Der Müllmann und die Fliegenfängerin

Der italienische Autor Donato Carrisi schaut in seinem neuesten Thriller „Ich bin der Abgrund“ in die Tiefen der menschlichen Seele

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wider Alphabet und Höflichkeit wird der Müllmann in dieser Überschrift vor der Fliegenjägerin genannt, weil der dem Buch seinen Titel gebende Ausspruch von ihm stammt und weil er als Erster im Buch erscheint – lange, bevor er Müllmann wird. Beim häufigen Wechsel der Zeitebenen in diesem anspruchsvoll konstruierten Roman wird die fernere Vergangenheit im historischen Präsens erzählt; ein Datum ohne Jahresangabe dient als Überschrift. Dazwischen stehen durchnummerierte Kapitel aus jüngerer Zeit. Den Icherzähler, den man wegen des Romantitels vermuten könnte, gibt es nicht. Der Müllmann, der auf Seite 291 diese bestürzende Aussage beim tödlichen Wiedersehen mit seiner Mutter macht, ist ein schweigsamer Typ – von sich selbst redet er normalerweise nicht.

Endlich einmal hält die hübsche Vera ein Versprechen, das sie ihrem dicklichen fünfjährigen Sohn gegeben hat, der später zum Müllmann werden wird: Sie wird ihm das Schwimmen beibringen. Jedoch geht es nicht ans Meer, sondern zum Pool eines stillgelegten Hotels. Mit Schwimmflügeln, die sich als defekt erweisen, taucht der Junge in die schwarze Brühe ein. Das Wasser schwappt gegen seine Lippen, und die Mutter geht davon. „Das Dickerchen säuft ab“, sagt der Junge zu sich selbst, doch dann rettet er sich dank einer neuentdeckten inneren Kraft.

Was wird aus jemandem, der schlimmsten Verrat erlitten hat? Und wie kann eine Mutter so tief sinken? Die erste Frage wird schlüssig beantwortet, bei der zweiten tun sich Lücken auf.

In Kapitel 1 ist sogleich vom Müllmann die Rede. Der geübte Leser schließt messerscharf, dass der introvertierte Mann ohne Freunde und Familie mit dem Jungen von damals identisch ist. Bald wird das bestätigt: In einem Brackwasserbecken hat der Müllmann als Fünfjähriger das Atmen schätzen gelernt.

Schauplatz ist die Gegend um den Comer See in der Lombardei. Dort ist es still und einsam. Es gibt viele Alleinstehende, ohne Erben bleiben Häuser leer. Der unauffällige Müllmann wird kaum bemerkt und hält sich für unsichtbar. Von seinen Touren mit dem Kleintransporter nimmt er Müll mit nach Hause, um sich ein Bild von Menschen zu machen, die ihn interessieren, denn er findet: „Die Abfälle eines Menschen erzählen seine wahre Geschichte.“ Er findet einen abgebrochenen rotlackierten Fingernagel, für ihn ist das eine Reliquie. Nun kommt Micky ins Spiel, rätselhaft, ehemals Veras Liebhaber und vielleicht von ihr zur Schreckgestalt gemacht, mittlerweile aber Alter Ego des verkleideten Müllmanns: ein Kerl, der einen auf jung macht und sich an nicht mehr junge Frauen heranpirscht.

Am Seeufer findet der Müllmann den Fingernagel in seiner Dienstkleidung und fragt sich, ob er nicht mehr alles unter Kontrolle hat. Da hört er Schreie. Im See schlägt jemand panisch um sich. Er meint, „ein dickliches Kind mit erschlafften orangefarbenen Schwimmflügeln“ zu erkennen und wirft sich ins Wasser. Gerettet wird ein junges Mädchen mit einer lila Haarsträhne. Wieder an Land, atmet sie nicht, doch ihm gelingt die Wiederbelebung. Als sie Krämpfe bekommt, stopft er ihr sein Taschentuch in den Mund, damit sie sich nicht auf die Zunge beißt. Dann verschwindet er mit seinem Kleintransporter.

