Fiktion und Politik
Die indische Intellektuelle Arundhati Roy seziert in ihrem Essayband „Azadi heißt Freiheit“ das gegenwärtige Indien
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFriedhöfe sind soziale Räume mit eigenen Gesetzen. In der Literatur werden sie oft metaphorisch als Aufenthaltsorte für ausgegrenzte, soziale Gruppen verwendet. Ilse Aichinger lässt 1948 in ihrem Roman Die größere Hoffnung jüdische Kinder in Wien auf einem Friedhof zum Spielen zusammenkommen, weil sie sich hier in einem geschützten Raum befinden, in dem sie vor Ausgrenzung sicher sind. In Arundhati Roys jüngstem, 2017 erschienenem Roman Das Ministerium des äußersten Glücks spielt ebenfalls ein Friedhof in Indiens Hauptstadt Delhi eine zentrale Rolle. Hier gründet der muslimische Hermaphrodit Anjum ein Hotel, in dem sich eine Gruppe von der Gesellschaft ausgestoßener Menschen begegnet. Das ist in Indien erst einmal ungewöhnlich, denn Hermaphroditen oder indisch Hijra, sind eine nicht hoch geachtete, aber doch akzeptierte Lebensform. Sie kleiden und fühlen sich in der Regel als Frauen, verdienen ihr Geld, indem sie Menschen bei Hochzeiten segnen oder sexuelle Dienste anbieten.
Auslöser für die Gründung des Hotels war das Erlebnis eines Lynchmobs, der im Jahr 2002 in Gujarat Muslime ermordete, weil kurz zuvor bei einer Explosion in einem Zug hinduistische Pilger ums Leben kamen. Anjum überlebte das Massaker, weil die Hindus glaubten, dass es Unglück bringe, eine Hijra zu ermorden. Schwer traumatisiert lebt Anjum nun mit dem Gedanken, dass ihr Überleben, den Mördern Glück bringe. Die Wahl des Friedhofs als Zufluchtsort ist dabei kein Zufall, einer der Slogans mit denen in Indien Muslime ausgegrenzt und verfolgt werden lautet: „Nur ein Ort für den Muselmann – Friedhof oder Pakistan.“ Da die Hindus mit einer Feuerbestattung von ihren Verstorbenen Abschied nehmen, ist der Friedhof ein Ort der Christen und Muslime, an dem sich auch immer wieder die Frage nach dem richtigen Umgang mit den Toten entzündet. Die literarische Figur nimmt den metaphorisch gemeinten Slogan wörtlich und lebt fortan auf einem Friedhof in Delhi.
Arundhati Roys Roman spielt in einer Welt, die vom hinduistischen Nationalismus geprägt ist. Er reflektiert wie auch ihre Essays dessen Schattenseiten, ermöglicht ihr aber einen ganz eigenen Umgang mit der Realität. Mit dem indischen Wort für Freiheit – Azadi – beschreibt die Schriftstellerin die Unabhängigkeit ihres Schreibens, die Möglichkeit fiktionale Welten zu entwickeln, die komplexer sind als die Realität und zugleich schonungslos deren blinde Flecken offen legen. Der Friedhof als ein Ort der Handlung macht das einsichtig.
Das Zusammenspiel von Fake History und Fake News in Indien
Arundhati Roys Essays, die oftmals poetologische Überlegungen mit politischen Reflexionen verbinden, eröffnen dem Leser einen Blick auf die Nachtseiten der indischen Demokratie. Dabei ist für eine indische Autorin bereits die Wahl der Sprache ein politischer Akt. Auch Roy schreibt nicht in ihrer Muttersprache, sondern verfasst Romane und Essays in englischer Sprache. Das ist nicht selbstverständlich, doch muss eine Autorin, die in einem Land aufgewachsen ist, in dem es rund 780 verschiedene Sprachen gibt, von denen 22 formell anerkannt sind, dessen Verfassung selbst aber in der Sprache der früheren Kolonialmacht verfasst ist, erst zu ihrer eigenen Sprache finden. Zugleich mit dem daraus resultierenden Sprachspiel entsteht aber auch ein Gespür für den politischen Umgang mit Sprache. Die Art und Weise, wie hinduistische Nationalisten die Geschichte umschreiben, ist ein Aspekt, der der Autorin als Expertin für Storytelling besonders auffällt. Wie sie unter anderem am Beispiel des Oscar-prämierten Films Ghandi von Richard Attenborough zeigt, zeitigen kleine Auslassungen in der Erzählung von Geschichte fatale Nachwirkungen in der Gegenwart. So kommt der Kämpfer für die Abschaffung des Kastensystems B. R. Ambedkar, der selbst aus Protest zum Buddhismus übertrat, im Film nicht vor. Dass viele Hindus aus Protest gegen das Kastensystem in den 1950er und 1960er Jahren die Religion gewechselt haben, wird nicht gesehen. Dabei zeigt diese Sicht der Geschichte, dass viele Andersgläubige nicht zwangsläufig Zugewanderte sind.
