Mehr als lauter Egotrips

In „Die Jahre der wahren Empfindung“ lotet Helmut Böttiger die deutschsprachige Literatur der siebziger Jahre aus

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch hat das Potential, einen Sog zu entwickeln und nach der Lektüre lange nachzuhallen. Die Frage ist nur, bei wem? Zum Beispiel bei Menschen, die, wie der Rezensent, in den siebziger Jahren studiert haben und literarisch sozialisiert worden sind. Für sie bietet das Buch eine nostalgische Reise in die eigene Vergangenheit mit ständigen Erlebnissen des Wiedererkennens. Vieles hat man damals gelesen, manches möchte man am liebsten sofort wieder lesen und findet es auch im Bücherregal. Von anderen Büchern hat man gehört und rechnet sie zum unerledigten Lektürepensum, auf das Böttiger mit seiner Darstellung Appetit macht.

Helmut Böttiger setzt sein Projekt einer Literaturgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit, das er mit einem Buch über die Gruppe 47 (2012) eröffnet und mit Einzelstudien, z.B. über die Liebesbeziehung von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, ergänzt hat, mit dieser Gesamtschau der deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre fort. Der Titel, angelehnt an Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung (1975) ist zweifellos werbewirksam. Zusätzlich macht der Untertitel – Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur – neugierig. Und die Erwartungen werden nicht enttäuscht. Nach der Lektüre bleibt der Eindruck einer literarisch ungeheuer vielfältigen, innovativen, allerdings nicht ganz so einheitlichen Literaturlandschaft, wie es das verbreitete Schlagwort von der „Literatur der neuen Subjektivität“ und auch der gewählte Titel suggerieren.

Der Autor macht den Versuch, die 70er Jahre zwischen den vor allem wegen der mythisch aufgeladenen Jahreszahl 1968 legendären 60er und den demgegenüber verblassenden 80er Jahren nicht nur literaturgeschichtlich, sondern allgemein kulturgeschichtlich und ansatzweise politisch einzuordnen. Ganz an den Anfang setzt er eine kuriose Episode: Die nicht sehr bekannte Tatsache, dass die Westberliner Kommune I in der Zeit des „Puddingattentats“ auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey die Wohnung des Schriftstellers Uwe Johnson, der sich in New York aufhielt, bewohnte, ohne dass dieser wusste, wen er da beherbergte.

Verbindungsmann war Hans Magnus Enzensberger, dessen Bruder Ulrich in jener Zeit der Kommune angehörte. Böttiger beschreibt das Verhältnis zwischen Enzensberger und Johnson als zwiespältig, teils durch Gemeinsamkeiten, teils durch Gegensätze gekennzeichnet. Den grundsätzlichen Gegensatz bringt er wie folgt auf den Punkt: „Enzensberger ging es um Wirkung, Johnson um Haltung.“ Enzensberger, ein typischer Westintellektueller, sei ein „spielerisch-wendige[r] Medienjongleur“, der in der DDR sozialisierte Johnson hingegen ein „prinzipientreue[r] Moralist“ gewesen. Der Autor versteht es immer wieder, in solch zugespitzten Formulierungen vielschichtige Beziehungen und Verhältnisse auf den Punkt zu bringen, ohne dabei die Dinge unzulässig zu vereinfachen.

Den Beginn der neuen Literaturepoche markiert für Böttiger Peter Schneider mit seiner Erzählung Lenz, für ihn „ein aufsehenerregender erster Rückblick auf die Studentenbewegung“. Es ist aber nicht in erster Linie ein politischer Rückblick, vielmehr heißt es über diesen Text:

Das Neue und Aufregende dabei war, dass diese Erzählung zum ersten Mal Politisches und Privates untrennbar miteinander verwob und das Grundgefühl ausdrückte, dass sich eine zunächst euphorische Aufbruchstimmung plötzlich in eine schleichende Depression verwandelt hatte.

