Struktur des Lauschens

Stefan Börnchen und Claudia Liebrand geben den Sammelband „Lauschen und Überhören. Literarische und mediale Aspekte auditiver Offenheit“ heraus

Von Andreas KäuserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Käuser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass akustische Phänomene jedweder Art als Hören oder Lauschen den Alltag sowie die Medienkultur einer audiophonen und vom Sound beherrschten Lebenswelt bestimmen, ist als empirische und physiologische Tatsache Ausgangspunkt des Bandes. Die „Anthropologie“, auch in ihrer Variante des „Magnetismus“ als theoretischer und methodischer Denkansatz und als Heuristik einer polymorphen Medienästhetik der sinnlichen Wahrnehmung mit entsprechenden Diskursen und literarischen Genres und Gattungen, widmet sich diesem modernen Faktum in mehrfacher Hinsicht: physiologisch, psychisch, intellektuell, kosmologisch, soziologisch, moralisch.

So unterschied bereits Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht das kulturanthropologische Forschungsgebiet, das der Band zum methodisch-theoretischen Ausgangspunkt nimmt. Wie schon bei Helmuth Plessner, Wolfgang Iser oder Ludwig Pfeiffer wird Welt-„Offenheit“ (Plessner, Philosophische Anthropologie, Berlin 1961) als Untertitel des Bandes zur entscheidenden Differenzqualität des Menschen, so er denn theoretischer Gegenstand einer Anthropologie und der kulturellen Äußerungs- bzw. medialen Ausdrucksformen als „homo symbolicus“ (Ernst Cassirer) ist. Von Belang ist diese Engführung, die kulturelle „Offenheit“ oder „Ubiquität“ (Plessner) als anthropologische Grundausstattung des Menschen in seiner „Plastizität“ (Iser, Pfeiffer) an die physiologische Sinnesausstattung der „auditiven Offenheit“ des Ohrs koppelt. Insofern scheint die physiologische „Offenheit“ des Ohres mit einer akustisch offenen Prädominanz anthropologischer Theorie zusammenzuhängen, was sich wissenschaftshistorisch seit den anthropologischen Neuerungsbewegungen des 18. Jahrhunderts um Rousseau, Herder und Humboldt belegen ließe, die dem Hören der Sprache oder der Musik maßgebliche theoretische Beachtung schenkten, immer auch in Differenz zu einer Prädominanz der visuell-optischen Sinnesvermögen (vgl. Alexandra Pontzen), die den Prozess der Rationalisierung der Aufklärung begleiten. Wissenschafts- oder Diskursgeschichte ist dem zunächst physiologischen Sachverhalt allemal eingeschrieben, damit aber auch Literatur- und Mediengeschichte. Diese Historizität des Sachverhalts dokumentiert der Band eindrucksvoll in einer Vielzahl von konkreten Text-, Musik- und Medienanalysen.

Derjenige im 18. Jahrhundert, der den Sachverhalt einer binären Grundausstattung der „Sinnlichkeit“ des Menschen in physiologisch körperliche und psychisch intelligible Elemente am eindrucksvollsten und innovativsten bedachte, Herder, hätte behandelt werden können. Herders Beitrag ist deswegen so bedeutsam, weil er den Sprung von der Sinnlichkeit zum Sinn („Sinn generiert sich aus oraler und auraler Sinnlichkeit“, Herrmann), von der Physis des Hörens zur Sprache und zur Literatur am deutlichsten vollzog, indem er z.B. darauf hinwies, dass die fünf Sinne an semantische Metaphorik gekoppelt sind: Gefühl kommt von Fühlen, Geschmack von Schmecken. Gehör hat diverse Teilsemantiken oder Termini, die der Band beleuchtet: Lauschen, Abhören, Horchen, das „Un-Erhörte[]“, das Hör-Spielen der zu hörenden Musik etc., oder die Offenheit des Ohrs als Zugang zur Transparenz und Intelligenz oder zum „Wissen“, aber auch der kriminalistische Kontext beim „Ohrenzeugen“ oder dem „Abhören“ im „Kerker“.