Diese Form der Umschreibung von Geschichte bezeichnet Roy als Fake History.Sie – so die Analyse Roys – trägt zum Unfrieden in der Gesellschaft bei und wird von Fake News gestützt und weitergetragen:
Fake News sind das Skelett, das Gerüst, über das sich der fadenscheinige Zorn, der den Faschismus schürt, drapiert. Das Fundament, auf dem dieses Gerüst ruht, ist Fake History, geklitterte Geschichte – vielleicht die älteste Form der Fake News.
Die Gefahr, die von der Fake History für den Alltag auf dem indischen Subkontinent ausgeht, zeigt sich in Angriffen auf Andersgläubige wie z.B. im Lynchmob von 2002 oder Angriffen auf Muslime in Delhi zu Beginn des Jahres 2020. Die klar formulierten Anklagen und die anschaulichen Beispiele lassen dem Leser keinen Zweifel, dass die Lage ernst ist.
Schreiben aus Liebe zum Subkontinent
In der Fiktion, so beschreibt es Roy, hat sie die Freiheit, die Fake History in Frage zu stellen bzw. deren Mechanismen offen zu legen. In der Realität muss sie wesentlich vorsichtiger agieren, bringt sie sich doch mit ihrem Schreiben immer wieder selbst in Lebensgefahr. Und doch schützt auch das präzise gewählte Wort nicht. Attentate auf politische Aktivisten oder Autoren in Folge von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten oder einem unbegründeten Shitstorm im Internet sind in Indien nicht ungewöhnlich.
Dennoch schont sich Roy nicht: Nicht nur ihre fiktionale Welt ist von den Krisen der indischen Gegenwart geprägt, sie nimmt auch in ihren brillant formulierten Essays explizit Stellung zum Tagesgeschehen, der Politik des indischen Regierungschefs Narendra Modi und seiner Partei der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP). Der Satz „Nur ein Ort für den Muselmann – Friedhof oder Pakistan.“ zieht sich wie ein Leitmotiv durch die in dem Band Azadi heißt Freiheit versammelten zehn Essays aus den Jahren 2018 bis 2021. Dabei besteht für Roy eine direkte Verbindung zwischen dem indischen Regierungschef und den Anfeindungen, denen Muslime ausgesetzt sind. War doch Modi 2001 zum Chief Minister von Gujarat gewählt worden. Es gibt Aufnahmen des Journalisten Ashish Khetan zum Gujarat-Pogrom von 2002, in denen die Täter bestätigten, dass das Pogrom nur aufgrund des Schutzes durch die Regierung und speziell des Chief Ministers Modi möglich wurde.
Die im Roman Ministerium des äußersten Glücks implizit formulierte Anklage, nehmen einige Essays auf. Roys Ziel ist es, die Entwicklungen Indiens in ihren Texten nachzuzeichnen. Dabei richtet sie sich in den meisten Texten an ein westliches, mit der indischen Geschichte wenig vertrautes Publikum, sind doch die Essays bis auf zwei in Delhi gehaltene Vorträge aus Reden für amerikanische Einrichtungen bzw. Texten für amerikanische Zeitungen hervorgegangen. Arundhati Roys Essays erzählen eine Geschichte Indiens, die quer liegt zur offiziellen Erzählung der Regierung. Ihr gelingt dabei mühelos der Spagat zwischen einer präzisen Beschreibung der Zustände in Indien und einem Bekenntnis zu dem Land, in dem sie lebt:
Um der Glaubwürdigkeit und des guten Benehmens willen sind wir dazu übergegangen, das Geschöpf, das sich in uns verbissen hat, zu pflegen – wir kämmen ihm die Haare aus und wischen ihm den Schleim vom Maul ab, um es in guter Gesellschaft sympathischer wirken zu lassen. Indien ist keineswegs der schlimmste oder gefährlichste Ort der Welt, zumindest noch nicht, doch vielleicht macht der Unterschied zwischen dem, zu was Indien hätte werden können, und dem, was es geworden ist, dieses Land zum tragischsten der Welt.