Der weitere Inhalt muss gerafft werden. Der Junge wurde gequält und liegt im Krankenhaus. Die Sozialarbeiterin Martina schimpft mit Vera, die ihn nicht beschützt hat. Von Micky ist die Rede. Wie alle die haltlosen Kerle, mit denen sich Vera einlässt, wird er von ihrem Jungen als „Schmeißfliege“ bezeichnet. Vera aber findet Micky nicht bösartig – er weint doch, wenn er ihr die Nase eingeschlagen hat.

Eine Szene kennt man aus gedruckten und flimmernden Krimis: Ein Übeltäter verkleidet sich im Krankenhaus als Arzt oder, wie hier, als Reinigungskraft. So gelangt der Müllmann ans Bett des geretteten Mädchens. Die vorbereitete tödliche Spritze aber setzt er nicht, denn das Mädchen hat eine Telefonnummer auf der Wade, mit Kuli dorthin gekritzelt, so wie Martina einst ihre Telefonnummer direkt über seinem Knöchel hinterlassen hat.

Dann begegnen wir erstmals der „Fliegenjägerin“. Das merkwürdige Wort wird zunächst nicht erklärt; der Leser muss sich selbst seinen Reim auf die „Schmeißfliegen“ machen. Die dickgewordene Frau kümmert sich um weibliche Missbrauchsopfer, die sich anonym melden können, indem sie ein Glas Mixed Pickles in ein Tiefkühlfach des Supermarkts stellen. Die Jägerin wird dann von der Geschäftsleitung informiert, muss aber erleben, dass sich manche Opfer mit ihrem Peiniger gegen sie solidarisieren. Dann erfährt sie, dass im See ein Arm gefunden wurde. Einer der rotlackierten Fingernägel ist abgebrochen.

Es gibt Kontaktversuche zwischen dem Müllmann und dem geretteten Mädchen, das nie beim Namen genannt wird. Wenig glaubhaft meint der Müllmann, sie heiße „Fuck“, weil er diesen Schriftzug auf ihrem Handy sah. Die „wohlsituierten“ Eltern des Mädchens verstoßen mit ihrer Kälte gegen alle Grundsätze der Mitmenschlichkeit. Ein Schulkamerad spielt ihr gegenüber den Verliebten, fotografiert sie heimlich beim Sex und erpresst sie dann mit den Fotos, damit sie seinen Kumpanen zu Willen ist.

Die Fliegenjägerin erkennt, dass der Fingernagel, den das gerettete Mädchen im Mund hatte, in einem Männertaschentuch steckte, wahrscheinlich dem des so rasch verschwundenen Retters. Vermisstenmeldungen deuten an, dass viele Frauen umgebracht wurden, die einander (und Vera) ähnelten wie Schwestern. Offenbar geht ein Serienmörder um.

Jahre früher wehrt sich der Junge in einem Heim bestialisch gegen kindliche Angreifer. Dann sticht er aus Eifersucht auf das erwartete Baby mit einer Nadel in den Bauch der schwangeren Martina. Auch die Fliegenjägerin hat eine belastende Vergangenheit, und bei ihren Einsätzen gegen häusliche Gewalt sehen ihre Gesprächspartnerinnen sie oft fragend an, weil sie das Gesicht schon einmal in den Medien gesehen haben.

Näher auf all die früheren Geschehnisse einzugehen, würde die Rezension zum Spoiler machen. Verraten sei immerhin, dass „Micky“ der Spitzname von Veras Vater ist und der Junge womöglich die Frucht eines Inzests.

Das letzte Kapitel führt noch einmal Jahre zurück und ist ein Meisterstück des durch viele Thriller berühmten italienischen Autors Donato Carrisi. Im Zusammenhang mit der geplanten Verfilmung seines Buchs stellt er fest, dass ein Teil der Handlung an der Oberfläche verläuft, ein anderer aber darunter. Tatsächlich tauchen aus der Tiefe der Romankonstruktion am Schluss bestürzende Wahrheiten auf, so wie der See hin und wieder Leichen und Leichenteile freigibt. Zum Beispiel erweisen sich zwei Personen in Wahrheit als eine. Diese Überraschung und andere krönen die Spannung, die im gesamten Roman nie nachgelassen hat und zu der die Übersetzung ins Deutsche einen untadeligen Beitrag leistet.

Titelbild

Donato Carrisi: Ich bin der Abgrund.
Aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth.
Atrium Verlag, Berlin 2022.
360 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783855351220

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