Für die neu entstehende Frauenliteratur mit ähnlicher Tendenz ist vor allem Karin Strucks erster Roman Klassenliebe exemplarisch. Dieser durchaus politisch zu lesende Roman zeigt: Die Suchbewegung der Autorinnen und Autoren richtet sich zwar jetzt mehr auf das Ich, den Körper und die eigene Familiengeschichte (worauf auch eine Reihe von Vater-Büchern hinweist: von Christoph Meckel, Hermann Peter Piwitt, Bernward Vesper), jedoch ist der Darstellungshorizont nicht darauf begrenzt, sondern jederzeit erweiterbar auf die Gesellschaft, Natur und Geschichte. Nicht zu vergessen sind die Bezüge zur Literaturgeschichte, wobei die Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (Sturm und Drang) und Georg Büchner (Vormärz) nicht zufällig in besonderem Maße zu Vorbildern wurden.

Böttigers Literaturgeschichtsschreibung entwickelt sich über weite Strecken aus Beziehungen, die manchmal freundschaftlich, oft spannungsgeladen, in einigen Fällen wechselnd und schwer bestimmbar waren. Auf dem Titelbild sieht man unter anderem eine Fotografie, die Peter Handke und Nicolas Born, mit den Füßen in einem Gewässer stehend, zeigt, hinweisend auf die innige Freundschaft zweier durchaus verschiedener Autoren, die durch den frühen Tod des einen beendet wurde.

In einem Kapitel geht Böttiger auf die komplizierte Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan und dabei vor allem auf Bachmanns Roman Malina (1971) ein, in einem weiteren auf die Freundschaft von Christa Wolf und Sarah Kirsch, die den Weggang Kirschs aus der DDR überdauerte, nicht aber den Untergang der DDR. Zum Kristallisationspunkt dieser Freundschaft wird für Böttiger Christa Wolfs Prosatext Sommerstück, der nach einem langen, wechselvollen Arbeitsprozess zwar erst 1989 publiziert wurde, sich aber auf das Zusammenleben in einem mecklenburgischen Dorf im Sommer 1975 als Vorschein einer Utopie bezog. Die zerbrach allerdings schon ein Jahr später mit dem vom Verfasser zu Recht ausführlich gewürdigten Kölner Konzert und der darauf folgenden Ausbürgerung Wolf Biermanns.

Zu den spannungsvollen Beziehungen gehört die zwischen Martin Walser und dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Es bleibt bis heute aufwühlend nachzulesen, wie tief das Zerwürfnis nach Reich-Ranickis vernichtender Kritik zu Walsers Roman Jenseits der Liebe (1976) war. Man wundert sich erneut, weshalb der nach seinem Erstlingsroman Ehen in Philippsburg (1957) und der monumentalen Anselm-Kristlein-Trilogie renommierte Schriftsteller Walser von dieser Kritik derart getroffen war. Er habe dann, so Böttiger, „wie als eine Beweisführung“ im Sommer 1977 die Novelle Ein fliehendes Pferd in einem Zug niedergeschrieben, die dann prompt vom Großkritiker als Walsers bestes Buch gelobt wurde.

Dramatisch entwickelten sich auch die Beziehungen zwischen Friedrich Christian Delius und dem Verleger Klaus Wagenbach – dieser Bruch war nicht zu kitten – sowie zwischen dem österreichischen Grantler Thomas Bernhard und seinem geduldigen Verleger Siegfried Unseld. Nach „fast 30 Jahren zähen Kampfes“ habe Unseld mit den Worten „Ich kann nicht mehr“ die Waffen gestreckt.

Einige Größen der Gruppe 47 waren auch in den 70er Jahren nicht nur literarisch erfolgreich, sondern auch politisch einflussreich, darunter der konsequente Gesinnungsethiker Heinrich Böll mit seiner erfolgreichen, gegen den BILD-Zeitungs-Journalismus gerichteten Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) und Günter Grass, der Trommler für die SPD, mit seinem opulenten, sinnenfreudigen Roman Der Butt (1977) sowie der in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges verlegten Hommage an Hans Werner Richter und die Gruppe 47, Das Treffen in Telgte (1979).