Roys Sprache changiert zwischen klaren Statements, objektiven Schilderungen und metaphorischen Beschreibungen, die den Konflikt der Autorin zwischen der Liebe zu ihrem Land und der Angst vor den politischen Entwicklungen eindrücklich in Sprache fassen. So wirbt sie um die Aufmerksamkeit des Westens.
Der Kaschmirkonflikt und der Ruf nach Freiheit
Der Titel der Essaysammlung schließt an einen Text mit dem Titel Azadi aus dem Band Aus der Werkstatt der Demokratie (dt. 2010) an. Dort thematisierte Roy den Umgang der indischen Regierung mit dem zu Indien gehörenden Teil Kaschmirs. Nach dreißig Jahren Bürgerkrieg schien die Region zur Ruhe zu kommen. Doch der neu aufflammende Konflikt mit Pakistan und das neue Staatsbürgerschaftsrecht für die Region, das Menschen muslimischen Glaubens diskriminiert, machte jegliche Hoffnung auf ein friedliches Ende des Konflikts zunichte. Die indische Regierung hat die Region über Monate hinweg von der Außenwelt abgeschnitten, das Internet lahm gelegt und Ausgangssperren verhängt. Der Ruf nach Azadi eint die Kaschmiris über Jahrzehnte – auch wenn sie ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was Freiheit ist. Nun könnte der Ruf nach Freiheit zugleich eine Brücke sein, die die Kaschmiris mit Teilen ihrer Besatzer verbündet.
Faschismus in Indien?
Und so sind auch die Parallelen zum Werk der österreichischen Autorin Ilse Aichinger trotz der völlig unterschiedlichen Kulturen, in denen die beiden Autorinnen aufgewachsen sind, kein Zufall. Wie die in Zeiten der Judenverfolgung in Wien lebende Aichinger wählt Roy einen magischen Realismus für ihren Roman, in dem sie das Ziel verfolgt, das Vertraute neu darzustellen, damit sichtbar wird, was in den Wirren der Gegenwart oft verborgen bleibt. Zwar kann sie nur metaphorisch entfremdet die politischen Probleme im Vielvölkerstaat Indien thematisieren, dennoch hat sie ihr Ziel klar vor Augen:
Die Hoffnung liegt in Texten, die unsere Verworrenheit, Komplexität und Dichte gegen den Ansturm der furchterregenden, pauschalen Vereinfachungen des Faschismus aufnehmen und am Leben erhalten können.
Immer wieder finden sich auch in Roys Essays Bezüge zum Faschismus in Deutschland und Italien. Dabei dienen der politischen Aktivistin die Verweise auf Europa nicht nur als Illustration der aktuellen Ereignisse in Indien. Sie hat vielmehr ausgiebig studiert, wie der Vormarsch des Nationalismus in Deutschland und Italien möglich wurde. Das öffnet zugleich den Blick für gegenwärtige Entwicklungen im eigenen Land. So sind die Essays auch Mahnungen, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen und die Funktionsweise von Modis Selbstdarstellung zu reflektieren, um seinen Propaganda-Apparat besser verstehen zu können. Darin sieht Roy eine Möglichkeit, sich der Verfolgung von Muslimen aktiv entgegen zu stellen. Ihre Essays sind eine Standortbestimmung, die man mit der Hoffnung liest, dass sich die Parallelen nicht weiter fortsetzen werden.
Fluch oder Chance? Die Corona-Pandemie in Indien
Wie sich in diese Gesamtsituation die Corona-Krise einordnen lässt, fragen die letzten beiden Essays. Im ersten aus dem Frühjahr 2020 äußert Roy die Hoffnung, dass Corona ein Tor sein könnte, dass die indische Bevölkerung zu einer neuen Form des Zusammenlebens führen könnte. Darin beschreibt sie aber auch die schonungslose politische Realität, indem sie die Sichtweise der schwächsten Bevölkerungsteile darstellt. Gerade diese hat der mit nur vier Stunden Vorlauf verkündete landesweite Lockdown hart getroffen. Millionen von Wanderarbeitern haben sich kurz nach der Verkündung im März 2020 von der Hauptstadt Delhi aus auf den Weg in ihre Heimatregionen gemacht. Da keine Züge mehr fuhren, wurden oftmals mehrere hundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Mit einem Presseausweis ausgestattet hat Arundhati Roy die einfachen Menschen interviewt. Beeindruckt hat sie ein Satz eines Zimmermanns, der auf dem Weg ins rund 800km entfernte Gorakhpur war:
„Als der ehrenwerte Modi dies beschloss, hat ihm vielleicht niemand von uns erzählt. Vielleicht weiß er nichts von uns“, sagte er „uns“ – ungefähr 460 Millionen Menschen.