Die binäre anthropologische Grundausstattung in Physis und Psyche, „commercium mentis et corporis“, hat kulturell und semantisch-literarisch die Tendenz zur Ambiguität und Ambivalenz der Metapher und Metaphorik. Alle Beiträge des Bandes, dies ist ein roter Faden innerhalb der Vielfalt der Beiträge, sind „metaphorisiert“, was schon an ihren Titeln deutlich wird, den „Soundwords“ (Börnchen), dem „hör-spielen“ (Herrmann), „Dem Rauschen lauschen“ (Liebrand), „Die Revolution gehört“ (Meixner), „DING, BINGG, Dings“ (Börnchen). Anthropologischer Reflexionsbedarf besteht verstärkt immer dann, wenn die anthropologische Grundausstattung des Menschen mit seinen fünf Sinnen durch Umbrüche der Medien, die diese Sinne verlängern und verstärken (McLuhan), tiefgreifend verändert und modernisiert werden, oder, wie mit Rancière argumentiert wird, die „Aufteilung des Sinnlichen [neu] modelliert“ wird. Das geschieht im späten 18. Jahrhundert durch die Durchsetzung der Schriftkultur, am Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Durchsetzung audiovisueller Medien wie Film und Radio, sowie im 21. Jahrhundert durch die Durchsetzung einer optisch-visuell prädominierten digitalen Medienkultur. In der offenen Vielfalt der behandelten Genres, Autoren und Themen, die von Perrault und Lohenstein über Mozarts Zauberflöte, Eichendorffs Erzählung, Brechts Lehrstück bis zu Mons Hörspiel und Baitingers Comics oder einem Streichquartett von Sibelius reichen, widerspiegelt der Band diesen medienhistorischen Kontext in seiner heutzutage digital ermöglichten Multimedialität oder Mediendifferenzierung. Die Reihe von Genres und Medien, die untersucht werden, ist exemplarisch und zielt nicht auf Vollständigkeit, könnte beliebig durch andere Korpora erweitert werden.

Die anthropologische Dreifachbestimmung von Körper, Seele und Geist, für welche die „auditive Offenheit“ maßgebliches Sensorium oder „magischer Kanal“ (McLuhan) sein soll, macht die Sache in der Koppelung an diese Medien- und Gattungsvielfalt wissenschaftlich gesehen nicht einfach, aber umso interessanter; es geht immerhin um das commercium mentis et corporis als anthropologische Ausgangshypothese, inklusive seiner kosmologischen Bezugnahmen einer „Öffnung“ auf das „Ganze“, das „Unendliche“, insofern dem Hören eine besondere Referenz auf den Geist, die Seele oder gar den Kosmos etwa in der deutschen Romantik bei E.T.A. Hoffmann, Wackenroder, Tieck und Eichendorff zugesprochen wurde und es eingeordnet wurde in die „Sinnenkonkurrenz von Auge und Ohr“ im korrespondierenden „Wettstreit der Sinne“ (vgl. Pontzen). ‚Zugesprochen‘ bedeutet, dass beschreibbare und analysierbare Diskurse dem Sachverhalt integriert sind mit mannigfaltigen Medien, Genres und Narrativen bzw. Narratologien etwa in der romantischen Theorie der musikalischen Prosa des Romans, deren Vielfalt der Band am Beispiel Eichendorffs widerspiegelt, oder den Theatertexten von Schiller u.a., die episch verfahren müssen, damit vom Publikum, das ansonsten dem das Theater dominierenden Sehsinn ausgeliefert wäre, ein „Hör-Raum imaginär ergänzt“ werden kann. Regieanweisungen sowie Monologe der dramatischen Protagonisten sind epische Elemente im Theater, im Drama, die den „Hör-Sinn“ auch dann noch reetablieren, wenn der Dramentext nur gelesen wird, und so die „Dominanz des Visuellen“ (Tonger-Erk) auditiv ergänzen um die „sinnliche Dominanz“ des „Hör-Raums“, sodass Theater nicht nur „Schau-Raum“ ist. Implizit eröffnet der Band so überraschende Parallelen („Fährten“) zwischen den Theaterformen von Schiller, Brecht, Wagner und Lohenstein, deren epische „Szenik“ (Herrmann) wesentlich dazu dient, einen „Hör-Raum“ herzustellen und dem Zuschauer zu ermöglichen. Die anthropologische und ästhetische Differenz von „Hören und Sehen“ wird als „Aufteilung des Sinnlichen“ poetologisch in Brechts Lehrstück Die Maßnahme zur choreographischen, musikalischen und dramatischen „Form der Darstellung“ (Meixner) und damit wissenschaftlich analysierbar, wie dies im Band gelungen geschieht.

