Auf heiligen Pfaden in die Ewige Stadt

Ein Tagungsband von Peter Erhart und Jakob Kuratli Hüeblin erforscht die „Monastische Reisekultur von der Spätantike bis in die Neuzeit“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass alle Wege nach Rom führen, ist immer noch ein solcher Gemeinplatz, dass sich die Meisten der Hintergründe dieses Bonmots gar nicht bewusst sind. Diese liegen in der klerikalen – späterhin dann allgemein auch kirchlichen – Tradition einer Pilgerfahrt in die besagte Stadt begründet, deren Kernziel in der individuellen, wohl aber auch grundsätzlichen Erlösung lag.

Zunächst handelte es dich dabei zuvorderst eine Angelegenheit, die spezifisch monastische Züge trug. Seit der Etablierung der mönchischen Kultur waren die Vertreter (und dann gelegentlich auch die Vertreterinnen) dieser auf intensiven Glauben ausgerichteten Lebensform immer wieder auch auf Reisen. Diese waren oft genug pragmatisch begründet, etwa wenn jemand einem anderen Kloster zugeteilt worden war. Sie hatten aber oft auch theologischen Charakter, waren dann also – zumindest wenn das Ziel theologisch aufgeladen war – doch gleichzeitig auch Pilgerreisen. Die Quintessenz dieser Fahrten war im wahrsten Wortsinne ein Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation weitergereicht wurde.

Der pragmatische Aspekt mag verdeutlichen, dass Mönchreisen nach Italien beziehungsweise explizit nach Rom seit dem Mittelalter auch kulturelle Transferfunktionen hatten. Die monastischen Kleriker, die mit Weisungen ihrer jeweiligen Äbte unterwegs waren, befanden sich somit gewissermaßen auf ‚Dienstreisen‘, und mit der Gründung und Entwicklung von Universitäten im italischen Raum gewannen diese Reisetraditionen nicht nur einen weiteren Aspekt hinzu, sondern erlebten auch einen erneuten Aufschwung.

Der von Peter Erhart und Jakob Kuratli Hüeblin, dem Leiter beziehungsweise stellvertretenden Leiter des Stiftsachivs Sankt Gallen, herausgegebene Band Nach Rom gehen enthält Beiträge von zwei internationalen Kolloquien (2014 in den Klöstern St. Gallen und Einsiedeln bzw. 2016 am Istituto Svizzero di Roma), Ersteditionen von Reiseberichten und bietet insgesamt aktuelle Forschungsergebnisse zur monastischen Reisekultur.

Nach einer knappen Einleitung der beiden Herausgeber zeigt Alfons Zettler in seinem Beitrag Reichenau und Italien im frühen Mittelalter verschiedene Impressionen und Episoden auf, die mit der Bodenseeinsel und dem italischen Raum in Zusammenhang stehen. Dabei scheint die Gleichsetzung der Inselgeschichte mit der Herrschaft der Ottonen quasi programmatisch, und die drei bemerkenswerten (Kloster-)Kirchen sowie die drei Inselteile Oberzell, Mittelzell und Unterzell sind schließlich auch definitiv durch die ottonische Kultur geprägt. Bemerkenswert an diesem pointierten Beitrag ist allerdings der Fokus, der weiter zurückreicht und sich auf die Verhältnisse zur Karolingerzeit richtet: ein Ansatz, der in Hinblick auf die (Kloster-)Geschichte der Insel zumindest nicht so weit verbreitet ist.

Noch weiter zurück blickt Elena Gritti (Unterwegs mit den Reliquien des Heiligen Severin von Noricum nach Kampanien), die mit ihrem Beitrag einer peregrinatio devota in ein ‚Gelobtes Land‘ im Jahr 488 folgt und sich hierbei mit Hagiographie im Allgemeinen und Reliquienverehrung im Besonderen befasst; im Zentrum stehen hier Ereignisse, die sich um Vita und Verehrung des Heiligen Severin bewegen.

