Eisenbahnglück

Jaroslav Rudiš erzählt in der „Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren“ vom entspannten Unterwegssein

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Kinder entdecken bis heute mit der Modelleisenbahn eine Liebe fürs Leben. Für majestätischen Lärm sorgt eine Dampflok, für die Dynamik der Gegenwart steht der Intercityexpress. Beide Züge verkehrten in den Wohnzimmern unserer Kindheit. Fast jeder erinnert sich an die erste Fahrt mit der Eisenbahn. Ja, die Bahn – ungeachtet aller „Verzögerungen im Betriebsablauf“ und „Verspätungen aus vorhergehender Fahrt“ – begegnet uns heute nicht nur als umweltfreundliches Verkehrsmittel, sondern auch als ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene, als Paradies für Nostalgiker und als einzig wahrer Geheimklub für eingeweihte Eisenbahnfreundinnen und -freunde. Vorwiegend Männer scheinen, so zeigt Jaroslav Rudiš in seinem munter erzählten, humorvollen Buch, ihr Herz ans Zugfahren auf unerklärliche, wunderbare Weise verloren zu haben. Aus eigener Anschauung weiß ich: Auch viele Frauen, oft nüchterner gestimmt, vernünftiger, weniger schwärmerisch entrückt, fahren liebend gern Zug.   

Rudiš gehört zu jenen Menschen, die von Kindheit an von Eisenbahnen fasziniert waren, familiär bedingt, zugleich staunend und offen für die vielfarbige Schienenwelt, begeistert von rauschenden wie ratternden Lokomotiven und deren rätselhafter Schönheit. Passionen wie diese bleiben unerklärlich und sind doch sehr menschlich. 

Der Autor, gebürtiger Tscheche, konnte aufgrund seiner Sehschwäche nicht Lokführer werden:

Diese verdammte Brille, die ich tragen muss. Doch es geht nicht anders. Ohne Brille verschwindet die Welt um mich herum in dichtem Nebel. Alles bleibt verschwommen und geheimnisvoll zurück. Die Stadt wird zum Wald. Die Menschen auf der Straße zu Tieren. Eigentlich ist es manchmal ganz angenehm, so die Realität verschwinden zu lassen, etwas Unerwartetes zu erleben und sich in diesem Nebel ein wenig zu verstecken, doch das habe ich erst viel später gelernt.

Doch wer die „Signale in der Ferne“ nicht richtig deuten kann und die „roten Schlusslichter eines Schnellzuges womöglich mit den Sternen am Himmel verwechselt“, der taugt nicht zum Lokführer. Gleichwohl bleibt ihm die Liebe zur Bahn nicht verwehrt. Als Junge habe sich Rudiš, der verhinderte Eisenbahner, deswegen wie eine „ausrangierte Lokomotive auf dem Eisenbahnfriedhof“ gefühlt. Später bezieht er eine „Wohnung mit Bahnblick“, in einem Stellwerk. Nur zwischen ein und vier Uhr nachts sei es „gespenstisch still“ gewesen. Er beschäftigt sich mit Eisenbahnkarten, denkt an die „alten Strecken“ in Europa, die besonders in Österreich-Ungarn zu Stätten der Kunst und Kultur führten, und „einfach mitten durch mein Herz gingen“. Die Reise mit der Bahn, ob im Nachtzug von Rom nach Palermo oder mit der Transsibirischen Eisenbahn, könne wie „eine Form der Meditation“ sein. 

Rudiš lernt die „Musik der Eisenbahn“ kennen – und wer diese Zeilen liest, mag erwägen, ob das Knattern und Rattern von Zügen nicht bloß laut, ja lärmend sein kann. Der Liebhaber aber sieht, hört und erlebt dies anders. Ein Eisenbahnfreund, der in einem Kursbuch blättert, sei, so der Autor, auf seine eigene Weise auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“: 

Und doch gibt es noch viele Strecken, wo die Zeit stehen geblieben ist. Wo sich nicht viel verändert hat. Wo die Züge genauso langsam fahren wie vor zwanzig, vierzig oder hundert Jahren. Oder genauso schnell. Das hängt immer von der Perspektive ab. […] Es beruhigt, in den Kursbüchern zu lesen, denn in den Fahrplänen sind keine Fehler. Und bei der Eisenbahn bleibt alles gleich, egal, was in der Welt gerade passiert. Das perfekt ausgebaute und funktionierende System gibt einigen von uns Eisenbahnmenschen gewisse Sicherheit in einer Welt, die alles andere als sicher ist. Hier herrscht kein Nebel, hier sieht man alles ganz klar.

