Schweben können

Astrid Schleinitz erkundet in „wilde gärten“ farbenfrohe Räume der poetischen Fantasie

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im weiten Land der Dichtung führen traumwandlerische Pfade der Fantasie in neue, unsichtbare Räume und münden in eine auf gewisse Weise schwebende, auch schwerelose Form von Wirklichkeit. Astrid Schleinitz entschlüsselt mit ihren poetischen Naturkunden mitnichten verborgene Welten, aber sie lädt zu sehr besonderen Spaziergängen ein, schenkt Anschauungen von einem lyrisch gewebten, fein gesponnenen Stoff. Die Dichterin taucht die Welt, in der wir leben, in frische Farben der Natur.

wasserfarben wolken über den balkonen auf denen
krähen und tauben hocken, voneinander abgewandt,

die wolken laufen aus wie schönes weißes haar
das den wind liebt, wenn er farben streut

Naturphänomene sind wie Geschenke, Lesende, Hörende und Schauende dürfen sie aufnehmen, annehmen und auch dankbar dafür sein. Wer diese Gedichte liest, denkt möglicherweise an ferne Sommer zurück, in denen am Meeresstrand gedankenvoll hinausschaut und hinaufblickt – zu den Wolken, die der Seewind über Land und Meer schweben lässt. Das Farbenspiel der Natur bleibt auch Großstadtmenschen gegenwärtig, die auf Balkonen sitzen, einsam oder zweisam, mitunter vielleicht wie zwei vom lyrischen Ich beobachtete Vögel „voneinander abgewandt“. Jene können nach droben fliegen, Menschen ziehen in Gedanken mit, oft auch traurig, aber doch versonnen sich in die kleinen Fluchten der Fantasie hineingebend – mitten im Leben, mitten im Alltag. Das tut not, das tut auch gut.

Mitunter scheint Astrid Schleinitz philosophische Beobachtungen anzustellen, ohne begriffliche Artistik:

und die zeit ist plötzlich ein zelt aus alten dingen
in dem blausterne wachsen, pflaumenblüten
hyazinthen, geometrisch und streng

Was ist Zeit? Ja, vielleicht ist sie wirklich ein „zelt aus alten dingen“, das als Gedächtnis und Erinnerung eine Art Obdach bietet, zum Sinnieren einlädt, Eindrücke von Sinnreichem schenkt. Wer sich erinnert, sieht auf dem Boden der verflossenen Zeit Keime sprossen und Neues wachsen. Fließt die Zeit ruhig dahin? Oder treiben wir ruhelos in ihr? Die Lebenszeit erscheint also wie ein „zelt aus alten dingen“, das manchem Raum lässt, „blausterne“ wachsen lässt – und auch streng duftende Gewächse wie Hyazinthen. Die Zeit, so zeigt die Dichterin, lässt sich mit philosophischen Begriffen nicht erfassen, gleichwohl lyrisch beschreiben, zumindest in Andeutungen. Auch schenkt die Natur ganz oft „eine art trost“, der jenseits der Sprache liegt. Die Dichterin empfiehlt „ein bad himmel für jeden tag“. Sie träumt, ungeniert und sinnlich:

in meinem traum will ich einziehen in diese stadt
in der das grüne wasser in den straßen steht
alle stockwerke sichtbar bis unten hin,

aber niemand schwimmt: die bewohner feiern feste mit
torten aus denen luftballons steigen, feuerwerk,
kleine leuchtende mäuse

Die Bewohner tanzen, blumengleich verzückt und entrückt, unbeschwert – „ihre Seelen“ bewegen sich tänzerisch in diesem Paradies, doch das lyrische Ich hat „falsch getanzt, falsch gehört“. Es hat, so scheint es, eine innere Anschauung gewonnen, einen Einblick genommen in eine Zeit oder auch Zeitlosigkeit, der es nicht, vielleicht „jetzt noch nicht“ angehören soll, kann und darf. Der Philosoph Friedrich Nietzsche sprach wuchtig von der Lust, die Ewigkeit will – und die Dichterin verzichtet auf bombastische Weisheiten. Sie zeigt eine fantasievolle Wirklichkeit, die sehr viel leichter, tänzerischer und freundlicher anmutet, bunt und schön, himmlisch lichtvoll, fernab aller Erdenschwere, eine ganz andere Welt, ein Anderswo, in dem auch der „schaum zorniger ratlosigkeiten“ entschwunden ist. Droben oder drüben muss auch nicht mehr philosophiert werden. Vielleicht entdeckt ein Stück Himmel auf Erden bereits, wer hienieden darauf verzichtete. In Astrid Schleinitz‘ Paradies ist jede vergiftete Rede aus der Welt der kalten Zynismen für immer verstummt.

Zuletzt sinniert die Dichterin über „irdische mönche“, die nicht Segenssprüche verkünden, sondern kostbare Erfahrungen mitteilen:

barfuß mit weißen gedanken gingen wir über die erde, kristallisierten,
waren aber nicht schneeflocken, obwohl auch davon etwas,
denn manchmal konnten wir schweben

Wer diese Gedichte liest, wird berührt und von innen her bewegt sein, die Natur auch mit anderen, neuen Augen sehen. Lesende wagen sich mit Astrid Schleinitz hinein in Fantasieräume, steigen gedankenvoll hinauf, „denn manchmal konnten wir schweben“. Wir wissen, dass das Leben nicht einfach, ja bleischwer sein kann – aber die sanfte Sprache der Poesie lässt uns zu Atem kommen und, ganz unerwartet, verleiht sie uns Schwingen der Fantasie, mit denen wir versuchsweise schweben dürfen.

Titelbild

Astrid Schleinitz: wilde gärten. Gedichte.
pudelundpinscher, Wädenswil 2021.
64 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783906061269

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