Dass Roy auch den oft übersehenen Menschen eine Stimme gibt, ist im aktuellen Diskurs wichtig. Die Kluft zwischen den Bevölkerungsschichten ist in dem nach wie vor vom Kastensystem geprägten Indien wesentlich größer als in westlichen Staaten. Das Gefühl, politisch nicht nur keinen Einfluss zu haben, sondern letztendlich auch nicht berücksichtigt zu werden, birgt Gefahren, die sich in den Essays nur zwischen den Zeilen andeuten. Die wenig gebildeten Bevölkerungsschichten sind für die Spielarten der Fake History wesentlich anfälliger als gebildete Schichten, machen aber einen großen Teil der Wähler aus.
Corona – so reflektiert Arundhati Roy im April 2020 – könnte für Indien eine Chance sein. Trotz der verheerenden Fehler, die zu Beginn der Pandemie begangen wurden, könnte die Krise eine reinigende Wirkung für die Inder habe, wie eine Pforte, durch die man schreitet, um in eine bessere Welt zu gelangen. Dass es sich bei dieser Einschätzung um Wunschdenken handelte, zeigt der den Band abschließende Essay Wir erleben hier ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus dem April 2021.
Der Beginn der zweiten Welle zeigte das gesundheitspolitische Versagen der indischen Regierung, die sich kurz zuvor noch auf weltpolitischer Bühne als Sieger über die Pandemie feierte. Krankenhäuser am Limit, sterbende Patienten aufgrund fehlender Sauerstoffversorgung auf den Intensivstationen der Hauptstadt, verzweifelte Angehörige, die mit ihren kranken Verwandten vor den Krankenhäusern ausharrten – die Bilder waren auch in den deutschen Medien zu sehen.
Von der indischen Regierung wird angegebenen, dass 1,25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Gesundheit ausgegeben werden. Zum Vergleich: In Deutschland lagen – laut Angaben des Statistischen Bundesamtes – 2019 die Ausgaben für das Gesundheitswesen bei rund 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Roy zweifelt an den Angaben der indischen Regierung und schätzt, dass zu viele Ausgaben eingerechnet sind, die nicht das Gesundheitssystem betreffen. Eine verlässliche Zahl setzt sie bei 0,34 Prozent an. Die Medienberichte aus Delhi geben aber nur einen Teil des Dilemmas wieder, sind doch Krankenhäuser nur in den großen Städten zu finden. In einem Land, in dem schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung an Durchfallerkrankungen und Unterernährung leidet, sowie zwei Millionen Menschen an Tuberkulose erkrankt sind, ist die ländliche Bevölkerung medizinisch völlig unterversorgt. Das Gesundheitssystem – so diagnostiziert Roy schonungslos – ist in Indien inexistent.
So wundert es nicht, dass sich die Wut in den sozialen Medien in dem Hashtag #ModiMustResign, Modi muss zurücktreten, entladen hat. Allerdings trifft die Wut nur auf einen Teil der Bevölkerung zu:
Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil ist, dass der Mann ohne Gefühle, der Mann mit den leeren Augen und dem freudlosen Lächeln, wie so viele Tyrannen in der Vergangenheit fähig ist, leidenschaftliche Gefühle in anderen zu wecken. Seine Pathologie ist ansteckend. Und das ist es, was ihn hervorhebt.
Der charismatische Regierungschef, dessen hindu-nationalistische Politik Roy in ihrem Essayband in verschiedenen Facetten beschreibt, wird nach wie vor von einer Welle der Unterstützung getragen. Und so steht am Ende des Bandes Roys Eingeständnis, dass die Intellektuellen des Landes die Lage alleine nicht verbessern können: „Wir brauchen Hilfe.“
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