopplung von Privatem und Öffentlichem unterliegt einer gleichermaßen konsequenten Extensivierung und Intensivierung. Mit beidem ist paradoxerweise am Anfang ein Schlussakkord markiert, dem auch ein „Exit“, ein Ausweg, eignet. Während das Öffentliche zu Jeans professionellem Tun als Zukunftsforscher gehört und er auch methodisch damit umgehen kann, entzieht sich das Private dem ordnenden Zugriff. „Es ist anzunehmen, dass uns in Herzensangelegenheiten die Zukunftsforschung keine Hilfe leistet – oder anders gesagt, dass es für die Liebe keine Methode gibt.“ Damit reaktiviert Toussaint zwar ein Stereotyp, das man gar auf das Sprichwort „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“ reduzieren und weiter banalisieren könnte, aber bei dieser plumpen Diagnostik bleibt er nicht stehen, denn zum einen gesellen sich zu Privatem und Öffentlichem die Disjunktionen innen und außen, multiplex und eindimensional, chaotisch und geordnet, emotional und rational, mystisch und realistisch, zum anderen erstrecken sich die vordergründig inhaltlichen Antithesen auf die Form und genauso auf das Verhältnis zur Realität.

Die auf den ersten Blick rigide Gestalt des Romans, die man versucht ist, mit den drei Akten eines Dramas gleichzusetzen, wird von den zeitlichen Bezügen unterwandert. Dasselbe trifft auf die realistisch-transparente Schreibweise zu, in deren Untergrund sich Ungesagtes und Opakes drängt. Unter einer geordneten Repräsentationsoberfläche, die man mit dem Freudschen Eisbergmodell gleichsetzen könnte, brodeln die unzulässigen Gefühle. Und obgleich der Roman den Titel Die Gefühle trägt, nimmt man ihm nur bedingt die offensichtliche und profunde Thematisierung derselben ab. Auf der Ebene des Textes verquicken sich Gesten des Alludierens, Konstatierens und Reflektierens, die sich mitunter gar zum Erheischen der Leser*innen-Empathie und überhaupt zu Momenten höchster Intensität steigern, so zum Beispiel als Jean mit seiner ersten Ex-Frau Elisabetta, die aus Rom zur Beerdigung des Vaters angereist ist, zusammentrifft. Dabei ist er „verwirrt“, er sucht Trost (auch eine Konstante bei Toussaint), und als er Elisabetta küsst, steigt sein „ganzes Leben von weit her“ vor ihm auf. So tritt mit dem Kuss einerseits die Vergangenheit zutage, andererseits schwächt genau dies die Gefühle der Gegenwart, verhindert sie möglicherweise sogar, stößt sie in den Orkus des Komplizierten und Zerfahrenen, auf den Jean sich nicht einlassen möchte. Er wählt den Weg des geringsten Widerstands.

Für das Abstrakte und Wohlgeordnete, meist Minimalistische, das Messbare an der Oberfläche, in dessen Untergrund sich labyrinthische Verwicklungen ergeben und das Verworrene sich ausbreitet, erhebt sich ziemlich genau in der Mitte des Romans das Bild des Berlaymont-Gebäudes. Gleich zwei Mal besucht Jean Detrez mit seinem Vater und seinem Bruder die Baustelle, auf der Presslufthämmer im Einsatz sind, eine „phänomenale Schwingung“ erzeugend. Nachdem der Vater, Personifikation des Rationalen und Faktischen, bereits gegangen ist, zeigt Pierre seinem Bruder den „tatsächlich unentwirrbaren unterirdischen Knoten“, eine Stelle, an der fünf Tunnel für Autos und Eisenbahnen passieren. Sie fahren hinab in die „Eingeweide des Gebäudes“, fühlen sich dabei wie zwei Kinder auf der Reise zum „Mittelpunkt der Erde“ – nicht nur Jules Verne, sondern auch Gaston Leroux mit seinem Phantom der Oper lässt grüßen –, passieren eine „schmale, dunkle Betonröhre“, regredieren zum Quell der Affekte, zum Unbewussten und zum Archetypischen. An diesem unterirdischen Ort durchdringt die beiden Brüder die „starke symbolische Präsenz des Berlaymont, so wie man das Gewicht der Alpen über sich spüren kann, wenn man zu Fuß durch den Gotthardtunnel geht“. 

Teilchen aus diesen „Eingeweiden des Gebäudes“, aus dem „unentwirrbaren Knoten“ werden zwar mehr und mehr an die Oberfläche gespült, aber lediglich als etwas Unauthentisches, als „Fake“, das das Rationale bedroht und sogar, so kann man insinuieren, den Vater schneller sterben ließ – nach den Attentaten in Brüssel im März 2016 „kam es Schlag auf Schlag, ein Gnadenstoß nach dem anderen, der Brexit und die Wahl von Trump“. So wurde er „Zeuge des Anbruchs einer neuen Ära, in der das Gefühl oder dessen Karikatur – denn wahre Gefühle sind intim und verschwiegen – über die Vernunft siegt“. Jean ist in der Wirrnis eines Dazwischen gefangen. Die Repräsentationsoberfläche weist Fissuren auf, aber dem, was darunter ist, kann und möchte er sich nur ansatzweise und mit äußerster Vorsicht stellen. 

Zum Berlaymont-Gebäude gesellen sich im Roman weitere Immobilien, die eine wortwörtliche Ausdehnung der kabinenartigen „sicheren Orte“ implizieren, ihren Stellenwert repetieren oder sich zum Vexierbild des Sicheren wandeln. Sie dimensionieren die Charaktere und evozieren all das, was sich dem Sichtbaren entzieht.

So wie auch die meisten anderen Romane von Toussaint kommt Die Gefühle harmlos, im Gewand des Alltäglichen daher. Die Abwesenheit hypotaktischer Satzgefüge, stilistischer Arabesken und eines spannenden Plots wird von den schnell spürbaren Erschütterungen im Subtext wettgemacht, einem Spiel und Widerspiel von Wahrnehmbarem und Verborgenem, zusammengehalten durch die sinnstiftende Kohärenz des Narrativen. 

Toussaint bleibt dem Erbe des Nouveau roman und dem Konzept des Nouveau nouveau roman insofern verpflichtet, als Form und Inhalt interagieren, beide dynamisch ineinander verschlungen sind, insofern auch, als er keine fortlaufende Handlung konstruiert und nur bedingt von Engagement die Rede sein kann, allenfalls sehr peripher, wenn es etwa um den Vater und sein Ideal der Demokratie geht. Außerdem ist Jean Detrez kein „Held“ im traditionellen Sinne. Er ist in Dysbalance geraten, sozusagen dezentriert, von sich selbst entfernt und mit Tiefen versehen, die sich erahnen und erschließen lassen, wenn auch seine rationale Seite dominiert. 

Joachim Unselds Übersetzung ist exzellent wie immer und liest sich fast wie das französische Original. Warum jedoch heißt es im Titel Die Gefühle und nicht einfach „Gefühle“? Dies würde dem generischen definiten Artikel im Französischen, „Les émotions“, viel eher entsprechen und ebenso die Abstraktionsebene, auf der diese verhandelt werden, unterstreichen.

Die Gefühle verlangt nach Leser*innen, die gewillt sind, sich auf ein eklektizistisches und vielschichtiges, vordergründig freundliches romaneskes Universum einzulassen, um dieses zu goutieren und Tiefendimensionen zu entschlüsseln. Das Spielerische des „nouveau nouveau roman“ paart sich mit einer guten Portion magischem Realismus.

Titelbild

Jean Philippe Toussaint: Die Gefühle.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002879

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