Hilfe, ein Geist!

In dem Sammelband „Gespenstischer Realismus“ tauchen wir ein in das Denken, Schreiben und Sprechen der Schriftstellerin Kathrin Röggla

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geister, Zombies und Monster gehören in die Welt der Fantasie – nicht für Kathrin Röggla: Denn in ihren Romanen, Dramen oder Essays findet man Menschen, die keine Menschen zu sein scheinen: ohne Konturen oder Charakter. Um diesem „gespenstischen Realismus“ nachzuspüren, haben die beiden Literaturwissenschaftlerinnen Uta Degner und Christa Gürtler nun unter dem Titel Gespenstischer Realismus im Sonderzahl-Verlag ein besonderes Buch herausgegeben.

Der Band ist das Ergebnis einer Tagung der beiden Salzburger Universitäten Mozarteum und Paris-Lodron-Universität aus dem Jahr 2019. Und der Titel? Der bezieht sich auf einen Artikel der deutschen Literaturwissenschaftlerin Julia Schöll. Ihr Text Dead or alive aus dem Jahr 2019 wollte mit diesem Begriff das Politische in Rögglas Ästhetik und Schreiben benennen – es ist gelungen.

Wer hat Angst vor Geistern?

Ein Interview, wissenschaftliche Artikel, Essays und Romanausschnitte – der Band hält, was sein Untertitel verspricht: „Texte von und zu Kathrin Röggla“. Den Anfang macht ein Auszug aus dem unveröffentlichten Roman mit dem Arbeitstitel Revision. Ob es auch hier um Monster geht? Ja. Aber auch um den Umgang mit ihnen. Der Text dreht sich um die NSU-Prozesse und zeigt, dass Röggla ganz nah an den Tiefen der Realität dran ist. In diesem Fall findet man sich im Gerichtssaal wieder und lauscht nicht nur den Juristinnen und Richtern, sondern auch geisterhaften Stimmen aus dem Off – die kommentieren, flüstern, beurteilen und verurteilen.

Eine Art biographisch unterstützte Interpretation des Romanausschnitts erlaubt das von Bettina Hering mit Kathrin Röggla geführte Gespräch Im Gericht ist Sprache Handlung. Auf die Frage, ob ein Gerichtssaal ein Abbild des politischen und historischen Diskurses sei, antwortet Röggla:

Im Gericht ist Sprache Handlung. Da geschieht immer was, deswegen ist der NSU-Prozess so faszinierend, weil es einen so langen Stillstand gab, oder zumindest das Gefühl der Stagnation.

Ihre Faszination für Stillstand ist das Eine, Rögglas Schreiben das Andere. Das Gegenteil: Ein Wort rast nach dem anderen. Es ist ein Sprechfluss – der alle Inhalte mitreißt. Was übrig bleibt? Die Strukturen der Sprache.    

Von Strukturen erzählen

Auf die Form der Sprache konzentriert sich der wissenschaftliche Beitrag Die ,Dringlichkeit der Form‘ von Karin Krauthausen. Der Artikel widmet sich der Erzählung die ansprechbare und dem Konjunktiv, „der die strukturalen Möglichkeiten der freien indirekten Rede verschärft, indem er den (indikativischen und für die Einordnung notwendigen) Rahmen ins Off verbannt […].“ Die Folge? Ungewissheit, Spannung – aber auch Offenheit. Der Text die ansprechbare ist als zweite Erzählung des Bands die alarmbereiten (2010) erschienen. Durch indirekte Rede und Konjunktiv gebrochen, dreht sich hier alles um ein Telefongespräch zwischen zwei Freundinnen. Thema? Die Angst vor der Klimakatastrophe und dem Weltuntergang. Für Krauthausen drückt sich in der Erzählung Rögglas Poetologie aus.

Sie sieht darin aber nichts Geisterhaftes. Der Schwerpunkt sind Strukturen und Formen. Rögglas Schreiben stehe unter der Losung eines strukturalen Realismus. Doch was soll das bedeuten? Zugespitzt: Im Geiste des französischen Semiotikers Roland Barthes und des Schriftstellers Hubert Fichte starren Rögglas Texte auf die Strukturen der Wirklichkeit. Der Inhalt ist sekundär – im Fokus liegt die Sprachform und das Sprechen.

Und so arbeitet Krauthausen nicht nur die Funktion des Konjunktivs, sondern auch dessen Auswirkungen auf die Sprachstrukturen heraus. Denn die Erzählung verzichtet auf das typische Beiwerk des Konjunktivs: ein einrahmender Indikativ oder verba dicendi et sentiendi (etwa sie sagte). Dieser Umstand, so Krauthausen, sei ein Charakteristikum von Rögglas Schreiben:

Erzählen wird durch Rögglas elliptisches Verfahren in Sprechen überführt, aber Sprechen auch gleichermaßen in Erzählen, und dies, ohne dass eine Figur mit ihrer Rede und ein Erzähler mit dem Erzählten zu identifizieren wäre […].

Geisterjagd

Alle Facetten in Rögglas Schreiben treten ins Scheinwerferlicht: Literatur, Dokumentation und Realität. Außerdem deckt das Buch etwas auf: Häufig wird Kathrin Röggla als Sprachkritikerin bezeichnet. Doch stimmt das überhaupt? Kritisiert ihr Schreiben die Sprache? Nein!

Seien es Erzählungen, Essays, Romane oder Dramen – ihr Schreiben will das Erzählen und Register, Fäden und Fragmente des Sprechens dingfest machen. Die Stimmen des Buchs Gespenstischer Realismus machen klar: Röggla schreibt nicht gespenstisch. Sie jagt Geister unseres Erzählens. 

Titelbild

Christa Gürtler / Uta Degner (Hg.): Gespenstischer Realismus. Texte von und zu Kathrin Röggla.
Sonderzahl Verlag, Wien 2021.
280 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783854495925

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