Als die Philosophie modern wurde
David Edmonds beschreibt in „Die Ermordung des Professor Schlick“ den Aufstieg und Fall des Neopositivismus im Wien der Zwischenkriegszeit und erzählt zugleich das Drama des 20. Jahrhunderts
Von Nora Eckert
Am Schluss des Buches finden wir die Akteur*innen aufgelistet von A wie Alfred Ayer bis Z wie Edgar Zilsel. Hinter jedem Namen stehen ein paar knappe biografische Bemerkungen, wie es bei Rollenverzeichnissen nicht unüblich ist. Und als liefere der Autor tatsächlich den Besetzungszettel zu einem Theaterstück, ist die Liste korrekt überschrieben mit Dramatis Personae. Was David Edmonds zuvor auf gut dreihundert Seiten verhandelt, spielt gewissermaßen im philosophischen Theater des 20. Jahrhunderts, in das die politische Realität krachend einbricht, um die Vorstellung abrupt zu beenden.
Mit dem Elan und dem Überlegenheitsgefühl alles Neuen konnte der erste Auftritt im Jahre 1923 nur optimistisch sein. Der Anspruch war klar – ein Platz in der Gelehrtenrepublik mit einer grundmodernisierten Philosophie als Eintrittskarte. Dreizehn Jahre später, der Platz in der Gelehrtenrepublik war längst erobert, geschieht ein Mord und die Handlung kippt. Dabei hatte sich das Drama schon längst im Hintergrund wie ein fernes Donnergrollen eines herannahenden Gewitters angekündigt. Nur schien eben Politik bei den Diskussionen um Logik keine Rolle zu spielen. Dieses Gewitter, das in Wahrheit als Zivilisationsbruch zur Tragödie des Jahrhunderts wird, nennt Edwards im Untertitel seines Buches die dunklen Jahre der Philosophie. Das klingt harmlos im Vergleich zur unfassbar mörderischen Realität jener Jahre. Aber die Beteiligten in dem genannten Stück hatten ja alle mehr oder weniger Glück und entkamen rechtzeitig dem Schauplatz der Tragödie – für sie blieben es in der Tat „nur“ dunkle Jahre.
Der Ort der Handlung: Wien, das nach dem verlorenen Krieg 1918 in die politische Bedeutungslosigkeit versank. Die Metropole eines Vielvölkerstaates war zum Mittelpunkt einer kleinen Alpenrepublik deklassiert worden, und der Glanz der vormaligen k. u. k. Donaumonarchie war ein für alle Mal dahin. Umso überraschender, welche Energien in diesem urbanen Raum offenbar gespeichert waren und mit welcher Dynamik die Stadt zu einem Zentrum der Moderne avancierte:
Als Geburtsstätte der Moderne war sie die Heimat des Psychoanalytikers Sigmund Freud und des Komponisten Arnold Schönberg, des Publizisten Karl Kraus und des Architekten Adolf Loos, des Schriftstellers Robert Musil und des Dramatikers Arthur Schnitzler.
Was als Wiener Kreis in die Philosophiegeschichte einging, war eine Gruppe von Intellektuellen, die sich der Mathematik, der Logik und der Philosophie verschrieben hatten, geeint durch eine ausgeprägte Abneigung gegen jegliche Metaphysik. Selbstredend war es eine männerdominierte Gruppe, in der drei Frauen trotz ihrer wissenschaftlichen Ausbildung lediglich eine Rolle in der zweiten Reihe als Ehefrauen oder wie die Mathematikerin Rose Rand als Protokollführerin bei den Kreistreffen spielten. Klar, Modernität war offenkundig Männersache. Ihre Überzeugungen firmierten unter dem Label logischer Positivismus beziehungsweise logischer Empirismus.
In den frühen 1930er Jahren galt sie als „die ambitionierteste und modernste philosophische Strömung“. Ernst Bloch sah das in „Erbschaft dieser Zeit“ von 1935 kritischer: „Das reine Denken ist ihnen leer, das übrige Innen bloß gefühlig, und was es ‚erkennend‘ hinzugibt, gedichtet.“ Zulässig erschienen ihnen lediglich zwei Denkarten: Das war zum einen die Logik im mathematischen Sinn eines Bertrand Russell und die einzelwissenschaftliche empirische Forschung. Die Naturwissenschaften hatten schon im vorhergehenden Jahrhundert ihren großen Auftritt geprobt. Und gegen Ideologien, welcher Couleur auch immer, schienen sie die verlässlicheren Partner zu sein. Wie uns die Kritische Theorie später mit der Dialektik der Aufklärung wissen ließ, sind die Wissenschaften jedoch weder mythen- noch ideologiefrei.
