Das digitale Fenster zum Hof

In „Automaton“ versetzt Berit Glanz ein altbewährtes Motiv ins Internet

Von Sarah GummersbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Gummersbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jetzt ist dort nichts Außergewöhnliches mehr, nur tote Katzen, zerquetschte Hamster, gequälte Kinder, Blut, Tod und Folter und viel zu viele mit Benzin in Brand gesteckte Dinge.“

So dunkel sieht das Leben der alleinerziehenden Mutter Tiff nach ihrer Moderationsarbeit aus. Den Job hat sie zu Beginn des Romans bereits hinter sich gelassen; was folgt, sind eine Angststörung und Geldprobleme. Daher ist Tiff auf eine Stelle angewiesen, die sie in ihrer Wohnung erledigen kann. Mittlerweile arbeitet sie als digitale Klickarbeiterin und erledigt schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs. Eines Tages erhält die Protagonistin einen Auftrag der Firma ExtraEye, die KI-gestützte Überwachungstechnologie verkauft. Was die Kund*innen nicht wissen: Bei der ‚künstlichen‘ Intelligenz handelt es sich um schlecht bezahlte Arbeiter*innen wie Tiff. Während der Auswertung einer Überwachungsaufnahme fällt Tiff etwas Ungewöhnliches auf, sie vermutet ein Verbrechen. Doch was genau ist passiert? Gemeinsam mit ihren Arbeitskolleg*innen und Freund*innen beginnt sie in Chaträumen mit der Aufklärung des Verbrechens. Tiffs Geschichte wird verwoben mit der Lebensgeschichte von Stella, die in einer amerikanischen Suppenküche arbeitet und früher bei der Hanfernte anheuerte. 

Mit ihrem zweiten Roman liefert die deutsche Autorin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz eine psychologische Charakterstudie, in der sie die Auswirkungen von Moderationsarbeit und prekärer Klickarbeit auf die Psyche und das Sozialleben untersucht. Eindrücklich beschreibt Glanz die psychischen Folgen, mit denen Tiff zu kämpfen hat: „Früher hat sie nie verstanden, wie einem die Angst kalt den Rücken hinablaufen kann – bis sie das erste Mal bemerkte, wie sich das eisige Gefühl einer falschen Welt in ihren Fingerspitzen ausbreitete“. Mithilfe von Rückblicken und Alltagserlebnissen wird das Leben der Protagonistin geschildert, sodass sich die Leser*innen gut in sie einfühlen können: Als alleinerziehende Mutter, die eine Angststörung und finanzielle Probleme hat und abgesehen von zwei Nachbar*innen keine Unterstützung, verfügt Tiff nur über eingeschränkte Möglichkeiten und ist auf den prekären Job angewiesen. In angemessener Kürze werden weitere Klickarbeiter*innen, die sogenannten Automatons, vorgestellt; der Plural, unter dem ähnliche Schicksale versammelt werden, illustriert die Ausweglosigkeit der Situation. 

Tiffs Lebensweg wird realistisch geschildert: Sowohl die Moderationsarbeit als auch die Klickarbeit sind in der heutigen digitalen Welt eine gängige Praxis. Glanz‘ Roman schafft Verständnis: Zum einen werden die prekären und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in das Blickfeld einer größeren Öffentlichkeit gerückt, zum anderen werden die Biographien dieser Arbeiter*innen erzählt. Dadurch eröffnet Glanz einen kritischen Blick auf die digitale Welt und darin neu aufkommende Jobprofile. Die Darstellung der Digitalisierung erfolgt nicht einseitig, besonders zum Ende des Romans hin werden auch Chancen digitaler Vernetzung gezeigt.

Von der Struktur her präsentiert der Roman zwei Handlungsstränge: die Geschichten von Tiff und Stella. Neben der Durchnummerierung der inbegriffenen Chats sind die kurzen Kapitel je nach Protagonistin mit lateinischen Tier- und Pflanzennamen für Tiff bzw. Holzarten für Stella überschrieben. Häufig kommen die entsprechenden Tiere und Pflanzen im zugehörigen Kapitel vor, jedoch entsteht durch die Kapitelbezeichnung vor allem ein Kontrast: Natur wird der digitalen Welt gegenübergestellt. Die weltweite Vernetzung, die uns so alltäglich erscheint, ist eben nicht natürlich gegeben. Dennoch hängt sie eng mit unserem analogen Leben zusammen, wie allein schon durch Tiffs Arbeit verdeutlicht wird. Das Internet ist keine eigene Welt, sondern hat reale Auswirkungen auf uns alle. Umso wichtiger erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen der Digitalisierung, welche Automaton in Form eines Romans bietet.