Der Band bestätigt eher indirekt oder implizit, dass dieser „polyphonen“ (Previsic) Musikalisierung der Lebenswelt eine permanente Reflexionsbereitschaft entspricht, die sich etwa in diversen Varianten des Feuilletons oder von „Diskursen“ (Previsic) zeigt, in denen das „Gehör“ oder auch die „Stimme“ reflektiert werden müssen. Der Band nimmt diese lebensweltliche und physiologische Empirie des Lauschens und Hörens oder „Überhörens“ in ihrer Differenz zum Ausgangspunkt, um deren literarische Adaption an maßgeblichen Beispielen zu erkunden, wobei dieses Verhältnis von realer Empirie des Hörens zu dessen Literarisierung methodisch in Ansätzen reflektiert wird und sicher methodologisch ausbaufähig wäre. Die gewählten Bespiele sind maßgeblich, aber nicht repräsentativ im Sinne einer Logik der Serie, die sich aus den untersuchten Texten ergeben würde, die Auswahl scheint eher zufällig, aber in jedem Fall in historischer Perspektive zu sein. Vielleicht ist diese Vielfalt, man könnte auch sagen dieser Reichtum, ästhetisch medial oder soziokulturell relevanter akustischer Phänomene der Grund dafür, dass die nach Einheitlichkeit strebende Wissenschaft und Theorie sich erst in jüngster Zeit dem „acoustic turn“ (Meyer) intensiv und nachhaltig widmet, oder umgekehrt, dass diese wissenschaftlich notwendige Uniformität als „visueller Erkenntnisprozess“ seit der Aufklärung zu beobachten ist. Lässt sich eine Medienästhetik (Schnell) oder Medienanthropologie auf Lessings Schrift Laokoon (1769) zurückführen, in der die Grenzziehung von akustischen und visuellen Zeichen, aber damit auch von schriftlich-poetischen zu sinnlich-nonverbalen Phänomenen vollzogen wird, so ist Kernpunkt der Argumentation Lessings, auf die sich der Band beruft, dass Bild und die entsprechenden visuellen Künste den statischen Augenblick fixieren und fokussieren, während die akustischen Zeitkünste fluid und flexibel „zerfließend“ sind. Wissenschaftstheoretisch ist dieser fluide Aggregatzustand des akustischen Modus insofern von Belang, als er Vielfalt statt Einheit ermöglicht, die aber für wissenschaftliche Arbeitsweisen und Methoden notwendig ist.