Wieder näher an die Gegenwart rückt der umfangreiche Beitrag Mobilità monastica, monasteri e ospitalità nell’Italia altomedievale von Eleonora Destefanis, der unter dem Blickwinkel der mönchischen Reisegepflogenheiten im Italien des Hochmittelalters Grundsätzliches sowie Detailliertes zu den für den Austausch innerhalb der monasterischen Kommunitäten wesentlichen und notwendigen Reisen thematisiert. Grundriss-Skizzen der Klöster von Müstair und Sankt Gallen illustrieren die entsprechenden topographischen Gegebenheiten, sodass hier sowohl trans- als auch cisalpine Aspekte visuell verdeutlicht werden.

Mitherausgeber Peter Erhart führt Leserinnen und Leser über Monastische Reisewege durch das frühmittelalterliche Italien. Auch hier werden, wie im Beitrag Alfons Zettlers, vornehmlich die Verhältnisse während der karolingischen Zeit thematisiert, wobei – als Referenz gewissermaßen zu den Reisen der Mönche – mit Blick auf das Itinerar Karls des Großen die aus heutiger Sicht erstaunliche Mobilität zumindest einer kleinen Zahl von Menschen des Frühen Mittelalters deutlich gemacht werden kann, die diese trotz aller Fährnisse meist auch genossen. Doch die Freude daran, in die Ewige Stadt zu pilgern, wurde offenbar nicht von allen geteilt: Erhart zitiert aus einem vermutlich im irischen Kern der Sankt Galler Mönche kursierenden Gedicht: „Nach Rom gehen: Viel Mühe, wenig Nutzen!“

Zumindest was den zeitlichen Rahmen betrifft, bewegt sich der Beitrag von Matthew Bryan Gillis (Headless and on the Road: Vagabond Monks in the Carolingian Era) wieder in einem ähnlichen Feld; untersucht wird hier der Doppelaspekt eben jener Reisen und Wanderungen. Selbst wenn – auch das scheint vorgekommen zu sein – Mönche nicht quasi ‚auf eigene Faust‘ unterwegs waren, konnten selbst legitimierte Reisen und die damit verbundenen Erweiterungen des (geistig-geistlichen) Horizonts das Ergebnis nach sich ziehen, dass die kirchlichen Strukturen hinterfragt oder sogar infrage gestellt wurden. Damit war letztlich die Stabilität lokaler und regionaler Machtverhältnisse des Klerus in Gefahr, was aus Sicht der entsprechenden kirchlichen Würdenträger inakzeptabel sein musste.

Wesentliche dichter am Erleben stehen die von Christian Rohr in den Blick genommenen Bereichte über Schreckliche Stürme und Lawinen, in denen die Wahrnehmung des Großen St. Bernhard in monastischen Reiseberichten des Mittelalters ihren Niederschlag finden. Verglichen werden eine Beschreibung aus dem 12. (Abt Rudolf von Saint-Trond) und eine aus dem 15. Jahrhundert (Arnold Heymerick), die trotz in Details abweichenden Aspekten die Schrecken der Ass-Überquerung in einer Weise schildern, die sich grundsätzlich von gegenwärtigen Erfahrungswirklichkeiten unterscheidet. Dass trotz dieser Gefahren auch in Zeiten des Winters vermutlich überraschend hohen Reisefrequenz und der explizit damit verbundenen Zahl von Alpenüberquerungen über Jahrhunderte nur verhältnismäßig wenige Bereichte über die entsprechenden Erfahrungen vorliegen, verwundert zunächst. Christian Rohr hat hierfür aber eine Erklärung: „Es sind ‚Reisen, von denen man nicht gerne spricht‘, […] die Schrecken der Berge ließen die Menschen gleichsam sprachlos zurück.“