Bemerkenswert ist das Anarchische der Literatur der 70er Jahre, die sich eigentlich nicht auf einen Begriff bringen lässt. Dies trifft nicht nur auf Westdeutschland (Manfred Esser: Ostend; die „Neue Frankfurter Schule“: Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt, Wilhelm Genazino; Peter Rühmkorf), Österreich (die sensible Bachmann, der wandelbare Handke, der manische Textproduzent Thomas Bernhard) und die Schweiz (E.Y. Meyer, Hermann Burger, Fritz Zorn), sondern mit Einschränkungen auch auf die DDR zu: Volker Braun, Franz Fühmann, Fritz Rudolf Fries sowie der geniale Dramatiker und Selbstinszenator Heiner Müller lebten und schrieben in einem Verhältnis widerspruchsvoller Einheit mit ihrem Staat.

Schwer oder gar nicht einzuordnen sind die Monolithen Jahrestage (1970–1983) von Uwe Johnson, Ästhetik des Widerstands (1981) von Peter Weiss und Zettels Traum (1970) von Arno Schmidt. Als erster Popliterat nur unzureichend charakterisiert ist der unbändige Rolf Dieter Brinkmann, der in den letzten Jahren seines kurzen Lebens eigentlich kein Schriftsteller mehr sein wollte, Collagen herstellte und sich der Produktion von Tönen widmete. Seine vielstündigen Tonbandprotokolle, die er auf seinen Gängen durch Köln herstellte, hätten mehr als einen Satz verdient. Gar nicht erwähnt werden die drei innovativen Hörspiele Brinkmanns, wie überhaupt die mediale Erweiterung bzw. Ergänzung der Literatur in Gestalt der Hörspielkunst von Böttiger kaum gewürdigt wird.

Erfrischend ist, dass Böttiger auch den neu entstehenden Zeitschriften einige Abschnitte widmet, darunter der bekannten „Pardon“ oder dem von Josef Wintjes herausgegebene „Ulcus Molle Info“, an das sich wohl nur wenige erinnern werden. Die Produktionsbedingungen waren aus heutiger Sicht abenteuerlich: auf Schreibmaschine getippte Texte, mit Letraset fabrizierte Überschriften, zusammengeklebte Druckbögen, „diverse Hektografierverfahren“ usw. Aus solchen Details sowie eingestreuten Impressionen aus Westberliner und Frankfurter Kneipen und Literatencafés, in denen leere, mit herabgelaufenem Wachs überzogene Chiantiflaschen auf den Tischen nicht fehlen durften, entstehen Stimmungsbilder jener Zeit.

Jörg Fauser, seine Junkie-Erfahrungen verarbeitend und dabei an US-amerikanische Autoren wie William S. Burroughs und Charles Bukowski anknüpfend, markiert für Böttiger den Übergang zur Literatur der achtziger Jahre. Seine Reflektorfigur Harry Gelb beobachtet in einem Frankfurter Lokal junge Typen, die sich in der Subkultur auskennen und in ihr eine Geschäftsidee wittern.

Alles in allem ein äußerst lesenswertes Buch, das Literaturinteressierte begeistern kann. Bleibt nur die Frage, weshalb Böttiger diesmal, im Unterschied zu seinem Band über die Gruppe 47, auf Endnoten verzichtet. Diese stören ja den Lesefluss nicht und erhöhen die Nutzbarkeit des Buchs für die Wissenschaft. Aber auch interessierte Laien würden möglicherweise ein Zitat gern aufsuchen und in seinem Kontext nachlesen. Immerhin gibt es viele Schwarz-Weiß-Abbildungen, eine Bibliographie mit zahlreichen Titeln der Primär- und Sekundärliteratur sowie ein Register.

Titelbild

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
473 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339392

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