Ideengeschichtlich kam der Wiener Kreis keineswegs aus dem Nichts. Der ältere Positivismus eines Auguste Comte stand neben John Stuart Mill oder David Hume ebenso Pate wie der Physiker Ernst Mach, der als eine Art Idol rangierte und dem man schließlich in Wien vereinsmäßig huldigte. Ohne ihn, so Edmonds, hätte es den Kreis nicht gegeben. Der Physiker Mach wollte allerdings nie als Philosoph gelten. Im Zentrum seiner Untersuchungen stand die Frage, wie wir erkennen, um zu dem Schluss zu gelangen, wir tun es auf perspektivische Weise, die einen „Gegensatz zwischen Welt und Ich, Ding und Empfindung, Physik und Psychologie“ ausschließe. So steht es in Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Auch er, der Ur-Wiener, eine Koryphäe jener Zeit, an die man gelegentlich erinnern sollte und vor allem an seinen unnachahmlichen Blick von oft epigrammatischer Dichte für alles Physiognomische, um Persönlichkeiten, Kunst- und Denkströmungen und ganze Epochen mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen.
Was Ernst Mach dem Wiener Kreis vererbte, war also keine Philosophie, sondern eine naturwissenschaftliche Methodologie und Erkenntnispsychologie mit dem Credo: „Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen.“ Aber da wusste Mach vielleicht noch nichts von Einsteins Relativitätstheorie, die annähernd hundert Jahre darauf warten musste, bis der letzte ihrer Bausteine empirisch nachgewiesen werden konnte. Das nur am Rande über die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit.
Die zentrale Figur im Wiener Kreis war Moritz Schlick, ein gebürtiger Berliner aus wohlhabenden Verhältnissen, der 1922 in Wien den Lehrstuhl für Naturphilosophie übernahm. Physik war seine erklärte Leidenschaft. „Jede Vorlesung war ein Kunstwerk“, erinnerte sich später Karl Popper. Er galt als „der perfekteste Leiter des Kreises“ bei allen Meinungsverschiedenheiten, die sich im Laufe der Zeit unter den Mitgliedern auftaten. Nicht selten spielten auch persönliche Ressentiments mit hinein, wie Edmonds uns mit informiertem und amüsiertem Kennerblick wissen lässt.
Schlick war es, der dann im Sommer 1936 auf dem Weg in die Wiener Universität erschossen wurde. Der Täter, Johann Nelböck, war Akademiker und ein entschiedener Kritiker des Positivismus. Was immer ihn zu der Tat angetrieben haben mochte, so könne sie Edmonds zufolge „nur im politischen Kontext verstanden werden. Denn ungeachtet aller anderen Aspekte reagierten die österreichischen Zeitungen auf höchst politische Weise.“ In einer Zeitung wurde gar noch behauptet, erst Schlicks Philosophie habe Nelböck zum Psychopathen gemacht, gerade weil sie antireligiös und antimetaphysisch sei. Die politische Rechte begegnete dem Wiener Kreis und seinem Denken von Anfang an mit Feindschaft. „Es gab einen Grund für diese Feindseligkeit“, meint Edmonds, „denn wenn der logische Empirismus auch nichts grundlegend Sozialistisches an sich hatte, so war ihm doch etwas Antifaschistisches und Antinazistisches eigen.“
Auch wenn sich der Wiener Kreis strikt antimetaphysisch gab, so leistete man sich immerhin Halbgötter: Da war zum einen die grenzenlose Verehrung für Albert Einstein, der so populär war, dass seine öffentlichen Vorträge mühelos 3000 Zuhörer*innen anzogen. Ein anderes Idol war der schon erwähnte Bertrand Russell und schließlich gab es noch Ludwig Wittgenstein, der mit seinen Überlegungen zu logischen Wahrheiten als Tautologien bei den Kreis-Mitgliedern offene Türen einrannte. Wittgenstein blieb im menschlichen Umgang schwierig und unzugänglich. Über seine Ankunft in Cambridge 1929 schrieb John Maynard Keynes an seine Frau: „Gott ist angekommen. Ich traf ihn im 5:15 Uhr-Zug.“ An Selbstbewusstsein und auch Selbstherrlichkeit hatte es bei Wittgenstein wohl keinen Mangel, was auch manches Kreis-Mitglied zu spüren bekam – insbesondere Friedrich Waismann, der Wittgenstein dennoch treu ergeben und ein profunder Kenner dessen Philosophie war, was übrigens in Logik, Sprache, Philosophie beeindruckend nachzulesen ist.
Edmond besitzt nicht nur einen Sinn für das große philosophische Theater, sondern vor allem auch für die Bühne des Menschlich-Allzumenschlichen, für den philosophischen Alltag sozusagen, der von banalen Existenzfragen handelt wie von Eitelkeiten. Der Autor ist dafür über so manche philosophische Hintertreppe gegangen, um uns Leser*innen von dem Kleinlichkeitskrieg, den persönlichen Animositäten, Kränkungen und Schmähungen innerhalb des Wiener Kreises ein Bild zu vermitteln. Er tut dies mit erkennbarer spöttischer Lust. Dabei verliert er nie den Blick für das große Ganze, für den zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Die biografischen Linien verfolgt er noch bis ins Exil, das für die meisten zur neuen Heimat wird, um festzustellen, der logische Empirismus habe es gerade mal bis in die Nachkriegszeit geschafft. Er verschwand unbemerkt in der analytischen Philosophie – „allem angemessenen Verständnis der analytischen Philosophie nach ist der Kreis Teil ihrer DNS“.
![]() | ||
|
||
![]() |