Wie bereits im Beitrag Eleonora Destefanis’ angeklungen, waren nicht alle mönchischen Reisen und Fahrten legal; die Mönche ‚gingen von der Fahne‘, wobei ihnen dies interessanterweise offenbar zunächst gar nicht immer bewusst war. Intensiv nimmt Milena Svec Göetschi diesen Aspekt unter dem Titel Aus dem Kloster in die Welt: Bittschriften entlaufener Mönche an den Papst in den Blick. Dass es dabei neben dem Kreis der Klosterflüchtigen, also Nonnen und Mönchen, die aus welchen Gründen auch immer das Klosterleben hinter sich lassen wollten, auch immer wieder Reiseverbotsübertretungen aufgrund von ‚Formfehlern‘, Unachtsamkeiten und sogar aus Versehen erfolgten Ordenswechseln geschahen, scheint, so der Autor, zumindest für das spätere Mittelalter keineswegs außergewöhnlich gewesen zu sein. Um dann nicht vollends zu straucheln, brauchte es eben die päpstlichen Legitimations- beziehungsweise Gnadenbescheide als positives Ergebnis der titelprägenden Bittschriften.

Von deutlich geringerer Drastik geprägt, eben weil es sich um positiv sanktionierte Reisen handelt, die hier beschrieben werden, sind die Beiträge von Gerald Hirtner und Michael Fröstl (Die Romreise des Abts Georg Liebenknecht von Michaelbeuren (1448/1450). Edition, Kommentar und Übersetzung) sowie von Philipp Lenz (Ulrich Röschs Romreise und seine Provision zum Abt von St. Gallen 1463). Beide Aufsätze nehmen jeweils ein konkretes Einzelschicksal in den Blick, und der Lektürereiz besteht nicht zuletzt darin, die beiden Protagonisten sowie ihre Reisen zu vergleichen, was insofern durchaus statthaft ist, als beide in etwa zur gleichen Zeit oder doch zumindest in dichter zeitlicher Nähe unterwegs waren. Während sich allerdings der Text zu Georg Lieberknecht weitgehend auf die Quellendarstellung und -kritik beschränkt – dies allerdings recht detailliert –, werden hinsichtlich der Person, Karriere und auch des weiteren Umfelds Ulrich Röschs weitergehende Informationen dargeboten, die zumindest in weiterer Sicht auch auf Lieberknecht Anwendung finden könnten. Hier lassen sich bei Unterschieden im Detail auch wieder gemeinsame Parameter erkennen, die eine Gesamtschau ermöglichen.

So sind die angesprochenen Beiträge zwar keineswegs notwendigerweise ‚unlösbar‘ miteinander verknüpft, bieten meines Erachtens gleichwohl als Ensemble weiterreichende Informationsmöglichkeiten. Dies gilt auch für den sich anschließenden Text von Andreas Rehberg Der St. Galler Jurist Johannes Bischoff in Italien, in dem ebenfalls individuelle Erfahrungen eines Romreisenden thematisiert werden, die allerdings berufsbedingt – der Protagonist war Rechtsgelehrter – andere Akzente aufweisen. Und auch hier wird der bereits eingangs erwähnte Aspekt einer Praxis von Mobilität deutlich, die in vielerlei Hinsicht dem Charakter gegenwärtiger Geschäftsreisen nahekommt, wenngleich diese natürlich durch andere Technologien und die damit verbundenen einerseits kürzeren Reisezeiten, andererseits größeren Reiseentfernungen wiederum andere spezifische Eigenheiten besitzen.

Zwischen Dienst- und Bildungsreise changiert auch das Thema in Beat Immenhausers Beitrag Universitätsgelehrte Mönche im Südwesten des Alten Reiches. Elemente einer Geswchichte des Universitätsbesuchs des Ordensklerus im Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert. Hinter diesem recht ausladenden Titel verbirgt sich eine sehr ansprechende und durch Statistiken gut belegte Darstellung monastischer ‚Reisegelehrsamkeit‘, die in mancherlei Hinsicht der Idee der Grand Tour vorgriff, die für zunächst adelige, späterhin auch (groß-)bürgerliche junge Männer seit dem 18. Jahrhundert eine wesentliche Lebenswegstation war.

