Psychogramm einer gescheiterten Beziehung

Herbert Heinrich Beckmann macht in „Es sind Kinder“ die drohende Katastrophe spürbar

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herbert Heinrich Beckmann hat mit Es sind Kinder ein psychologisches Meisterwerk erschaffen. Ohne dass es tatsächlich zu einer gewalttätigen Bedrohung kommt, gelingt es ihm, seine Leser an diese Geschichte zu binden. Vielleicht, weil wir uns als Voyeure nach dem Drama sehnen, eventuell aber auch, weil die hier geschilderte Beziehung für so viele andere steht, die eigentlich zum Scheitern verurteilt sind, aber aus verschiedenen Beweggründen doch aufrechterhalten werden. Und obwohl hier die sich anbahnende Katastrophe von Beginn an deutlich spürbar ist, hofft man doch, dass es möglicherweise anders kommen möge.

Im Verlauf dieses geschickt erarbeiteten Romans fragt man sich dabei mehrfach, wer nun eigentlich die Hauptfigur ist – das Paar Tine und Stefan Brodersen oder der kleine Sohn Leon, der vielfach noch unglücklicher erscheint als seine Eltern. Und dann ist da noch Hanna, stets präsent, obwohl im Urlaub der Brodersens gar nicht sichtbar, mit der Stefan immer noch verheiratet ist und zudem seine IT-Firma mit ihr führt. Hanna, die ihm auch die baltische Insel Kirsii als Urlaubsort empfohlen hat, an den das Paar bald gemeinsam mit dem zweieinhalbjährigen Leon aufbricht.

Doch schon auf der Fährüberfahrt zeigen sich Differenzen zwischen Tine und Stefan, die unüberwindbar erscheinen, denn vieles, was eine Aussprache wert gewesen wäre, bleibt unbearbeitet und größtenteils auch unausgesprochen – wie vermutlich schon unzählige Male in der Vergangenheit. Hier fallen den beiden jedoch zwei kleine Gestalten auf, die in roten Regenmänteln wie Kinder wirken, deren Gesichter aber nie erkennbar werden und die der Familie zunächst nur merkwürdig erscheinen. Nach einer schier endlosen Reise an ihrem absolut maroden Ferienhaus angekommen – „eine glatte Provokation“, die Stefan Last-Minute gebucht hatte, begeben sich die Urlauber an den Strand. Dort erblicken sie erneut die beiden Gestalten, die sie weiter für Kinder halten. Aber sie fühlen sich nicht nur beobachtet, sondern bekommen es regelrecht mit der Angst zu tun. Denn sie spüren bereits, dass es sich um mystische Wesen handeln könnte, die sie zu verfolgen scheinen.

Wegen der vielen maroden Stellen im Haus, die Stefan versuchte zu beheben, indem er beispielsweise „vollkommen sinnloserweise nach Isolierband suchte“ und dem Verhalten ihres Sohnes, der Tine den letzten Nerv raubt – auch weil sie sich Sorgen macht, dass seine Sprachentwicklung inzwischen deutlich zurückgeblieben ist – vergessen sie die beiden Wesen wieder. Jedoch nur bis zum nächsten Tag, denn beim Besuch der Inselhauptstadt tauchen sie erneut auf. Stets und ständig ziehen sie einen Bollerwagen hinter sich her und wirken mit ihren großen Kapuzen wie Figuren aus einer anderen Welt. Jetzt dürfte Tine und Stefan bereits bewusst sein, dass sie ihnen nicht zufällig immer wieder begegnen.

Währenddessen kämpft das Urlauberpaar mit seiner Beziehung, der elterlichen Rollenverteilung und überdies, trotz Urlaub, mit seiner beruflichen Situation. Diese wird dadurch erschwert, dass sie die klassische Rollenverteilung eingenommen haben, in der Tine als Freiberuflerin kaum etwas zum Lebensunterhalt beisteuern kann, während Stefan ein eigenes IT-Unternehmen zusammen mit seiner Exfrau führt. Vielmehr: In seiner Abwesenheit hat Hanna einen promovierten Informatiker engagiert, ohne dies mit ihm abzusprechen. Er kann weder abschalten noch schafft es Tine, Stefan keine Vorwürfe wegen seiner immer noch engen Bindung zu Hanna zu machen.

Und nun tritt das, was sich langsam anbahnte, mit voller Wucht ein: Während jeder der beiden unangenehme berufliche Telefonate zu führen hat, verschwindet Leon mitten aus einem Café in der Hauptstadt Kirsii. Niemand hat ihn gesehen, und weil Stefan eigentlich hätte aufpassen sollen, ergießt Tine im weiteren Verlauf einen Schwall von Vorhaltungen über den sich um seine Position in der Firma sorgenden Stefan. In der Sorge um das gemeinsame Kind tritt alles zutage, mit dem beide bisher hinter dem Berg gehalten hatten, und es wird immer klarer, dass es keine Zukunft für sie geben kann. Denn auch in der größten Not können sie nicht als Team auftreten, sondern ihre Konflikte immer nur ruhen lassen, anstatt sie zu bearbeiten. Wahlweise übernehmen darin Hanna und Leon die Rolle des Sündenbocks, aber der jeweilige Partner dient auch als Kompensator der eigenen Unzulänglichkeit.

Mit dem Verschwinden Leons zeigt sich zudem, dass er trotz seiner sprachlichen Einschränkungen in der Lage ist, sich seinen eigenen Weg zu suchen. Gleiches gilt für das irrtümlich als Kinder eingestufte Ehepaar Helin und Uku, das sich als „Päkapikud“ – die Elfen – entpuppt und das auf Leon mit seinem lustigen Bollerwagen offensichtlich eine so hohe Anziehungskraft ausübt, dass er ihnen freiwillig nachläuft.

Tine und Stefan machen in ihrer Verzweiflung abwechselnd größte Fehler, indem sie den örtlichen Polizisten versuchen zu bestechen und anschließend die Deutsche Botschaft kontaktieren, aber wieder zurück an die Polizei verwiesen werden, weil sie sowohl die falschen Worte als auch die falsche Strategie an den Tag legen. Zu allem Überfluss äußert auch die Bedienung in dem Café, aus dem Leon verschwindet, dass sie seine Eltern als unangenehm und aggressiv empfunden habe.

Die beiden entschließen sich, sich selbst auf die Suche zu begeben und die Elfen zur Rede zu stellen. Doch unverrichteter Dinge müssen sie wieder zum Ferienhaus zurückkehren, an dem sie am Ende Leon vor der Tür sitzend wiederfinden, ihrerseits längst entschlossen, bald getrennte Wege zu gehen.

Ein berührendes Buch, mit dem uns der Autor aufzeigt, wohin mangelnder Respekt und Arroganz gegenüber dem Unbekannten, Andersartigen führen kann. Bezogen auf die aktuelle Situation in der Welt ist dem Autor hier ein Meisterwerk gelungen, das die Spannung bis zum Schluss aufrechterhält und zahlreiche schockierende, aber auch traurig stimmende Dialoge beinhaltet.

Titelbild

Herbert Heinrich Beckmann: Es sind Kinder. Roman.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2021.
248 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783947857135

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch