Butter, Blut, Beratung

Asako Yuzuki plädiert für Esslust und Emanzipation

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Unterschied zum japanischen Rezipienten dürfte deutschsprachigen Lesern und Leserinnen von Asako Yuzukis Werk Butter nicht klar sein, dass der Roman auf eine Begebenheit der jüngeren Kriminalgeschichte Japans Bezug nimmt. Der im Original 2017 erschienene Text wäre demnach in die Nähe von Kolportageromanen zu rücken. Wahlweise bezeichnet ihn die landeseigene Kritik aber auch als shakaiha gurume shôsetsu (Gastro-Roman mit gesellschaftlichem Anspruch) oder als misuterii ryôri kyôshitsu (Kochlehrbuch im Mystery-Format). Kolportagehafte Charakteristika wären in der Tat Yuzukis eingearbeitete Koch- und Lebensrezepte und ihre Darstellung einer Sensationsnachricht, wobei besonders das didaktische Moment hervortritt.

Der Fall Kanae Kijima

Die Autorin nimmt Bezug auf den Fall der japanischen Heiratsschwindlerin und Serienmörderin Kanae Kijima, die im September 2009 verhaftet wurde. Die Angeklagte hatte von mehreren Männern unter Vorspiegelung falscher Tatsachen große Geldsummen erhalten. Mindestens drei von ihnen waren unter merkwürdigen Umständen durch eine Kohlenmonoxidvergiftung ums Leben gekommen. Das Gericht erkannte sie nach wiederholter Verhandlung für schuldig, die Opfer betrogen und getötet zu haben. Kijima sitzt bis heute in der Todeszelle. Sie heiratete dort drei Mal, schrieb ihre Biografie (2013), einen Blog (2014–2018) und vermarktete einen Roman (2015). Ihr dritter Mann (Heirat April 2019) ist Mitarbeiter des populären Magazins Shûkan Shinchô. Die Medien stürzten sich anlässlich ihrer Verurteilung und der Hochzeiten wiederholt auf die Ereignisse um Kijima: Ausgiebig diskutiert wurden Aussehen und Charakter der Täterin. Man wunderte sich vor allem, wie es einer fülligen, nicht ausgesprochen schönen Frau wie ihr gelungen sei, so viele Partner von sich zu überzeugen.

Yuzukis Rezept

Wie setzt die Autorin diesen Stoff um? Yuzuki, die sich zunächst für die Sparte Drehbuch interessierte, hatte 2008 ihr Debüt in der Unterhaltungsliteratur und beherrscht die Präsentation von Content. Ihr Zugriff besteht, wenn man ihn anhand von literarischen Vorbildern beschreiben möchte, zu je einem Anteil aus Kirino Natsuo, Yoshimoto Banana und Elizabeth Gilbert. An Kirinos Teufelskind (2004) erinnert die Figur der Serienmörderin sowie der Diskurs einer in der japanischen Gesellschaft tief verwurzelten Misogynie. Von Yoshimoto Banana stammt die den Text tragende Geste, Anleitung zu Lebensgestaltung und Glücksfindung sein zu wollen. Einige Hauptmotive von Butter erinnern stark an Gilberts Eat, Pray, Love betitelte Memoiren. Der Bestseller aus dem Jahr 2006 thematisiert die Liebe zu sich selbst: Eine vom Kinderwunsch ihres Mannes überforderte Protagonistin nimmt eine Auszeit, begibt sich auf Reisen, entspannt sich durch genüssliches Essen, legt etliche Pfunde zu, wechselt die Konfektionsgröße und hat durch diesen maximalsubversiven Akt ihre Sinnkrise überwunden.

Yuzukis Heldin, die 34-jährige Rika Machida, eine von der Hektik des Berufslebens in der Großstadt getriebene Journalistin, ist seit einiger Zeit unzufrieden mit ihrer Gesamtsituation. In erster Linie umfasst diese die Beziehung zu ihrem Freund Makoto, ihre nicht allzu spektakulär verlaufende Karriere, die Familienplanung und die fernere Zukunft, in der sie sich an trüben Tagen allein und verlassen in einem Zimmer dahinscheiden sieht. Als Rika im Rahmen eines eigenen Rechercheprojekts in Kontakt mit der inhaftierten mutmaßlichen Mörderin Manako Kajii kommt, ändert sich ihr Blick auf viele Dinge. Die ‚Kajimana‘ genannte manipulative Psychopathin vertritt einen konsequenten Egoismus; sie steht zu ihrer Philosophie, die Genüsse des Lebens auszukosten. Nach dem Abbruch des Studiums hatte sie als „professionelle Geliebte“ von Sugar-Daddys ihren Unterhalt bestritten und sich den luxuriösen Seiten des Daseins hingegeben.

Obwohl man Kajimana kriminelle Taten zur Last legt, erscheint sie im Roman über weite Strecken als Repräsentation stolzer Weiblichkeit. Sie lehnt Diäten rigoros ab, weiß, dass es „echte Männer“ gibt, die vor weiblichen Formen nicht zurückschrecken, entsagt sich jeglichem Bodyshaming. Nach einem Besuch im Gefängnis wird Rika klar, dass ihr Plan, Chefredakteurin ihrer Zeitschrift zu werden, künftige Partner vergraulen könnte, und sie erkennt eine gewisse Wahrheit in Kajimanas Weltsicht: Es wäre wohl leichter für eine Frau, sich den Wünschen des männlichen Gegenübers anzupassen und die Rolle des süßen Püppchens zu spielen. Ein eiserner Wille verbirgt sich besser hinter der Fassade der Wohlgefälligkeit – bei entsprechendem Geschick wirkt dies sogar mit siebzig Kilo noch glaubhaft.

Während Rika die Täterin zu aufeinanderfolgenden Interviews im Gefängnis besucht, gerät sie zunehmend in den Bann der schillernden Persönlichkeit, was ihre beste Freundin Rieko kritisch sieht. Rika folgt jedoch Kajimanas Weisungen, erkundet deren soziales Umfeld in der nordjapanischen Heimat des Vaters und in einem berühmten Tôkyôter Kochstudio. Teilweise wird sie von Rieko unterstützt, die aufgrund ihrer vergeblichen Versuche, schwanger zu werden, eine Ehekrise durchmacht. Auf den Spuren der Odaliske kocht die Protagonistin, isst gute Speisen, nimmt zehn Kilo zu, stellt sich den Traumata ihrer Vergangenheit und entdeckt die eigene Stärke. Sie trennt sich von Makoto, um sich – oft nur temporär – mit Menschen zusammenzuschließen, in deren Gesellschaft sie sich ohne Verpflichtungen und Druck wohlfühlt. Diese unkomplizierten, freien Konstellationen bilden die Basis dessen, was die junge Journalistin offenbar zu lernen hat. Am Ende des Romans erwirbt sie eine Wohnung, von der sie hofft, dass sie einen offenen Begegnungsraum für – in der Ausdrucksweise Kajimanas – „authentische Menschen“ bieten möge.

Butterfetischismus und Misogynie

Kajimana unterhält einen Gourmet-Lifestyle-Blog, übt sich selbst in der Kochkunst und schätzt besonders Gerichte mit viel Butter. Ihr Butterfetischismus widerspricht gegenwärtigen Ernährungsvorstellungen von gesunder, kalorienarmer Küche ebenso wie dem japanischen Schönheitsideal, das eine schlanke Frau nicht über 50 Kilo bevorzugt. Anlässlich des ersten Interviews wird Rika, die dazu angehalten ist, mit der Angeklagten nur über das Kochen zu sprechen, belehrt, dass Feministinnen und Margarine für Kajimana unerträglich seien. Die kulinarische Instruktion, die die Journalistin (zu diesem Zeitpunkt noch mit Idealgewicht) erhält, betrifft Butterreis mit Sojasauce: „Das kriegen Sie hin, auch wenn Sie nicht kochen können.“ Beachten möge sie außerdem:

Die Butter soll frisch aus dem Kühlschrank kommen. Am köstlichsten ist sie, wenn sie noch kalt und fest ist, sodass Sie die Textur spüren und ihr Aroma schmecken können. Der heiße Reis bringt sie rasch zum Schmelzen, sehen Sie also zu, dass Sie sie in den Mund bekommen, bevor sie zergeht. Kalte Butter und heißer Reis bilden einen superben Kontrast. Dann wird beides in Ihrem Mund schmelzen und sich zu einer goldenen Woge verbinden.

Ein ebenso überraschendes wie subversives Argument, das die Autorin durch ihre Kajimana-Figur vortragen lässt, ist das der kulinarischen Emanzipation von Frauen in einer Gesellschaft, in der „Jungfräulichkeit weit höher geschätzt wurde als Reife“. Keine Diät einzuhalten bedeute „Selbstaufgabe und Selbstermächtigung“ zugleich. Kajimana ist der Meinung, es stünde ihr zu, „respektiert und verehrt, mit Liebe und Geschenken überhäuft zu werden sowie sich profaner Betätigung wie Arbeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen“. Das Streben nach Höchstgenuss unterläuft die Standards eines paternalistischen Japans, die Yuzuki mit ihrer Figur der Mörderin in Frage stellt. Kajimana gelingt die Selbstermächtigung jedoch nur durch ein von ihrer pathologischen Veranlagung begünstigtes Täuschungsmanöver – indem sie weibliche Stereotype reproduziert, bevor sie die Falle zuschnappen lässt. Ihre Version von Weiblichkeit als passiver Projektionsfläche männlicher Phantasien basiert auf einem zynischen Tauschhandel, trägt nichts zur Aussöhnung der Geschlechter oder zur gesellschaftlichen Bewusstseinsmachung legitimer Gleichberechtigungsforderungen bei. Das Sugar-Babe verachtet die in Konkurrenz mit den Männern stehenden frustrierten Geschlechtsgenossinnen, kann aber ihrerseits den angesammelten Zorn über das Machtgefälle zwischen Mann und Frau und über die japanische Gesellschaft in toto nicht beherrschen: „Deshalb seid ihr alle so scheiße!“

Yuzuki beanstandet in dem von ihr gestalteten, mit einer Bandbreite von weiblichen Figuren (Ehefrauen, alleinerziehende Mütter, Angestellte und eine Mörderin) angereicherten Szenario, dass Frauen in Japan bis heute stark benachteiligt seien. In einem überzogenen Ausmaß müssten sie überlieferten Rollenerwartungen an eine mädchenhaft-unschuldige oder mütterlich-entgegenkommende Weiblichkeit entsprechen. Im Hinblick auf gegenwärtig kaum mehr zu realisierende Stereotypen litten viele weibliche Berufstätige – bedingt durch vorprogrammiertes Versagen – unter einem permanent schlechten Gewissen.

Der Gastro-Roman als Ratgeberliteratur

Wichtig sei es für die japanische Frau nun, sich aus dem Korsett der Normen zu befreien und ein gesundes Selbstbewusstsein zu kultivieren. Dies gelänge, so die Empfehlung der Autorin, die sie im Verlauf der sechzehn Kapitel des Romans anhand ihrer Protagonistin Rika in aller Ausführlichkeit entwickelt, wenn man lerne, mit der Kontingenz des Lebens umzugehen. Man dürfe trotz schlimmer Erlebnisse in der Kindheit oder späteren Enttäuschungen nie in Bitterkeit verfallen. Aus den jeweiligen Situationen gelte es, das Beste zu machen und auch schlechten Erfahrungen etwas abzugewinnen. Die ‚Buttermomente‘ der menschlichen Existenz, für die man sorgen müsse, entfalteten stets eine „regenerierende Wirkung“, worauf eine gereifte Persönlichkeit vertraue.

Kajimana, die negative Heldin, hat zwar mit vielen Erkenntnissen nicht ganz unrecht, erweist sich aber als schlechte Referenz für die Emanzipation und als destruktive Intrigantin. Im letzten Kapitel bewältigt Rika einen empfindlichen Rückschlag hinsichtlich ihrer Reportage über die Mörderin und feiert mit neun Lieblingsmenschen eine Einweihungsparty in der neuen Wohnung. Der Kampf mit der Zubereitung eines riesigen Truthahns gelingt:

Rika nahm als Letzte ihre Gabel und aß ein Stück Fleisch. Es war rosa, und sie war erleichtert, dass es dennoch gut durchgebraten war. Es war sehr zart und ließ sich leicht kauen, was wohl auch der vielen Butter zu verdanken war. Das Aroma war herb und mild zugleich. Rika fühlte sich an einen Spaziergang durch gefallenes Laub erinnert. Klarer Fleischsaft sammelte sich in ihrem Mund. Die mit Butter und Truthahnsaft gesättigte Füllung aus Klebreis, Hackfleisch und Pinienkernen hatte eine weiche, stückige Konsistenz und schmeckte so köstlich, dass sie gar nicht aufhören konnte, davon zu essen.

Eine Frau mit Zuversicht und Tatkraft muss nicht unbedingt zur Männermörderin mutieren, um Triumphe zu feiern. Rika meistert den riesigen Geflügelbraten, findet – anders als Kajimana – eine Gemeinschaft, in der sie dieses Festmahl teilen kann. Mit ihrer Fähigkeit zum Teilen hat sie die für das Lebensglück nötige Reifung vollzogen, lautet der abschließende Befund des Romans. Der Text führt die bibliotherapeutische Linie der erfolgreichen Ratgeberliteratur (ikikata no hon) weiter, die die für die Psyche heilende Wirkung (Stichwort iyashi) des Kollektivs anpreist, angereichert um Einblicke in die Berufswelt der Zeitschriftenverlage respektive die Schwierigkeit einer weiblichen Karriere in der Medienwelt.

Gesunde Gefühlsbeziehungen, korrekte Haltungen

Typisch für die zeitgenössische japanische Literatur der letzten Jahre ist es, dass sie sich dem Format der populären Ratgeber annähert, um als Ratgeberliteratur in Gestalt literarischer Fiktion dem Lesepublikum Hinweise auf korrektes Verhalten gegenüber den Mitmenschen zu offerieren. Texte vermitteln häufig einen Appell zur Überwindung unreifer Einstellungen. Sie mahnen Haltungskorrekturen an und bestätigen zugleich ein bestimmtes Menschenbild. Die Botschaft beinhaltet eine bindungspsychologische Ermutigung zum Aufbau sozialer Interdependenz – vor dem Hintergrund zunehmender psychosozialer Problematiken im Land. Eine Kultivierung des Traumas sowie der Hang zur narzisstischen Selbstbezogenheit und der soziale Rückzug sollen aufgegeben, multilaterale, für eine kollektivistische Gesellschaft ‚gesunde‘ Beziehungen etabliert werden.

Positiv bewertet wird in Butter wie so oft das sittlich-bürgerliche Gefühlsmodell mit seinen Konstanten Arbeitseifer, Verpflichtung, Respekt. Dieses können Leserin und Leser mit einem aristokratisch-frivolen Modell, verkörpert durch Kajimana und ihre Bewunderung der Salonkultur der Madame Pompadour, abgleichen. Dem Genuss, den das Buch als Lebenselixier betont, darf auch der bemühte Bürger frönen, nur eben im rechten Rahmen. Weder freudlose Überarbeitung sei zu empfehlen noch die ausschweifende Genusssucht. Rikas Reifung vollzieht sich bezeichnenderweise in der Wohnung des von ihr geschätzten älteren Freundes Shinoi. Der geschiedene Mann und Vater einer Tochter erscheint in einigen Szenen sogar als der richtige, in sich ruhende Partner für Rika. Außerdem zeigt er sich ungerührt von ihrer Gewichtszunahme. Shinois Wohnung ermöglicht der Protagonistin und ihren Freunden zum ersten Mal einen sozialen Freiraum, eine Erfahrung, die für Rika prägend ist und die sie weitergeben will.

Butter basiert auf einer originellen Motivik, aber Asako Yuzuki enttäuscht als neue Autorin auf dem deutschsprachigen Markt. Manche Passage ist ein wenig zu redundant, mancher Exkurs etwas zu weitschweifig. Der Beitrag echot bekannte Muster der japanischen Unterhaltungsliteratur: Es geht um gesellschaftliche Normen, Ausgrenzung und eine gelungene Integration in das Kollektiv. Einzig als Gourmetroman überzeugt Butter sofort. Wer den Text liest, merkt warum.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Asako Yuzuki: Butter. Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
442 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783351050986

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