Doch Rudiš ist sich freilich bewusst, dass er schwärmt und träumt, denn diese Gewissheit der „ungetrübten Ruhe“ sei „trügerisch“. Auch die Züge, die zu den Konzentrationslagern fuhren, hatten einen Fahrplan, den sie einhielten. Der Autor kennt auch die düsteren Etappen der Geschichte der Eisenbahn genau.

In Skandinavien reisen Bahnfahrende durch die „verschneite Leere der finnischen Landschaft“, durch eine „endlose Hoffnungslosigkeit“? Oder entsteht im Gemüt die Ahnung einer unendlichen Schönheit? Rudiš beschreibt, er deutet nicht: „Es ist schon dunkel, doch der Himmel ist klar, und der Schnee reflektiert das Licht des Mondes. Wir sehen einzelne Dörfer und Bauernhöfe, Straßenübergänge, Seen und Wald, viel Wald.“ 

Vielleicht erinnern sich Leserinnen und Leser, die viel mit der Bahn unterwegs sind, an Fragen wie: „Liest du eigentlich im Zug?“ Nicht wenige schauen einfach nur hinaus, lassen die Landschaft an sich vorüberziehen und lauschen den Fahrtgeräuschen, erblicken Schafe, Rinder und Pferde vom Zug aus. Der Blick schweift hinaus auf weite Felder und manchmal darüber hinaus. Charmant erzählt der Autor von Begegnungen mit Schaffnern und Zugbegleiterinnen, die stoisch wirken, auf eine einsilbige Art aber manchmal unerwartet plauderfreudig sein können. Man mag dabei an die eigenen Erfahrungen denken, die jede und jeder für sich unterwegs auf den Schienen, die die Eisenbahnwelt bedeuten, gesammelt hat. Eine Episode zeigt anschaulich den Lübecker Hauptbahnhof: 

Umsteigen nach Kiel. Schnell die Holztreppe hoch und wieder runter. Die Tür schließt sich, und wir fahren gleich los. Man sagt, Lübeck ist die Stadt der sieben Türme. Wir sagen, Lübeck ist die Stadt der Holztreppen auf den Bahnsteigen, die an ein nobles altes Warenhaus erinnern. Das kennen wir nur aus Lübeck.

Die Welt der Bahn berge Geheimnisse, schreibt er, so wie Menschen, und fast überall gebe es etwas Unerwartetes zu entdecken. Für die Liebe zur Eisenbahn und zum Zugfahren findet Rudiš Worte: „Mich beruhigen die Züge und das Zugreisen. Das Sitzen auf einem Bahnhof. Das Warten auf den Anschluss. Ich mag das langsame Reisen. Das planlose Reisen. Das Reisen ohne Ziel.“ Wer hierüber nachsinnt, mag ins Grübeln geraten. Steht das Fahren mit der Eisenbahn für eine Lebensweise, mehr noch: für eine Lebensphilosophie? Der Autor ist in der Eisenbahn ganz bei sich selbst, das Fahren strengt nicht an – und er verfügt auch über die nötige Gelassenheit, auf den Anschlusszug zu warten, heiter und dankbar. Dieses Buch ist reich an hintersinnigem Eisenbahngeplauder, verbindet literarische Momente mit Impressionen vom Unterwegssein. Wer gern mit der Bahn fährt – und trotz aller Klagen über die Pünktlichkeit der Züge soll es Menschen geben, die das tun –, fühlt sich in Rudiš‘ lesenswertem, unterhaltsamem und unaufgeregtem Buch wie zu Hause. Leserinnen und Leser, die – auch in allen Zügen dieser Welt – ein gutes, wahrhaft eisenbahngerechtes und menschenfreundliches Buch zur Hand nehmen möchten, sei diese Gebrauchsanweisung ans Herz gelegt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jaroslav Rudis: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen.
Piper Verlag, München 2021.
251 Seiten, 15 EUR.
ISBN-13: 9783492277495

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