Dieser Aspekt, die Idee der kirchlich bedingten Grand Tour, wird auch im letzten Beitrag Dieter Richters (Geistliche und weltliche Blicke. Religiosen aus dem Norden am Golf von Neapel) aufgegriffen. Der Verfasser stellt dabei die Frage in den Raum, wie ähnlich oder gar übereinstimmend Anlass und Wahrnehmung dieser ausgedehnten Reisen aus säkularer und geistlicher Warte gewesen sein mögen. Mit interessanten Beispielen und Zitaten wird hier durchaus Beachtenswertes in den Blick genommen – die Antwort auf seine Leitfrage freilich bleibt uns Dieter Richter schuldig.

Dieser Bredouille entgeht Mitherausgeber Jakob Kuratli Hüeblin in seinem lesenswerten Beitrag Die Romfahrt des Einsiedler Abts Adam Heer zum Jubeljahr 1575 – dem vorletzten der Publikation – naturgemäß schon deshalb, weil hier ein Vergleich weder angestrebt, noch möglich ist. Es handelt sich um eine informativ eingeleitete (so wird beispielsweise die besondere Situation der binnenschweizer Klöster sowie der allgemein katholisch gebliebenen Orte nach der Reformation diskutiert) Edition des Reisetagebuchs jenes Abtes, der das von Gregor XIII. ausgerufene Heilige Jahr zum Anlass nahm, den vom Papst in Aussicht gestellten Sündenablass durch seine Romfahrt zu erlangen. Dies ist einerseits ein durchaus typisches, andererseits aber durch die Rahmenbedingungen auch atypisches Phänomen jener Jahre. Der Abschluss des Bandes mit den erwähnten geistlichen und weltlichen Blicken ist insofern konsequent, als eine Anbindung an spätere und anders intendierte Phasen einer nordalpinen Italienbegeisterung ermöglicht wird.

Es handelt sich bei Nach Rom gehen um einen interessanten Band, in dem insofern Bekanntes oder – anders formuliert – bekannte Phänomene aufgegriffen werden, die in den den meisten populären Variationen allerdings weitgehend anders intendiert waren. So lässt sich bereits die Faszination an Italien, die Goethe zu seiner Reise über die Alpen bewogen hatte, kaum oder gar nicht mit der bundesdeutschen Feriensehnsucht nach Süden aus den vielleicht bereits späten Fünfziger-, sicher aber Sechzigerjahren vergleichen; und um noch Einiges weniger ist diese Begeisterung mit den Beweggründen mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Kleriker in Einklang zu bringen, die es über die Alpen und insbesondere in die Ewige Stadt zog. Gleichwohl scheinen in den Beiträgen immer wieder phänotypische Aspekte auf, die im weitesten Sinne auch für die (post-)moderne Lust am Süden Geltung finden könnten. Wesentlich jedoch, das macht den Wert des Buches aus, sind die Unterschiede. Und so bringt weitgehend jeder der vertretenen Texte einen oder auch mehrere Mosaikstein(e) zum Bild des Fremden im vermeintlich Vertrauten zusammen. Karten, Abbildungen sowie eingearbeitete Tabellen erweitern die Informationsgrundlage. Ein Personen- und ein Sachregister, nicht zuletzt aber auch eine umfangreiche Bibliographie runden das empfehlenswerte Werk ab, sodass von dieser Basis aus eigenständige ‚Exkursionen‘ in die Welt klerikaler Rompilger unternommen werden können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (Hg.): Nach Rom gehen. Monastische Reisekultur von der Spätantike bis in die Neuzeit.
Böhlau Verlag, Wien 2021.
350 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-13: 9783205207368

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