Nicht nur thematisch handelt es sich um einen aktuellen Roman: Durch das Einfügen von Chatverläufen wird ein kommunikativer Aspekt der Digitalisierung abgebildet. Tiff tauscht sich mit weiteren Automatons über ihren Job und ihren Alltag aus – wie in einem virtuellen Pausenraum. Zugleich wird mithilfe der Chats eine neue Erzählperspektive eröffnet. Diese Form ermöglicht das weitere Eintauchen in die Handlung und erzeugt ein Gefühl von Unmittelbarkeit. Der Roman beginnt als Charakterstudie und entwickelt sich mit der Zeit zu einem im digitalen Raum spielenden Kriminalroman. Das aus Literatur und Spielfilmen bekannte Motiv des Fensters zum Hof wird aufgegriffen und verleiht dem Roman Spannung: Ein mögliches Verbrechen wird beobachtet, daher muss ermittelt werden. Durch den innovativen Twist, das Verbrechen ausschließlich online beobachtet zu haben, muss in der digitalen Welt geforscht werden. Die ermittelnden Automatons tauschen sich in den Chats über ihr Vorgehen aus, sodass die Leser*innen mitfiebern und gleichzeitig selbst überlegen können, wie sie handeln würden. Es vergehen zwar einige Seiten, bis das Verbrechen überhaupt geschieht, doch diese Seiten werden ideal genutzt, um das Leben, die Probleme und den Arbeitsalltag der Protagonistin Tiff vorzustellen, sodass ihre Figur den Leser*innen bald vertraut erscheint. 

Zusätzliche Spannung erzeugt der zweite Handlungsstrang, da zu dessen Beginn die Rolle von Stella unklar ist. Anfangs erscheint die Geschichte durch die ausführliche Schilderung von Stellas Leben unnötig verlängert. Gleichzeitig liefert der Handlungsstrang ein weiteres Rätsel, da erst mit der Zeit klar wird, wie sich die Figur in den Rest der Handlung einfügen lässt. Aufgrund dieses Spannungsaufbaus und der Aktivierung zum Miträtseln lassen sich einzelne Abschweifungen schnell verzeihen. Eher nüchtern, passend zu der monotonen Arbeits- und Lebenswelt, reflektiert die Sprache den Inhalt des Romans. Teilweise verwendet Glanz Bilder, welche durch kleine Details einen Blick in Tiffs Psyche zulassen: „Mit schief gelegtem Kopf schaut die Taube auf den kleinen Menschen mit der Pommestüte, während ihr ein Ketchuprest wie Blut am Schnabel klebt.“ Ketchup wird assoziiert mit Blut, Tiffs dunkle Gedanken verfolgen sie sogar in harmlosen alltäglichen Situationen. 

Glanz‘ Auge für die Beobachtung der kleinen Dinge zeigt sich auch in ihrer Art, Figuren zu charakterisieren. Wenn Tiff bei der Aufgabe, Poesie zu bewerten, Noten vergibt, die nicht ihrer Meinung entsprechen, versucht sie, Macht zurückzuerhalten und zu rebellieren. Und wenn sie ihren Sohn mit Sonnencreme eincremt und dabei sich selbst völlig vergisst, wird deutlich, was für ein empathischer, sich vor allem um andere sorgender Mensch sie ist. Es sind Kleinigkeiten, die die Figuren auszeichnen und sie lebendig und authentisch erscheinen lassen, was erneut den Realitätsbezug der gesamten Geschichte unterstreicht.

Automaton ist eine innovative Umsetzung der bewährten ‚Fenster zum Hof‘-Geschichte und gleichzeitig viel mehr: eine psychologische Charakterstudie mit kritischer Perspektive auf die neu aufgekommenen prekären Internetjobs. Eine klare Empfehlung für alle, die mehr über Klickarbeit und deren Folgen erfahren möchten und Fans von Kriminalliteratur sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Berit Glanz: Automaton.
Berlin Verlag, Berlin 2022.
256 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783827014382

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