Die „unüberhörbare“ Präsenz (um „Überhören“ als Untertitel des Bandes wissenschaftshistorisch aufzuwerten) akustischer Phänomene im Haushalt seriöser wissenschaftlicher Bemühungen tritt stets noch im Konjunktiv auf, was noch alles methodologisch, heuristisch etc. zu tun sei, um eine Wissenschaft vom Sound, Klang etc. zu installieren (vgl. Handbuch Literatur und Medienkultur, hg. v. Natalie Binczek/, Uwe Wirth, 2020).  Eine „Philologie des Auges“ als Theorie, Diskurs und Literaturgeschichte der Photographie (Stiegler) bedarf noch dem Pendant einer „Philologie des Ohrs“ (vgl. Frieder von Ammon, Poetophonie. Für eine Klangforschung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, in: Schiller Jahrbuch, 2020, S. 241-259), wozu aber offenbar größere methodische und theoretische Probleme gelöst werden müssen. Vielleicht sind solche Theoriegeschichten erst in dem Moment möglich, wenn sich Medien und deren Technologien radikal in Medienumbrüchen verändern, sodass Erkenntnisse über den „acoustic turn“ erst jetzt durch die fortschreitende Digitalisierung von Musik, Sound etc. im medienhistorischen Rückblick möglich werden, wie der Band dokumentiert.

Ebenso kann eine Struktur des Lauschens als roter Faden des Bandes herausgearbeitet werden. Denn trotz der Vielfalt der Hörphänomene und der entsprechenden Heterogenität der Texte und Medien, die sich dem Hören zuordnen lassen, lassen sich doch einheitliche Anordnungen herausfiltern, eine Poetik des Lauschens, die die physiologische „Offenheit“ des Hörens verbindet mit einer Textstruktur der „Öffnung“, die wesentlich im Szenischen, Dialogischen und Theatralen liegt. Die Öffnung dem „Anderen“ (Tonger-Erk) gegenüber, „Hör Szene“ (Liebrand) und „Urszene“ (Pontzen), „Schreibszene“ oder wie bei Brecht das Hören szenisch wird, „Szenen“ im Comic und im Hörspiel, dadurch auch visuell, koexpressive, räumliche Szenen und „soziales Zusammenklingen“ oder „Polyphonie“ (Previsic), la rencontre mit dem Publikum bewirken eine duale Struktur, in die das Lauschen eingebunden wird, was ein „Prozess“, kein Zustand ist im Unterschied zum „einzigen Augenblick“ in Lessings Laokoon, der das optische Bild kennzeichnet. Gegenüber der Statik des Bildes kennzeichnet das Hören ein „Zerfließen“ und theatrales oder performatives und nicht nur radiophones „Hör-Spiel“. Auch das latent kriminalistische „Be-Lauschen“ oder „Abhören“ besitzen ja eine szenisch-dialogische Grundstruktur (Pontzen). Auch Koexpressivität oder kooperative Intermedialität mit anderen Medien oder Geräten wie dem Mikrophon oder Lautsprecher sind notwendig, um dem körperlosen Hören eine materielle und insofern auch beschreibbare Existenz zu verschaffen als „punktuelle Theatralität“ im „synchronen Lauschen von Figuren und Publikum“ in Wagners Musikdrama Ring des Nibelungen (Michaelsen). Zur Entstehung des Streichquartetts von Sibelius wird ein Begriff des Lauschens „auf innere Stimmen“ (Wilker) erläutert, der sich vom hörenden Wahrnehmen der Außenwelt unterscheidet, dabei aber einen „Intimitätsdiskurs“ des Theaters bemüht. Trotz der diskreten und intimen Eigenschaften des Lauschens und Horchens sind sie in der künstlerischen oder medialen Transformation eingebettet in Begriffe, Diskurse und theatrale Inszenierungen von einem „Arrangeur“, die dem akustischen Modus eine Entäußerungs- und „hörbare“ Darstellungsform geben, welche analysierbar ist, was der Band dokumentiert. Eine „Logik der Evokation“ (Nancy) erzeugt so in Mozarts Zauberflöte eine theatrale Situation und Inszenierung, die eine „Rezeptionshaltung des Lauschens“ ermöglicht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Claudia Liebrand / Stefan Börnchen (Hg.): Lauschen und Überhören. Literarische und mediale Aspekte auditiver Offenheit.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2020.
229 Seiten, 129 EUR.
ISBN-13: 9783770564040

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